Siebenunddreißigstes Kapitel

SIEBENUNDDREISSIGSTES KAPITEL

Mit einem missbilligenden Schnalzen lässt sich Ilvi in den Stuhl fallen. »Vor dem Pubi ist mir ein Typ entgegengekommen, der ziemlich miesepetrig aussah«, berichtet sie. »Er hat mich beinahe umgerannt, so eilig ist er aus der Tür gestürmt. Ungehobelter Klotz, hat sich nicht einmal entschuldigt. Ich habe ihm hinterhergerufen, er soll gefälligst die Augen aufmachen, doch er ist – kauend wie ein Kamel – in seinen Toyota gestiegen und davongebraust, ohne mich zu beachten. Was für ein Flegel! Hätte ich irgendetwas in der Hand gehalten, egal was, ich hätte es ihm hinterhergeworfen.«

»Das wird Aalto gewesen sein«, sagt Sarah und stöhnt innerlich auf. Eine Auseinandersetzung zwischen dem Polizisten und Ilvi hätte ihr gerade noch gefehlt. Glücklicherweise war Ilvi bei dem Zusammentreffen nicht mit einem Bierglas bewaffnet.

Ilvi nippt an der Cola, die sie sich vom Tresen mitgebracht hat. »Der Kommissar, meinst du? Trägt er so eine gescheitelte Spießerfrisur? Der Kerl kam mir irgendwoher bekannt vor, aber an diesen Toivo Aalto habe ich nicht gedacht.«

Sarah nickt. »Er hat dich an Mika Häkkinen erinnert, möchte ich meinen. Sie gleichen sich wie Zwillinge.«

»Findest du?« Skeptisch legt Ilvi die Stirn in Falten, dann zuckt sie mit den Schultern. »Nein, daran habe ich nicht gedacht. Seid ihr hier aufeinandergestoßen, Aalto und du?«

»Aufeinandergestoßen?« Gequält lacht Sarah auf. »Das war ein neues trauriges Kapitel aus Aaltos Almanach der Verhörmethoden. Der Mann lässt nicht locker. Unermüdlich arbeitet er daran, mir auf abstruse Weise ein Geständnis für den Mord an diesem Saarinen zu entlocken.«

»Er hat sich da ganz offensichtlich in eine wirre Idee verrannt«, mutmaßt Ilvi. »Hineinverbissen wie ein Terrier. Und nun muss er sich selbst beweisen, dass er richtigliegt. Daher lässt er nicht locker. Er will ein Ergebnis hervorzwingen, das haargenau zu seiner Überzeugung passt, dass Sarah Fuchs Matti Saarinen umgebracht hat. Punkt.«

»Genau so fühlt es sich an. An dir ist eine Psychologin verloren gegangen, Ilvi.« Sarah verzieht gequält scherzhaft das Gesicht.

Nüchtern winkt Ilvi ab. »Ich habe zwei Semester Psychologie studiert, das Studium aber abgebrochen. Es war mir viel zu langweilig. Alles so vorhersehbar.« Sie schlürft an ihrem Getränk und quittiert Sarahs ungläubigen Blick mit einem knappen Nicken. »Wir werden diesem Aalto ordentlich einheizen, indem wir ihm klarmachen, dass er völlig falschliegt. Wenn wir ihm den wahren Täter präsentieren, wird er dämlich aus der Wäsche gucken.« Sie kichert in sich hinein.

