Viertes Kapitel

VIERTES KAPITEL

Mit spitzen Fingern legt sie das beschmierte Fleischermesser in die Spülmaschine und drückt den Startknopf. Gurgelnd setzt sich die Maschine in Gang. In wenigen Minuten werden alle Spuren beseitigt sein, frohlockt Sarah, während sie ihre Hände ausgiebig unter dem Wasserhahn wäscht. Wenn Martha, ihre Hauswirtschafterin, die Spülmaschine am Nachmittag ausräumt, wird ihr nichts auffallen. Bis dahin ist Sarah bereits über alle Berge.

Auf dem Weg zur Haustür geht sie im Kopf die Liste jener Dinge durch, die zu erledigen waren. Das Flugticket, nur ein Hinflug, befindet sich auf ihrem Handy, ebenso wie die Buchungsbestätigung für das Haus. Martha hat sie neben einer Banknote ein paar Zeilen auf dem Küchentisch hinterlassen und Armin, ihrem Anwalt, die unterschriebene Vollmacht per E-Mail zugesandt. Das Geld für Franzi ist überwiesen. Die Koffer sind gepackt. Und um Udo hat Sarah sich gerade gebührend gekümmert. Zufrieden lauscht sie auf das Geräusch der Spülmaschine.

Franziska und zwei, drei enge Freundinnen hat sie in einer Textnachricht darüber informiert, dass sie in der nächsten Zeit nur schwer zu erreichen sein wird. Insgeheim hatte sie gehofft, ihre Tochter würde sich – durch die Mitteilung aufgeschreckt – umgehend bei ihr melden, doch da kam nichts. Natürlich nicht. Wahrscheinlich befindet Franzi sich schon im Shopping-Nirvana.

An der Haustür bleibt Sarah neben den beiden Koffern stehen. Sie zückt ihr Handy und sperrt alle eingehenden Anrufe, außer die von Franzi und Armin. Dann öffnet sie die Taxi-App und bestellt einen Wagen. Langsam dreht sie sich um die eigene Achse und nimmt das Haus ein letztes Mal in sich auf. Sie hat nicht vor, hierher zurückzukehren.

Es vergehen keine fünf Minuten, dann ertönt die Haustürklingel. Über ihr Handy öffnet Sarah das Tor zur Straße und lässt das Taxi herein. Schwungvoll setzt sie die Sonnenbrille auf und schnappt sich die Koffer. Mit einem lauten Knall fällt die Haustür hinter ihr ins Schloss. »Zum Flughafen«, bittet sie den Fahrer, der geschäftig aus dem Wagen springt, um Sarah die Koffer abzunehmen. »Und wenn es Ihnen möglich ist, dann schütteln Sie unterwegs den grünen Peugeot ab, der unten an der Straße parkt und uns gleich folgen wird.«

Der Mann guckt verdutzt, doch dann nickt er. »Wird gemacht.« Während das Taxi auf die Straße rollt und sich das schmiedeeiserne Einfahrtstor hinter ihnen schließt, wirft der Fahrer Sarah im Rückspiegel einen fragenden Blick zu. »Brennt es bei Ihnen? Ich glaube, ich habe beim Rausfahren eine Rauchsäule im Seitenspiegel gesehen. Und da lag auch irgendetwas Verkohltes in der Luft.«

Sarah schüttelt den Kopf und unterdrückt ein Lächeln, das sich auf ihr Gesicht schieben will. »Ein paar Gartenabfälle, die verbrannt wurden«, erklärt sie knapp. »Nichts weiter.« Argwöhnisch verfolgt sie, wie sich der Peugeot vom Straßenrand löst, um hinter dem Taxi herzufahren. »Diesen Wagen meinte ich«, sagt sie.

Der Fahrer nickt und kneift die Augen leicht zusammen. »Kein Problem.«

Sie erreichen den Flughafen ohne den Verfolger. Im dichten Stadtverkehr musste der Peugeot schnell klein beigeben, da ihm das Taxi einfach über die Omnibusspuren davonfuhr.

»Vielen Dank.« Sarah belohnt den Fahrer mit einem großzügigen Trinkgeld. Noch im Wagen wickelt sie einen Schal um Kopf und Gesicht, rückt die Sonnenbrille zurecht und betritt mit gesenktem Kopf das Terminal. Doch sie kommt nicht weit. Gleich am ersten Zeitungsstand bleibt sie wie angewurzelt stehen und kämpft gegen einen Würgereiz. Von einer Illustrierten blickt ihr Udo entgegen. In seinem Arm liegt eine junge Blondine und schmachtet ihn an. Neues Liebesglück für Ramona, prangt die Überschrift.

