Fünfundfünfzigstes Kapitel

FÜNFUNDFÜNFZIGSTES KAPITEL

Onni ist so in sein Tagebuch vertieft, dass er das Geräusch erst nicht wahrnimmt. Doch irgendwann legt er den Stift zur Seite und horcht in sein Zimmer hinein. Schwankend erhebt er sich vom Bett und torkelt zu dem Stuhl, auf dem sein Rucksack liegt. Mit zitternder Hand führt er die offene Wodkaflasche, die auf dem nahen Tisch steht, an den Mund und nimmt einen tiefen Schluck. Dann fischt er ungelenk sein Handy aus dem Rucksack. Für einen Moment liegt es vibrierend und läutend in seiner Hand. Er betrachtet es, als müsse er sich erst erinnern, was man mit dem Ding überhaupt anstellt. Dann schleppt er sich zum Bett zurück und nimmt das Gespräch an, während er sich auf die zerknitterte Decke fallen lässt. »Hm?«, brummt er.

»Onni?« Seine Mutter Kaisa klingt aufgeregt. »Onni, hörst du mich?«

»J-ja.«

»Gott sei Dank, dass ich dich erreiche, mein Junge! Seit Tagen versuche ich, dich ans Telefon zu bekommen. Papa und ich haben uns schon große Sorgen gemacht. Ehrlich, ich war kurz davor, ins Auto zu steigen und mich auf den Weg nach Helsinki zu machen! Hast du die verpassten Anrufe denn nicht auf dem Handy gesehen? Wirklich, tagelang habe ich es bei dir versucht!«

»Nein«, sagt Onni.

»Nein? Was meinst du mit Nein?«

»Damit meine ich, dass ich sie nicht bemerkt habe, Mama.«

»Onni, ich wollte schon nach Helsinki kommen und nach dem Rechten sehen.« Kaisa spricht das Wort Helsinki so aus, als handele es sich um eine Krankheit.

Er hört den Vorwurf aus der Stimme seiner Mutter sehr wohl heraus. Kaisa mag es nicht, wenn Onni sich nicht täglich bei ihr meldet. Am besten mehrmals. »Du brauchst nicht herzukommen, Mama.«

»Dein Vater ist ebenfalls in großer Sorge, Schatz. Du weißt, dass wir damals skeptisch waren, was dein Studium angeht. Du hättest auch hier in Turku zur Universität gehen können. Dann hättest du zu Hause wohnen können, in deiner gewohnten Umgebung. Dr. Karvonen, der dich schon jahrelang kennt, ist schließlich auch hier. Du brauchst Routine! Das hat er immer gesagt. Wenigstens dein Versprechen, dass wir regelmäßig telefonieren, musst du einhalten, Onni. Sonst machen wir uns Sorgen. Wir müssen wissen, wie es dir geht.«

Onni kämpft sich vom Bett hoch und wankt zum Tisch. Er schnappt sich die Flasche und stolpert zurück zum Bett. Während er trinkt, lässt er sich auf der Bettkante nieder.

»Hörst du mich, Onni? Hallo?«

Er hustet. »Ja, ich höre dich, Mama.«

»Ist wirklich alles in Ordnung? Du klingst sehr merkwürdig. Irgendetwas ist komisch mit deiner Stimme.«

Onni stellt die Flasche zu seinen Füßen ab, dann räuspert er sich. »Alles ist in bester Ordnung«, sagt er leise.

Für einen Moment herrscht Schweigen in der Leitung. Dann platzt es aus Kaisa heraus: »Ich habe im Museum angerufen, Onni! Deine Chefin sagt, du hättest dich krankgemeldet und wärst seit Tagen nicht mehr bei der Arbeit gewesen.«

»Eine … eine Erkältung. Nichts weiter. Spionierst du hinter mir her?« Kaum hat Onni den Satz ausgesprochen, weiß er, dass er einen Fehler begangen hat.

»Muss ich dich daran erinnern, dass du ein besonderer Mensch bist, Onni?«, erwidert Kaisa scharf. »Das Leben da draußen ist für dich viel anstrengender als für … als für nicht besondere Menschen.«

Er ist ein besonderer Mensch. Onni verzieht sein Gesicht, als hätte er in eine Zitrone gebissen. Er hasst diesen Ausdruck wie kaum einen anderen.