»Hoffentlich hast du recht. Konntest du denn etwas herausfinden? Was haben die Leute auf dem Jahrmarkt über Matti Saarinen erzählt?«

Ilvi rückt sich auf dem Stuhl zurecht. »Ich habe Saarinens Tod gar nicht ansprechen müssen. Egal, wo ich mich dazugesellt habe, war er immer schon das vorherrschende Gesprächsthema. Die Gerüchte schießen wie Pilze aus dem Boden, scheint mir. Jeder meint, etwas beitragen zu müssen. Einmal heißt es, Matti sei in einen Bandenkrieg um Drogengeschäfte verwickelt gewesen, dann wieder, er habe mit irgendjemandem im Ort eine Rechnung offen gehabt. Und dann bist da natürlich du, Sarah. Die meisten Leute meinen, du hättest etwas mit dem Tod zu tun.« Entschuldigend hebt Ilvi die Hände. »Die Geschichte, von der Leevi bereits berichtet hat.«

»Ich habe den Mann, den ich für eine Aufenthaltsgenehmigung ehelichen wollte, also im Streit wegen Geld umgebracht?« Mit geschürzten Lippen tippt Sarah sich mit dem Finger gegen ihre Stirn. »Eine abenteuerliche Fantasiegeschichte. Sie könnte von Aalto kommen, so hanebüchen ist sie. Etwas Bahnbrechendes haben wir aber nicht herausgefunden.«

»Das stimmt«, pflichtet Ilvi bei. »Es ist die übliche Gerüchteküche, in der mal mit Butter und mal mit Margarine gekocht wird. Am Ende kommt aber derselbe Brei dabei heraus.« Sie macht eine theatralische Pause. »Zu den wirklich interessanten Punkten komme ich jedoch erst noch.« Verschwörerisch zwinkert sie Sarah zu.

»Ich bin sehr gespannt«, entgegnet Sarah sarkastisch. Nach einem kurzen Zögern zieht sie das Glas, das der Kommissar ihr mitgebracht hat, zu sich heran und trinkt den Wodka in einem Zug aus. Während der Alkohol brennend ihren Rachen hinabläuft, schüttelt sie sich. »Schieß los!«, sagt sie hustend.

Geschäftig beugt Ilvi sich in ihrem Stuhl vor. »Glücklicherweise bin ich eben noch mal Leevi begegnet. Dem Jungen vom Campingplatz. Er hat mich seinem Chef, Teemu, vorgestellt. Teemu gehört der Campingplatz, er kennt sich in Sysmä bestens aus. Und da er schon ein paar Bier und wohl auch anderes Zeugs intus hatte, war er äußerst redselig.« Ilvi grinst wie eine Raubkatze. »Vielleicht hat auch geholfen, dass er voll auf meine Tattoos abgefahren ist und das eine oder andere davon genauer anschauen durfte.« Sie klimpert mit den Wimpern.

»Ilvi!«, ruft Sarah in gespieltem Entsetzen aus. »Du hast Teemu mit deiner Körperkunst um den Verstand gebracht?«

Grinsend reckt und streckt Ilvi sich im Stuhl. »Es gibt da ein sehr passendes finnisches Sprichwort: Das Auge nimmt nichts weg. Teemu hat einfach Glück gehabt, dass er nett gefragt hat, welches meine Lieblingstattoos sind. Da habe ich sie ihm halt gezeigt.«

»Und was hat er dir im Gegenzug für ihren Anblick berichtet?«

»Erst mal das Übliche.« Selbstbewusst wirft Ilvi sich in eine aufrechte Pose. »Saarinen war im Ort ziemlich unbeliebt, alle vermuten, dass er in krumme Dinger verwickelt war. Er stammt aus dem Ort, wohnte seit etwa zwanzig Jahren in dem Häuschen am See, niemand hat ihn während der gesamten Zeit einer geregelten Tätigkeit nachgehen sehen. Sein Spitzname lautete ›das Walross‹, da er ziemlich korpulent gewesen sein soll.«

Sarah nickt mit Nachdruck, während das Bild der im Wasser treibenden Leiche in ihr aufsteigt.

»Er war immer sehr für sich, ist nur selten in den Ort gekommen. Manchmal ist er aber für ein paar Tage nach Helsinki verschwunden. Teemu nahm immer an, Matti gehe da in den Puff und drehe krumme Dinger. Doch er hat ihn nie darauf angesprochen, obwohl die beiden gelegentlich miteinander zu tun hatten.«

»Was genau hatten sie denn miteinander zu tun?« Gespannt beugt Sarah sich vor.

