SIEBENUNDVIERZIGSTES KAPITEL
Das Rascheln lässt Sarah abrupt innehalten und aus ihren Gedanken aufschrecken. Hastig greift sie das Reizgas aus dem Rucksack, dann beäugt sie die Büsche und umstehenden Bäume. Doch als es ruhig bleibt, atmet sie tief durch und folgt weiter dem Waldweg. Die Hälfte ihres Heimweges hat sie bereits hinter sich. Seit sie Jalos Fischerhütte verlassen hat, hat sie ihrer Umgebung kaum Beachtung geschenkt – in ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Hat Jalo ihr soeben den Mord an Matti gestanden?
Wieder knackt es nahe dem Wegrand zwischen den Bäumen. Diesmal ist Sarah sicher, aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrgenommen zu haben. Mit der Sprühdose in der Hand positioniert sie sich breitbeinig auf dem Weg und visiert die Richtung an, aus der das Geräusch kam. »Komm nur«, presst sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor und bemüht sich, das Zittern ihres Arms zu unterdrücken. Sie weiß, sie wird sich nicht auf den Boden legen. Eher gibt sie dem Vieh, falls es mit dem Gas nicht funktionieren sollte, mit ihrem Stiletto eins auf die Nase.
Hinter einem Baumstamm bewegt sich etwas. Erstaunt saugt Sarah die Luft ein. Sind Braunbären nicht, wie der Name schon sagt, von brauner Farbe?, fragt sie sich irritiert. Was hier hinter der Baumrinde hervorschimmert, sieht jedoch nach einem hellen Weißblond aus. Überrascht lässt Sarah den Arm mit der Sprühdose sinken. »Komm heraus!«, ruft sie auf Finnisch.
Das blonde Etwas bewegt sich, verharrt aber weiter hinter dem Baum.
»Ich habe dich gesehen«, sagt Sarah ruhig.
Nun raschelt es in einem Busch, drei Schritte von dem Baumstamm entfernt. Mit großen Augen verfolgt Sarah, wie ein kleiner Junge hinter dem Gewächs hervortritt und sie mit verkniffenem Gesicht anstarrt.
»Trottel!«, ertönt eine Mädchenstimme hinter dem Baumstamm. »Bleib in deinem Versteck, Aarne!«
Sarah kann ein erleichtertes Auflachen nicht unterdrücken. Der vermeintliche Bär hat sich als zwei Kinder entpuppt, die im Wald Verstecken spielen. »Ihr habt mich erschreckt«, sagt sie und zwinkert Aarne zu.
»Warum sprichst du so komisch?«, will Aarne wissen.
»Du darfst nicht mit ihr sprechen«, mahnt die Mädchenstimme hinter dem Baumstamm. »Geh wieder zum Busch zurück! Los, mach schon!«
Aarne schiebt seine Unterlippe nach vorne, bleibt aber wie angewurzelt an Ort und Stelle stehen.
»Trottel!«, erklingt es wieder, dann tritt ein Mädchen hervor und legt ihren Arm um Aarnes Schulter, als wollte es den Jungen schützen. Es ist unübersehbar, dass die beiden Kinder Geschwister sind. Mit finsterer Miene mustert das Mädchen Sarah.
»Spielt ihr im Wald Verstecken?«, fragt Sarah freundlich, während sie das Reizgas möglichst unauffällig zurück in den Rucksack schiebt.
Das Mädchen schüttelt stumm den Kopf.
»Wir beobachten dich«, erklärt der Junge, nicht ohne einen gewissen Stolz. Kurz darauf stößt er einen Schmerzensschrei aus, da ihm seine Schwester in die Seite geboxt hat. »Aua! Du tust mir weh, Vilma!«
Sarah überlegt, ob sie den Jungen falsch verstanden hat. »Ihr folgt mir durch den Wald?«, fragt sie langsam.
Aarne nickt heftig. »Wir sind Detektive.«
»Ihr seid …?« Sarah holt tief Luft, kann sich ein Grinsen nicht verkneifen. Als Kind hat sie mit ihren Freundinnen auch Detektiv gespielt. Sie hatten sich sogar eigene Ausweise gemalt. Und eine Rentnerin, die in ihrer Siedlung wohnte, über Tage beschattet.
»Wir beobachten dich, weil du eine Mörderin bist!« Aarne deutet mit ausgestrecktem Zeigefinger auf Sarah. »Du hast den Mann in die Bucht geworfen.«
Das Grinsen gefriert auf Sarahs Gesicht. »Das ist Unsinn!«, stößt sie aus. Sind jetzt schon die Kinder der Umgebung vom sensationsgierigen Gerede ihrer Eltern infiziert?