Grimmig schiebt Sarah ihre Koffer an den Rand, greift sich eine der Illustrierten. Mit zitternden Fingern schlägt sie sie auf. »Das kann doch nicht wahr sein«, haucht sie. Ein Bild von ihr und Udo, vor Jahren bei irgendeiner Festivität aufgenommen, ist mit dem Satz Eine Aufnahme aus besseren Zeiten versehen. »So eine Unverschämtheit!«

Kurzerhand greift Sarah sich alle Ausgaben der Illustrierten und bezahlt sie mit verkniffenem Gesicht an der Kasse. Sie hat das Gefühl, die Leute würden sie mitleidig anstarren. Sie, die sitzengelassene Ehefrau, die nach ihrem Ruhm nun auch noch den Gatten verloren hat. Schwungvoll wirft sie das halbe Dutzend eng umschlungener Udos und Ramonas in den Papiermüllbehälter, unweit des Zeitschriftenhändlers. »Nimm das, Ramona«, murmelt sie heiser und eilt zurück zu ihren Koffern. In ihrem Inneren wütet ein Sturm, und ihre Zähne sind derart fest zusammengepresst, dass der Kiefer schmerzt. Noch nie zuvor in ihrem Leben hat sie sich derart gedemütigt gefühlt. Nicht einmal damals, während der Trennung von Rüdiger.

Mit einem Stöhnen erkennt Sarah, dass die Lücke im Zeitschriftenständer bereits wieder aufgefüllt worden ist. Ramonas Liebesglück erstrahlt auf ein Neues. Sie überlegt noch, ob sie abermals alle ausliegenden Exemplare aufkaufen soll, da fällt ihr ein groß gewachsener Mann in Jeansjacke und ausgebeulten Cordhosen auf, der gerade das Terminal betritt. Der Typ löst ein Alarmgefühl in ihr aus. Und das rührt nicht daher, dass Cordhosen wohl das Unpassendste sind, was man im Sommer tragen kann. Es ist der große Fotoapparat, den der Kerl in den Händen hält, der Sarah ein Schaudern die Wirbelsäule hinablaufen lässt. Ein Reporter. Der grüne Peugeot.

Abrupt wendet sie sich ab und zieht, ohne sich noch einmal umzusehen, die Koffer zum Check-in-Bereich. Glücklicherweise ist der separate Schalter für Reisende in der Business Class frei, und es dauert keine fünf Minuten, bis Sarah eingecheckt hat.

»Sie können gleich zum Gate gehen, Frau Fuchs«, erklärt die Mitarbeiterin mit einem Lächeln. »Das Boarding beginnt in einer Viertelstunde. Ich wünsche Ihnen einen angenehmen Flug nach Helsinki.«

Auf dem Weg zur Sicherheitskontrolle meint Sarah, aus dem Augenwinkel den Reporter wahrzunehmen. Es ist völlig klar, was er von ihr möchte, sollte er sie aufspüren: einen Kommentar zum neuen Liebesglück ihres Gatten. Und womöglich noch ein paar Fotos, wie sie in Tränen aufgelöst am Münchner Flughafen steht. Die verzweifelte Noch-Ehefrau, nach langen Ehejahren am Boden zerstört, weil ihr Mann sie für ein Schlagersternchen eingetauscht hat. Diesen Gefallen wird sie dem Presseheini selbstverständlich nicht tun. Unauffällig lässt Sarah sich in Richtung der Sicherheitsschleusen treiben, schließt sich auf dem Weg dorthin einer größeren Reisegruppe an und steuert dann im letzten Moment die kurze Wartereihe für priorisierte Kontrollen an. Ein paar Minuten später hat sie es geschafft. Die Sicherheitsschleuse und damit auch der Reporter liegen hinter ihr. Ein Anflug von Erleichterung macht sich in Sarah breit. Auf direktem Weg begibt sie sich zum Gate. Sie möchte nur noch weg aus München. Hier hat sie das Gefühl zu ersticken.

