Zweiundsechzigstes Kapitel

ZWEIUNDSECHZIGSTES KAPITEL

Für einen Moment wird ihr schwarz vor Augen, als der Wagen seitlich gegen einen Baum kracht. Der Aufprall ist so heftig, dass sich der Airbag geöffnet hat. Mit zitternden Fingern drückt Sarah die Fahrertür auf und schält sich aus dem erschlaffenden Luftsack. Sie ist viel zu schnell durch den Wald gebrettert und in einer Kurve schlitternd vom Weg abgekommen, doch das ist jetzt ihre geringste Sorge. Noch etwas benommen versucht sie, sich zu orientieren. Bis wohin ist sie gekommen? Ist es noch weit? Sie muss sich beeilen!

Erleichtert stößt sie den Atem aus. Ihr mökki befindet sich gleich hinter der nächsten Kurve. Hastig schnappt sie sich den Rucksack vom Rücksitz, schnallt ihn um und rennt über den Waldweg, so schnell ihre Pumps sie tragen. »Hoffentlich bin ich nicht zu spät!«

Schnaufend bleibt Sarah an der Eingangstür stehen und schaut zum Ufer hinunter. Vor der Sauna liegen unzählige Kleidungsstücke auf dem Boden verstreut. Nachdenklich kneift Sarah die Augen zusammen, dann zieht sie die Schuhe aus. Sie fischt den Schlüssel aus dem Rucksack und öffnet beinahe lautlos die Haustür. Auf Zehenspitzen schleicht sie hinein.

Nach ein paar Schritten bleibt sie im Schutz des großen Kachelofens lauschend stehen. Aus ihrem Schlafraum ist ein Schaben und Knirschen zu hören, als zerlege jemand die gesamte Einrichtung. Langsam wagt sie sich bis zu Ilvis leicht geöffneter Zimmertür vor und späht in den Raum. Er sieht aus, als hätte eine Bombe eingeschlagen. Schubladen liegen herum, ein Regal ist umgeworfen, sein Inhalt überall verteilt. Sarah presst die Zähne zusammen, während ihr Blick hin und her schießt. Ilvi ist nirgends zu sehen. Erleichtert stößt Sarah die Luft aus.

Ein unverständlicher Fluch ertönt aus ihrem Schlafzimmer, kurz darauf zerspringt erst ein Glasgefäß, dann ein zweites. Also wird wohl gerade das Badezimmer auseinandergenommen. Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um zu verschwinden. Geduckt schleicht Sarah zur offen stehenden Verandatür. Draußen auf den Holzpaneelen holt sie tief Atem, nimmt die Beine in die Hand und rennt zur Sauna hinunter. Vor der Hütte liegen in einem bunten Haufen Ilvis Kleidungsstücke im Gras, dazwischen die Anziehsachen eines Mannes.

»Himmel, hoffentlich bin ich nicht zu spät!« Mit aufgerissenen Augen bemerkt Sarah das Holzstück, das unter der Saunatür klemmt. Es kostet sie viel Kraft und einen Fingernagel, um das verkeilte Holz hervorzuziehen. Dann schultert sie den Rucksack und reißt an der Tür, auf das Schlimmste gefasst. Eine warme Lakritzwolke weht ihr aus dem Saunainneren entgegen. Sie würgt.

»Ilvi!«, ruft Sarah aus und stürzt zu ihrer Freundin, die ausgestreckt und mit geschlossenen Augen reglos auf der Saunabank liegt. Doch, Ilvi atmet, wenn auch flach, stellt Sarah mit gewaltiger Erleichterung fest. »Wach auf!«, ruft sie und tätschelt Ilvis Wange. »Bitte, komm zu dir!« Ihr Blick streift das Thermometer an der Wand. Es zeigt achtzig Grad, doch nun, da die Tür geöffnet ist, entweicht die Hitze schnell.