»Ihre Verbindung war wenig spektakulär. Teemu, der sich höchstselbst um die bauliche Instandhaltung seines Campingplatzes kümmert, ist im Ort auch als Handwerker tätig. Er macht alle möglichen Holzarbeiten, bessert Dächer aus, so was. Matti hat ihn in den vergangenen Jahren ein paar Mal etwas an seinem Haus reparieren lassen. Einen Sturmschaden. Kleinere Sachen.«

»Ja, allzu umfangreich können die Arbeiten nicht gewesen sein«, murmelt Sarah und denkt an das vernachlässigt wirkende mökki.

»Jedenfalls, so erzählt Teemu, ist Matti am Morgen seines Todes plötzlich auf dem Campingplatz aufgetaucht.«

Aufmerksam spitzt Sarah die Ohren.

»Er ist da rumgeschlichen, bis Teemu ihn angesprochen hat.«

»Rumgeschlichen?« Sarah runzelt die Stirn.

Ilvi zuckt mit den Schultern. »Teemu gegenüber hat Matti behauptet, er habe ihn, Teemu, gesucht, da er über einen anstehenden neuen Auftrag sprechen wolle. Matti habe Pläne für eine neue Sauna am Seeufer gehabt.«

»Eine neue Sauna?«, wiederholt Sarah nachdenklich. »Ich habe das jetzige Saunahaus gesehen, da der Kommissar mich zum Ufer geschleift hat. Nötig gewesen wäre eine Instandsetzung sicherlich. Es roch in der Hütte äußerst muffig.«

»Instandsetzung? Matti wollte das Ding komplett abreißen und eine prächtige Luxussauna hochziehen lassen.«

Sarah stößt einen Pfiff aus. »Das hätte dann eine Stange gekostet, denke ich.«

»Teemu sagt, so wie Matti ihm sein Projekt beschrieben hat, wären da sicherlich fünfzigtausend Euro für draufgegangen. Matti habe ausschließlich in bar zahlen wollen.« Ilvi zieht mit dem Zeigefinger ein Unterlid hinab. »Klingt ganz unverdächtig.«

»Ja, klingt nach Geldwäsche, würde ich denken. Für einen kleinen Gauner ist so eine Summe doch beachtlich, oder?«

»Zumal Matti gegenüber Teemu noch andeutete, ebenfalls das Wohnhaus kostspielig aufmöbeln lassen zu wollen. Die Frage, die sich stellt, ist also, wie klein oder vielmehr groß Mattis Gaunereien waren.« Nachdenklich starrt Ilvi an die Zimmerdecke. »Für mich klingt das nach einem lukrativen Coup, den der Mann gelandet hat. Und für den er sich mit diesen Umbauten belohnen wollte.«

»Heißt das nun, es geht bei diesem Mord um Habgier? Hat es jemand auf Mattis Geld abgesehen und ihn deshalb umgebracht?«

»Das ist möglich. Jedenfalls sind es immer wieder finanzielle Differenzen, die die Leute mit Matti hatten. Behauptet jedenfalls Teemu«, erklärt Ilvi. »Ich habe ihn gefragt, wer im Ort die größten Probleme mit Matti Saarinen hatte. Ganz gleich, aus welchem Grund. Und er hat mir mehrere Namen genannt. Vier, um genau zu sein. Wie aus der Pistole geschossen kamen sie.«

»Vier Namen?« Aufgeregt rutscht Sarah auf ihrem Stuhl hin und her.