Vilma schnippt ihre Zöpfe zurück. »Wir wissen, dass du lügst«, erklärt sie ernst. »Er hat es uns gesagt.«
»Wer hat …?« Sarah schaut von einem Kind zum anderen.
»Der Polizist«, sagt Aarne und reckt das Kinn herausfordernd.
Sarah öffnet den Mund, doch es gelingt ihr nicht, auch nur eine Silbe über die Lippen zu bringen.
Vilma scheint Sarahs Schweigen als Schuldeingeständnis zu werten. Getragen nickt sie. »Der Polizist hat gesagt, du hast den Mann aus Habgier umgebracht. Das bedeutet, dass du sein Geld haben wolltest.«
»Darum oktavieren wir dich«, fügt Aarne beflissen hinzu.
Vilma stöhnt auf und gibt dem Jungen abermals einen Knuff in die Seite. »Observieren!«, rügt sie ihn.
»Der Polizist?« Sarahs Frage klingt wie der Schrei eines verwundeten Tiers. »Er hat euch gebeten, mir zu folgen?«
»Er hat natürlich keine Zeit, dich ständig zu beobachten. Aber irgendjemand muss das ja tun. Deshalb helfen wir ihm.« Aarne macht einen eiligen Schritt zur Seite, als befürchte er einen neuerlichen Schlag von Vilma. »Es ist unser erster Detektivauftrag«, fügt er hinzu.
»Wie sieht der Polizist aus?« Aufgeregt macht Sarah einen Schritt auf die Kinder zu.
»Das dürfen wir nicht sagen!«, ruft Vilma aus und beäugt Sarah misstrauisch. Dann zieht sie ihren Bruder am Arm. »Komm, Aarne. Wir hauen ab.«
Während Vilma ihn zwischen die Bäume zerrt, dreht Aarne sich noch einmal um. »Wir dürfen nichts verraten. Sonst bekommen wir kein Geld«, erklärt er aufgeregt und stolpert weiter.
Fassungslos verfolgt Sarah, wie die beiden Kinder in den Tiefen des Waldes verschwinden. Während das Rascheln ihrer Schritte immer leiser wird und schließlich ganz erstirbt, versucht sie verzweifelt, ihre Gedanken zu ordnen. Es wird immer bizarrer. Nun benutzt Aalto sogar schon kleine Kinder, um Sarah unter Beobachtung zu halten. Wie verzweifelt muss der Kommissar sein, ihr auf Teufel komm raus den Mord an Matti anhängen zu wollen? Was für ein schmutziges Spiel dieser Typ spielt!
Den restlichen Weg zu ihrem mökki legt sie im Stechschritt zurück. An einen sie angreifenden Bären verschwendet sie keinen Gedanken – soll das Tier es doch wagen, sich ihr in den Weg zu stellen! Die in ihr kochende Wut hätte gegen einen kleinen Kampf nichts einzuwenden.
Ilvi ist zurück, erkennt Sarah am schwarzen Volvo, der vor dem Haus parkt. Sie schließt die Tür auf, atmet dreimal tief ein und wieder aus, dann stöckelt sie mit durchgedrücktem Rücken in den Wohnraum.