Ilvis Lider zittern, dann schlägt sie die Augen auf. Orientierungslos sieht sie sich um und stöhnt auf. »Mein … mein Kopf«, krächzt sie. »Er … er …«

»Komm, setz dich vorsichtig auf«, sagt Sarah und greift Ilvi unter die Arme. »Ich helfe dir. Wir müssen so schnell wie möglich von hier verschwinden!«

»Er … er …«, lallt Ilvi und kämpft sich mit Sarahs Hilfe in eine aufrechte Position.

»Ich weiß. Sag nichts, schone deine Kräfte! Er ist ein kaltblütiger Mörder. Sobald du gehen kannst, müssen wir hier raus und verschwinden.« Hastig greift Sarah nach der Holzschale, die auf der Saunabank liegt, und füllt sie mit Wasser aus dem Bottich. »Trink etwas. Hier.« Sie hält Ilvi die Schale an die Lippen.

Gierig lässt Ilvi das Wasser in ihren Rachen laufen. Sogleich scheint es ihr besser zu gehen. Sie hustet, dann fährt ein Zittern durch ihren Körper. »Saunaolut«, presst sie hervor.

»Das Saunabier?«, fragt Sarah.

Ilvi nickt. »Es hat … merkwürdig geschmeckt. Er hat etwas reingetan.«

Sarah zückt Onnis Tagebuch aus ihrem Rucksack. »Er hat auch Onni umgebracht. Nicht nur Matti.« Sie klopft mit dem Buch auf die Saunabank. »Der arme Onni hat hier drin festgehalten, wie er ausgehorcht wurde. Es geht um eine wertvolle Statue, Ilvi. Irgend so ein altes Ding.«

»Onni?«, fragt Ilvi angestrengt. »Auch tot?«

Der Raum verdunkelt sich, als wäre eine Wolke vor die Sonne gezogen.

»Gib mir sofort das Tagebuch!«, ertönt eine raue Stimme vom Eingang her.

Sarah zuckt zusammen und fährt herum. Sie presst das Tagebuch an ihre Brust. »Wieso hast du Onni getötet?«, ruft sie Joko entgegen.

Grinsend baut Joko sich im Türrahmen auf, die Hände in die nackten Hüften gestemmt. »Der kleine Spinner wurde zu anhänglich«, erklärt er mit eisiger Ruhe. »Er ist auf dem Fest aufgetaucht und war kurz davor, eine große Szene zu machen. Dass ich ihn nicht verlassen dürfe, so etwas. Es ist mir nur mühsam gelungen, ihn zu überreden, alles Weitere unter vier Augen bei Mattis mökki an der Rotaugen-Bucht zu besprechen. Alles Weitere war dann vor Ort schnell erledigt.« Er lacht auf, während er so tut, als würde er seine Hände um einen Hals legen und zudrücken.

»Du … Schwein«, flüstert Ilvi mühsam. Es sieht aus, als wollte sie von der Bank aufstehen und sich auf Joko stürzen, doch sie kommt nicht auf die Beine. »Schwein!«, stößt sie stattdessen abermals aus.

»Onni hat mir nicht mehr viel genützt, nachdem ich kapiert hatte, dass er lediglich ein armer Wurm ist, der keine Ahnung hat, wo genau sich die Statue befindet. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, um von hier abzuhauen. Die Bullen können diesmal leicht feststellen, dass ich den Typen umgebracht habe. Doch da du mir jetzt sagen wirst, wo sich die Statue befindet, wird es wohl ausreichen.« Er macht einen drohenden Schritt in die Sauna hinein.

»Ich habe keine Ahnung«, sagt Sarah so ruhig, wie es ihr irgend möglich ist.