Ilvi hebt einen Finger. »Da ist zum einen Rauno Halla, ein angesehener Pferdezüchter. Teemu hat noch neulich in der Gaststätte mit Rauno über einem Bier zusammengesessen und sich dessen wüste Beschimpfungen gegen Matti angehört. Es ging Rauno dabei wohl um ein vermasseltes Geschäft.« Bedeutungsvoll nickt Ilvi, dann hebt sie den zweiten Finger. »Ähnlich sieht es bei Veetie aus, dem Ehemann von dieser Hilla. Ihm gehört ein Bauernhof nahe dem Campingplatz. Auch bei ihm sitzt der Stachel eines missglückten Geschäfts tief im Fleisch. Doch worum es bei dem Geschäft ging, weiß niemand, da macht der Bauer ein großes Geheimnis drum. Jedenfalls kann Veetie kaum den Namen des Toten in den Mund nehmen, sagt Teemu. Wenn es um Matti geht, sieht Veetie einfach nur rot. Dann wirkt er sofort so aggressiv, als wollte er dem nächstbesten Menschen den Hals umdrehen.«

»Das kann ich bestätigen«, bemerkt Sarah trocken.

»Weiter geht es mit Erikka. Sie steht der alteingesessenen Großfamilie Kauppinen vor, die den einflussreichen Kern einer örtlichen Freikirche bildet. So wie Teemu von ihr gesprochen hat, muss Erikka schon hundert sein. Sie verachtet Matti geradezu, und zwar schon immer. Ihr Clan, meint Teemu, steht ihr da in nichts nach.« Ein dritter Finger reckt sich empor.

»Ich verstehe.« Sarah spitzt die Lippen. »Da haben wir mit der Familie auf einen Schlag also gleich mehrere Verdächtige. Und wer befindet sich laut Teemu noch auf der Liste? Eine Person fehlt noch.«

Ilvi lässt den vierten Finger nach oben schnellen. »Jalo«, sagt sie schließlich.

»Der Fischer?« Sarah reißt verblüfft die Augen auf.

Ilvi nickt. »Genau der. Ich fand es besonders interessant, seinen Namen zu hören, da auch du schon von ihm gesprochen hast. Teemu meint, Jalo habe Matti immer links liegen lassen, wenn sich die beiden begegnet sind. Früher soll das mal anders gewesen sein, doch irgendetwas muss vor ein paar Jahren zwischen den beiden Männern vorgefallen sein.«

»Wahrscheinlich wieder ein verpatztes Geschäft. In dieser Disziplin scheint Matti sehr erfolgreich gewesen zu sein.« Langsam reibt Sarah ihre Nasenspitze. »Um was für Geschäfte es sich wohl gehandelt hat? Eigentlich komisch, oder? Die Leute gehen dem Typen aus dem Weg, aber irgendwie kommen sie dann doch mit ihm ins Geschäft.«

»So etwas passiert in der Regel, wenn man den Hals nicht vollkriegen kann«, sagt Ilvi abfällig. »Die meisten Gaunereien leben doch davon, dass auf einfachem Weg viel Geld gemacht werden soll. Da verkaufen vermeintlich rechtschaffene Bürger plötzlich ihre Großmütter, um sich die Taschen zu füllen.«

»Aber wir sind hier auf dem Land«, wendet Sarah ein. »Da achtet noch jeder auf jeden, dachte ich.«

Ilvis lautes Lachen schallt von den Wänden des Gastraums wider. »Hier auf dem Land schaut jeder erst einmal, ob der Nachbar mehr besitzt als man selbst. Nichts unterscheidet die Leute auf dem Land von den Städtern, wenn es um Habgier, Neid oder eben Mord geht.« Sie sieht sich betont langsam im Schankraum um. »Jeder hier kann ein Mörder sein.« Gut gelaunt zwinkert sie Sarah zu.