»Das Leben läuft für dich einfach anders ab als für andere Menschen«, sagt Kaisa mit Nachdruck. »Dazu gehört eben auch, dass wir uns weiter um dich kümmern. Weil du Schwierigkeiten hast, dich allein zurechtzufinden. Das ist nun einmal so! Du benötigst Routinen, um das Leben zu meistern.« Sie stößt einen angestrengten Laut aus, eine Mischung aus Seufzer und Stöhnen. »Du bist eben sehr empfindsam, Schatz.«

»Ich weiß, dass ich eine Last bin«, murmelt Onni und fischt mit der freien Hand nach der Flasche. »Ich will das alles nicht mehr.« Er lässt den Wodka in seinen Rachen fließen.

»Was meinst du?«

»Ich will nicht länger ein Außenseiter sein, verdammt!«, blafft Onni ins Telefon. »Ein besonderer Mensch. Anders!«

»Ich … es ist eben, wie es ist«, sagt Kaisa mit gepresster Stimme.

»Wie es ist, mag ich es aber nicht«, erwidert Onni barsch. »Ich habe mich dazu entschieden, es zu ändern.«

»Mein Lieber«, sagt Kaisa in einem Tonfall, als unterhielte sie sich mit einem bockigen Einjährigen. »So laufen die Dinge nun einmal nicht. Dein Leben ist …«

»Scheiße ist es!«, schreit Onni in den Hörer. »Ich bin kein Gestörter!« Er nimmt einen weiteren kräftigen Schluck, konzentriert sich auf die Flüssigkeit, die in seinem Rachen brennt.

Schockwellen schwingen in Kaisas Stimme mit. »Onni, wie redest du? Du weißt, dass wir dich lieben. Schon immer haben wir alles für dich …«

»Ihr habt mich nach Yläne geschickt, zu Tante Anneli!«, platzt es aus Onni heraus. »Es war die Hölle. Ich will nicht mehr daran denken!« Etwas Feuchtes liegt nun in seiner Stimme. Es klebt auf seinen Stimmbändern und erschwert das Sprechen.

»Was für ein Unsinn, Onni! Das ist Unsinn. Und undankbar. Außerdem ist meine Schwester seit fünf Jahren tot. Vielleicht musst du lernen, besser mit Dingen abzuschließen?«

»Ich will ja nicht mehr daran denken«, sagt Onni leise, wie zu sich selbst. »Doch es funktioniert nicht.«

»Wir kommen zu dir, basta!«, ruft Kaisa aus. »Du kannst deine Arbeit auch hier weiterschreiben, finde ich. Ich denke, du solltest schnell einen Termin bei Dr. Karvonen machen, Schatz. Ja, wir holen dich ab. Du hörst dich furchtbar an.«

Die Flasche ist leer. Onni schleudert sie gegen den Stuhl. »Ich bin nicht in Helsinki!«, ruft er ins Telefon. »Und ich werde nicht auf euch hören. Ich entscheide selbst. Ich bin kein Gestörter, kein Freak! Allen werde ich es beweisen. Ich muss sie nur noch finden. Doch, das werde ich! Die Frau hat sie, ganz sicher. Ich werde sie finden, und alle werden staunen. Ich werde es ihnen beweisen.«

Kaisa schnappt nach Luft. »Ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagt, Onni. Du machst mir Angst. Du kannst auf keinen Fall allein in Helsinki bleiben. Sobald dein Vater nachher …«

Onnis Lachen hallt durch sein kleines Pensionszimmer. »Du irrst dich, Mama. Und du hörst mir nicht zu. Ich bin nicht in Helsinki.«

Eine Schrecksekunde. »Wo bist du, Junge? Wo …?«

Onni redet einfach weiter, ignoriert Kaisas aufgeregte Fragerei. »Und du irrst weiter. Ich bin nämlich nicht mehr allein. Auch ich kann von jemandem gemocht werden, stell dir das vor! Ich habe jemanden kennengelernt. Es ist … es ist ernst. Stell dir das vor.« Er schließt die Augen und nickt, wie um sich selbst zu überzeugen.

»Onni, was heißt das? Wen hast du …?« Die Stimme seiner Mutter erklingt wie aus weiter Ferne.

»Letzte Nacht«, flüstert Onni. Dann legt er ohne ein Wort des Abschieds auf, schwankt zum Rucksack hinüber und schiebt das Telefon hinein. Eine ganze Weile steht er einfach da. In seinem Kopf dreht sich alles. Ein angenehmes Gefühl. Seine Gedanken sind wie betäubt. Es ist die Illusion von Freiheit und Normalität. Diese Illusion genügt ihm. Sie ist das Beste, was er im Moment erlangen kann. Sein Blick streift die leere Wodkaflasche am Boden.

»Verdammt«, sagt eine Stimme in Onnis Kopf. »Schon leer.«

Er macht sich auf den Weg zur Bar hinunter.