»Natürlich nicht.« Gehässig verzieht Joko das Gesicht. Plötzlich ist von seinem guten Aussehen nicht mehr viel übrig. »In deinem Haus ist sie nicht. Wo hast du sie versteckt?« Seine Miene entspannt sich wieder. »Ihr kommt hier niemals lebend raus, wenn du mir nicht sofort sagst, wo die Statue sich befindet!«

Sarah hält das Tagebuch wie einen Schild vor sich. »Du bist Abschaum!«, stößt sie aus.

Wut zieht über Jokos Gesicht, dann streckt er eine Hand aus. »Das Tagebuch. Her damit!«

Sarah zögert. Dann reicht sie Joko langsam das Notizbuch entgegen.

Mit einem Ruck reißt er es an sich.

»Willst du nicht wissen, was dich verraten hat?«, fragt Sarah. In ihrem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Sie gibt sich keiner Illusion hin – Joko wird Ilvi und sie töten. Daher muss sie ihn so lange wie möglich beschäftigen. Bis ihr etwas einfällt. Oder ein Wunder geschieht.

Joko runzelt die Stirn.

»Das da war’s«, sagt Sarah und deutet auf seinen Lendenbereich. »Das Tattoo.«

»Mein Tattoo?« Joko wirkt ernsthaft überrascht.

»O ja, der Totenschädel. Onni hat ein Bild davon gemalt. Ich habe es nicht gleich erkannt, doch dann fiel mir ein, dass ich den Schädel schon einmal gesehen hatte. Nämlich genau dort.« Sie deutet abermals auf Jokos Körpermitte. »Als ihr, Ilvi und du, euch vor meinem mökki im Auto vergnügt habt.«

»Wir haben … du hast …?«

»Oh, es hat etwas gedauert, bis ich mich erinnerte. Es bedurfte ausgerechnet eines Bibelzitats von Erikka, bis mir wieder einfiel, wo ich den Schädel schon einmal gesehen hatte.« Sie schürzt die Lippen. »Viele Grüße von Liisa übrigens. Sie war auch dort, bei den Kauppinens. Sie erwartet ein Kind von dir, aber das wird dich nicht weiter verwundern, denke ich. Es wird nicht dein erster Sprössling hier im Ort sein. Schließlich lässt du nichts, aber auch rein gar nichts anbrennen, Joko. Es wirkt auf mich ein bisschen so, als würdest du an schweren Minderwertigkeitskomplexen leiden. Du musst dir wohl immer wieder beweisen, was für ein toller Hecht du doch bist. Du nimmst einfach alles, was du kriegen kannst. Spielst dich als unwiderstehlicher Dorfgigolo auf. Dabei bist du in Wahrheit lediglich ein emotionaler Krüppel. Ein Schlappschwanz. Und, lass es uns nicht vergessen, ein feiger Mörder.«

Joko presst die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Seine Hände verkrampfen sich um das Tagebuch.

»Möchtest du eigentlich Onnis Zeichnung sehen? Sie ist durchaus gelungen, finde ich. Viel schöner als das Original, wenn du mich fragst. Was übrigens nicht schwer ist, nur so unter uns. War es eine Jugendsünde, das Totenköpfchen? Du findest die Zeichnung jedenfalls im Tagebuch, hinter dem letzten Eintrag.« Sarah zwingt ein hämisches Grinsen auf ihr Gesicht, auch wenn sie am liebsten vor Aufregung kotzen würde.

Joko zögert kurz, dann klappt er das Tagebuch auf und blättert fahrig darin, auf der Suche nach dem letzten Eintrag. Auf seinem Gesicht liegt ein hitziger Ausdruck.

Mit einer schnellen Bewegung zieht Sarah das Reizgas aus ihrem Rucksäckchen.

»Was …?«, setzt Joko an und blickt alarmiert von dem Tagebuch auf.

Der Strahl trifft ihn mitten im Gesicht.

Es vergeht eine Sekunde, in der die Welt stillzustehen scheint, dann bricht Joko in ein lautes Gebrüll aus. Er lässt das Tagebuch fallen und presst beide Hände jaulend auf die Augen.