»Das macht unsere Suche nicht leichter«, bemerkt Sarah mit einem enttäuschten Unterton. Skeptisch mustert sie die übrigen Gäste, die allesamt mehr oder weniger apathisch über ihren Biergläsern hocken und den Sportnachrichten folgen. »Immerhin haben wir dank deiner Nachforschungen nun eine Handvoll Verdächtiger, bei denen wir ansetzen können.«

»Wir werden schon vorankommen, mach dir keine Gedanken. Wie heißt es so schön in Finnland: Ein starker Wille führt dich durch den grauen Stein. Wir sind auf jeden Fall auf dem richtigen Weg. Zwei der Namen haben wir schließlich selbst schon auf dem Schirm gehabt: Jalo und Veetie. Das macht die beiden zu unseren Hauptverdächtigen, würde ich meinen.« Geschäftig reibt sie die Hände aneinander. »Am besten wäre es wohl, wir teilen uns auf. Jede von uns sucht zwei der Personen auf und fühlt ihnen auf den Zahn. Dann schauen wir, ob jemand ausgeschlossen werden kann. Alibi und so. Oder ob sich jemand besonders verdächtig macht.«

»Soll ich noch einmal mit Jalo sprechen? Wenn ich ihm auf den Kopf zusage, dass er mir etwas zu Matti verschweigt, vielleicht bekomme ich ihn dann zum Reden.«

»Das ist eine gute Idee.« Gedankenversunken dreht Ilvi das Glas in ihren Händen. »Kannst du auch mit Erikka Kauppinen reden? Ehrlich gesagt würde ich der lieber nicht unter die Augen treten.«

Erstaunt richtet Sarah den Ärmel ihres Bolerojäckchens. »Kennst du sie etwa?«

»Nein, ich kenne sie nicht. Aber ich kenne Frauen wie sie.« Ilvi stößt ein tiefes Seufzen aus. »Wenn Erikka ganz oben in einer örtlichen Freikirche mitmischt, dann würde unser Zusammentreffen zu einem großen Spaß. Nach drei Sätzen würde ich wahrscheinlich bereits explodieren und der guten Frau alle möglichen Verwünschungen an den Kopf werfen.« Interessiert betrachtet sie ihre Fingernägel.

»Oha – also … also, wie kommt denn das?«

»Ich bin mit siebzehn von zu Hause weg«, erklärt Ilvi und stellt ruckartig das leere Glas vor sich ab. »Mit der Enge in unserer Familie kam ich einfach nicht mehr klar. Damit meine ich keine räumliche Enge, sondern eine im Kopf.« Sie tippt sich gegen die Schläfe. »Ich habe noch vier ältere Geschwister, allesamt Brüder. Meine Eltern sind in Järvenpää, wo ich herkomme, fest in einer Pfingstbewegung verwurzelt.« Sie legt eine bedeutungsschwangere Pause ein. »Die religiösen Vorstellungen meiner Eltern waren ein ständiger Streitpunkt zwischen uns. Und da ich fast allein dastand – nur mein nächstälterer Bruder hat mich in den ständigen Diskussionen unterstützt –, habe ich es irgendwann einfach nicht mehr ausgehalten.«

»Was hast du gemacht, Ilvi?«

»Ich habe meine Sachen gepackt. Ansonsten wäre ich in der gottesfürchtigen Atmosphäre zu Hause verendet. Koffer gepackt und bye-bye

»Das tut mir leid«, sagt Sarah leise.

»Das braucht es nicht!« Ilvi lacht auf. »Seitdem habe ich mein Leben selbst in die Hand genommen, und das war die beste Entscheidung. Für meine Eltern hat das Wort der Bibel unfehlbare Gültigkeit, weißt du. Sex vor der Ehe ist zum Beispiel ein Tabu, ständig sollte ich an Hauskreisen teilnehmen, bei denen gesungen und gebetet wird. Dem Streit, weil ich da nicht reingezogen werden wollte, konnte ich nur entgehen, indem ich abgehauen bin. Seitdem bin ich mit meinem Leben äußerst zufrieden.« Sie winkt ab. »Man sollte niemals in Umständen leben, die einen unglücklich machen. Dann muss man gehen.«

»Das ist wahr«, stimmt Sarah nachdenklich zu.