Ilvi sitzt mit einer Tasse Kaffee in der Hand auf dem Sofa. Sie mustert Sarah von oben bis unten. »Du siehst furchtbar aufgebracht aus.«
Die Worte überschlagen sich, als Sarah von ihrer Begegnung im Wald berichtet. »Kinder!«, schließt sie fassungslos. »Sogar Kinder setzt der Kerl auf mich an.«
»So etwas habe ich noch nicht gehört«, sagt Ilvi langsam und schüttelt den Kopf. »Könnte es sein, dass du die Kinder falsch verstanden hast? Dass sie einfach ein harmloses Spiel spielten? Meine Brüder haben früher ständig Polizei oder Detektive gespielt. Vielleicht war es ein Zufall, dass die Kinder dich beobachteten.«
»Das glaube ich nicht«, erwidert Sarah. »Ganz eindeutig sagten sie, dass ein Polizist sie beauftragt habe, mich zu beschatten. So etwas ist doch sicherlich verboten. Der Kommissar spinnt!«
Nachdenklich reibt Ilvi an ihrem Kinn. »Dieser Toivo scheint ganz schön verzweifelt, wenn er zu solchen Mitteln greift. Ob ich nicht doch mal mit ihm reden sollte? Diesem Gebaren gehört ein Riegel vorgeschoben. Der Typ kann sich auf was gefasst machen!«
Sarah winkt ab. »Ich denke, wir sollten unsere Energie einzig in die Mördersuche stecken. Nur wenn dieser starrsinnige Schnüffler den Täter vorgesetzt bekommt, wird er endlich von mir ablassen. Er ist wie ein Bluthund. Nur auf der falschen Fährte. Das aber konsequent.«
Nachdenklich nickt Ilvi, wirkt jedoch nicht völlig überzeugt. »Apropos Mördersuche. Ich habe mit den Hallas zu Mittag gegessen und Rauno auf den Zahn gefühlt. Von Joko habe ich mich dabei nicht ablenken lassen.« Sie lacht auf. »Nun, vielleicht doch ein wenig.«
Sarah schiebt sich eine Haarsträhne aus der Stirn. »Da hätte ich gerne Mäuschen gespielt. Das muss ein spannendes Mittagessen gewesen sein, Ilvi. Gibt es eigentlich eine Frau Halla? Du erwähnst nie Jokos Mutter.«
»Sie ist bei Jokos Geburt verstorben, so viel habe ich mitbekommen. Rauno hat nicht wieder geheiratet. Die nächste Frau Halla wird wohl Jokos Gattin sein.« Ilvi spreizt ihre rechte Hand und wackelt mit dem Ringfinger, dann zwinkert sie Sarah zu.
»Du bist doch nicht schon wieder Hals über Kopf verliebt?«, schießt es aus Sarah heraus, während sie ein Schmunzeln unterdrückt. »Du kennst den Jungen doch kaum.«
»Hast du ihn dir mal angeschaut?« Ilvi fährst sich mit der Zunge über die Lippen. »Was ich bisher von ihm kennengelernt habe, hat mich voll überzeugt. Außerdem ist Joko ein absolut toller Mensch, das habe ich sofort gespürt.«
»Und sein Vater vielleicht ein Mörder«, ergänzt Sarah trocken.
»Das glaube ich nicht«, erwidert Ilvi ungerührt und nimmt einen Schluck Kaffee. Dann beugt sie sich vor. »Beim Essen habe ich das Gespräch auf Matti gebracht. Rauno konnte ihn wirklich nicht ausstehen, das ist wahr. Er hat da völlig offenherzig drüber gesprochen. Matti hatte ihm einen Zuchthengst aufgeschwatzt, den er über irgendwelche ominösen Kanäle besorgt hat, das Tier war aber sein Geld nicht wert. Doch Matti weigerte sich vehement, das Geschäft rückabzuwickeln. Darüber sind die beiden aufs Heftigste aneinandergeraten.«
»Das hört sich doch zumindest nach einem handfesten Motiv an«, stellt Sarah fest.
Ilvi hebt einen Zeigefinger. »Dachte ich mir auch. Deshalb habe ich Joko nach dem Essen unter vier Augen gefragt, ob sein Vater am Tag des Mordes bei Matti gewesen sein könnte.«
»Und?«
»Rauno war den ganzen fraglichen Tag über auf dem Gestüt. Bei Joko.« Ilvi spreizt die Hände. »Er kann Matti nicht getötet haben.«
»Aber Joko selbst hat seinen Vater des Mordes bezichtigt. Hier in diesem Haus hat er zu uns gesagt, wenn jemand Matti getötet habe, dann wohl sein Vater.«
»Ein Scherz«, entgegnet Ilvi mit einer wegwerfenden Handbewegung. »Außerdem: Wenn es wahr wäre, würde Joko doch niemals so dämlich sein, seinen Vater öffentlich zu bezichtigen.«
»Hm«, macht Sarah. »Damit hast du wahrscheinlich recht.« Dann heitert sich ihre Miene auf. »Es ist eigentlich auch egal, ich wollte nur sichergehen, dass wir Rauno guten Gewissens von unserer Liste der Verdächtigen streichen können. Ich will dem Kommissar nämlich ein Treffen vorschlagen. Leihst du mir dein Handy?«
»Du willst dich freiwillig mit diesem Aalto treffen?«, fragt Ilvi verdutzt und zieht ihr Mobiltelefon hervor.
»Genau das habe ich vor.« Stolz baut Sarah sich vor Ilvi auf. »Ich denke, wir haben ihn.« Sie nimmt das Gerät entgegen und fischt Aaltos Visitenkarte aus dem Rucksack.
»Wen haben wir?«
Sarah blickt vom Display auf, in das sie die Nummer des Kommissars eintippt. »Na, Mattis Mörder.«