»Komm, Ilvi!«, ruft Sarah aus und hilft ihrer Freundin von der Bank hoch. »Raus hier, schnell!«

Auf Sarah gestützt drängt Ilvi sich an dem blinden Joko vorbei, der sich, vor Schmerzen gekrümmt, im Kreis dreht. Im letzten Moment, bevor sie die Hütte verlassen, streckt Ilvi ihr Bein aus und schiebt es in Jokos Lauf. »Schwein, erbärmliches!«, ächzt sie.

Joko stolpert über Ilvis Bein nach vorne, prallt erst gegen die Holzbank, dreht sich dort und torkelt dann seitlich gegen den glühenden Saunaofen. Das Zischen schmorenden Fleisches geht in Jokos ohrenbetäubendem Gebrüll unter.

Hastig zieht Sarah ihre Freundin aus der Hütte hinaus und lässt sie nach ein paar Schritten ins Gras gleiten. Dann springt sie zur Tür, wirft sie zu und schiebt den Holzkeil darunter.

Aus dem Saunainneren dringt ein gellendes Schmerzgebrüll, das schließlich in ein schluchzendes Wimmern übergeht.

»Verrecke, du Schwein!«, ruft Ilvi. Wie ein bunter Käfer liegt sie nackt auf dem Boden, alle viere von sich gestreckt.

Sarah schnappt sich Ilvis Hose aus dem Gras und klopft sie suchend ab. Erleichtert zieht sie das Smartphone ihrer Freundin aus einer Hosentasche hervor und öffnet im Menü die Liste der vergangenen Telefonate. Ihre Hände zittern, als sie eine Nummer auswählt und das Handy ans Ohr presst.

»Aalto«, meldet sich der Kommissar mit schlaftrunkener Stimme.

»Hier … äh … Sarah Fuchs. Ich muss Ihnen …!«

»Frau Fuchs, das ist eine wunderschöne Überraschung«, fällt Aalto ihr ins Wort. Er klingt plötzlich hellwach. »Ich habe schon auf Ihren Anruf gewartet!«

»Das haben Sie?«, stößt Sarah verwundert aus.

Aus der Hütte ertönt ein Klopfen, begleitet von weinerlichen Verwünschungen.

»Ja«, sagt Aalto, »seit unserem letzten Gespräch, das ja nicht so gelaufen ist, wie ich mir das gewünscht habe. Sprechen Sie von einer Baustelle aus? Ich höre im Hintergrund ein Klopfgeräusch.«

Sarah entfernt sich zwei Schritte von der Hütte. »Ich weiß beim besten Willen nicht, was Sie meinen, doch ich muss Ihnen …«

»Wir wollten doch offen miteinander sprechen, hatten wir verabredet«, unterbricht Aalto sie abermals. »Vielleicht können wir bei einem Gläschen …«

»Halten Sie mal für eine Sekunde den Mund!«, fährt Sarah den Kommissar an. »Hören Sie mir zu, verdammt!«

In der Leitung vibriert eine pochende Stille.

Sarah holt tief Luft. »Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie Ihre Kollegen bei mir vorbeischicken könnten. Der Mörder von Matti und Onni befindet sich in meiner Sauna. Es ist Joko Halla. Ich habe ihn eingesperrt. Er schmort da jetzt vor sich hin, bis Sie ihn abholen.«

»Der Mörder …? … Onni?«, haspelt Aalto.

»Die Leiche des jungen Mannes treibt in der Rotaugen-Bucht. Nahe der Stelle, an der auch Matti gefunden wurde. Also … ich berichte Ihnen alles Weitere, wenn Sie hier sind.« Bevor sie das Gespräch beendet, führt sie das Telefon doch noch einmal ans Ohr. »Und Aalto, noch etwas. Wenn Sie auch nur ein Stück Lakritz mitbringen, erwürge ich Sie!«