»Versteh mich nicht falsch. Ich hege keinen Groll gegen meine Familie. Ich habe mich nur für ein anderes Leben entschieden als das ihrige.« Ilvi zuckt mit den Schultern. »Es ist ihr Problem, dass sie das nur schwer akzeptieren können. Ganz sicher ist es jedenfalls nicht meins.«

»Ilvi, ich bewundere deine positive Sichtweise. Wirklich, da kann ich mir noch eine Scheibe von abschneiden.«

»Du kennst vielleicht das bekannte finnische Sprichwort, das mir zum Lebensmotto geworden ist?«

Erwartungsvoll blickt Sarah Ilvi an, schüttelt entschuldigend den Kopf.

»Dem Fröhlichen ist jedes Unkraut eine Blume, dem Betrübten jede Blume ein Unkraut.« Ilvi lacht auf. »Man muss sich für das Leben entscheiden, das man führen möchte. Ich möchte zu den Fröhlichen gehören.«

»Die Tattoos?«, fragt Sarah und deutet auf Ilvis Arme. »Haben sie auch etwas mit deiner Entscheidung für ein anderes Leben zu tun?«

»O ja!« Ilvi nickt so heftig, dass ihr Haar wild umherschwingt. »Ich hatte mit sechzehn Jahren meinen ersten Freund, heimlich natürlich. Er hat mein erstes Tattoo gestochen. Damit hat alles angefangen. Meine Verwandlung.« Sie springt vom Stuhl auf, streift das Hemd ab und dreht sich, damit Sarah ihre bemalte Haut bewundern kann. »Schön, oder?«

»Und wie!«, antwortet Sarah. »Ich könnte mir dich nicht ohne die Tattoos vorstellen.«

Grinsend wirft Ilvi sich wieder in den Stuhl und zieht ihr Top zurecht. »Du befragst also die Kauppinen? Ich nehme mir dann Rauno Halla und diesen Veetie vor. Teemu hat mir zu allen Personen erklärt, wo sie wohnen. Rauno und Veetie versuche ich gleich noch auf dem Fest abzufangen. Teemu meint, die alte Erikka sei vorhin kurz auf dem Jahrmarkt gewesen, mittlerweile aber sicherlich wieder zu Hause. Sie ist steinalt.«

»Gut, so machen wir es.« Sarah erhebt sich vom Tisch. »Ich fahre kurz ins mökki, um mir etwas Bequemeres anzuziehen. Dann mache ich mich auf zum Haus dieser Erikka.«

Ilvi erhebt sich ebenfalls und hakt sich bei Sarah unter. Gemeinsam verlassen die beiden den Pubi, während Ilvi erklärt, wie Sarah zum Haus der Kauppinens gelangt. »Ich gehe also jetzt wieder auf das Fest«, fügt sie hinzu. »Wir treffen uns später am mökki, irgendjemand wird mich schon dorthin mitnehmen. Du hast mir ja einen eigenen Schlüssel gegeben. Warte also nicht auf mich.«

Sarah will sich bereits abwenden, da bleibt sie noch einmal stehen. »Ilvi, welches Bild ist eigentlich dein liebstes?«

»Was meinst du?«

»Welches deiner Tattoos gefällt dir selbst am besten?«

»Mein allererstes natürlich!«, ruft Ilvi lachend aus und streckt Sarah ihren linken Arm entgegen. »Hier, das Skelett auf dem Pferd. Der Tod.« Sie fährt mit der rechten Hand sacht über die Zeichnung.

»Wie ungewöhnlich«, sagt Sarah mit belegter Stimme.

»Ich wollte meine Eltern damit auf die Palme bringen.« Ilvi grinst. »Aberglaube und so. Vermeintliches Teufelszeug. Als Vorlage diente nämlich eine Tarotkarte, die ich damals immer bei mir trug. Der Tod. Brrrr!« Sie zieht eine Fratze. Nach einem erneuten Auflachen verschwindet sie fröhlich winkend in Richtung Jahrmarkt.