Als der Flieger abhebt, ist es wirklich ein Gefühl der Befreiung. Dennoch verharrt Sarah noch einige Zeit in sich zusammengesunken im Sitz. Schließlich linst sie verstohlen über den Rand ihrer verspiegelten Sonnenbrille, lugt den Gang auf und ab. Für einen Moment zögert sie, dann wickelt sie den Schal von ihrem Kopf, nimmt die Brille ab und schiebt sie in die Handtasche. Dort fischt sie sogleich nach dem Lippenstift und dem Spiegel. Ein Automatismus. Wenn sie aufgeregt ist, zieht sie immer ihre Lippen nach. Mit Cherry Topaz, ihrer Lieblingsfarbe. Andere Leute zünden sich eine Zigarette an, sie dreht am Lippenstift. Diesmal hält sie jedoch noch rechtzeitig inne. Eine weitere Farbschicht, und sie sähe aus wie ein grotesker Clown.

Sarah rutscht vom mittleren Sitz hinüber auf den Fensterplatz. Prüfend wirft sie der Frau, die auf der anderen Seite von Gang 3 ebenfalls allein in der Reihe sitzt und ihr vage bekannt vorkommt, einen Blick zu. Doch die aufgebrezelte, ondulierte Mitsechzigerin schenkt Sarah keine Beachtung. Konzentriert tippt sie auf ihrem Handy herum, dabei blitzt immer wieder ein wuchtiger Ring an ihrer Hand auf. Ein Panthère de Cartier, erkennt Sarah, nicht ohne eine Spur von Anerkennung. Der Klunker hat den Wert eines Kleinwagens.

Bestimmt heißt sie Petra, schießt es Sarah in den Kopf. Sie wirkt wie eine Petra, direkt der Münchner Schickeria entsprungen. Geld wie Heu, ständig irgendwo eingeladen, aber im Grunde von Einsamkeit zerfressen. Frauen wie sie hat Sarah über die Jahre zur Genüge kennengelernt. So viele, dass sie Angst hat, selbst eine von ihnen zu werden. Schnell dreht sie den Kopf zur anderen Seite.

Bei der Aussicht aus dem schmalen Flugzeugfenster stiehlt sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Ohne die dunklen Gläser vor den Augen leuchten der Himmel und die Ostsee um die Wette. Sarah beugt sich ein Stück vor, taucht ein in das unendliche Blau. Der Anblick beruhigt sie. Von hier oben wirken ihre Probleme so wunderbar nichtig. Wie es wohl wäre, für immer am Himmel zu kreisen? Vielleicht wäre alles leichter, wenn sie als Vogel geboren worden wäre. Als Möwe. Sie hätte sich einfach in die Lüfte geschwungen, die Flügel ausgebreitet und wäre dorthin geflogen, wo es ihr gefällt. Und hätte Udo zum Abschied auf den Kopf geschissen.

Aus den Augenwinkeln nimmt sie eine Bewegung wahr, die sie aufschauen lässt. Die Stewardess ist aus der Bordküche hervorgetreten, eine Sektflasche in der einen, ein Tablett mit halb gefüllten Gläsern in der anderen Hand. Entgegen ihrem ersten Impuls nickt Sarah, als die Frau ihr eines der Gläser anbietet. »Vielen Dank.«

Die Stewardess beendet ihre Runde durch die kaum besetzte Business Class schnell. Mit einem nahezu vollen Tablett zieht sie sich abermals in die Bordküche zurück. Sarah stellt sich mit einem Schmunzeln vor, wie die Frau dort den restlichen Sekt genüsslich allein austrinkt. Zurück in die Flasche füllen wird sie ihn wohl kaum.

Sarah nippt am Glas und stößt ein wohliges Seufzen aus, als das feine Perlen auf ihren Lippen kitzelt. Mit jeder Meile, die sie sich von München entfernt, gewöhnt sie sich mehr an den Gedanken, dass ihr Leben gerade dabei ist, sich grundlegend zu verändern. Die Würfel sind gefallen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich selbst aus dem Schlamassel ziehen muss. Gerade überlegt sie, ob sie nach der Stewardess klingeln soll, um sich das Glas auffüllen zu lassen, da dringt ein lautes Schmatzen an ihr Ohr. Verwundert dreht sie den Kopf. Für einen Schlag setzt ihr Herz aus.

Auf Sitz 3A hat Petra jene Illustrierte hervorgezogen, die Neues Liebesglück für Ramona verspricht. Mit einem schmatzenden Geräusch leckt Petra ihren Zeigefinger an, bevor sie die nächste Seite umschlägt und sich in die Klatschspalten vertieft.

Hastig kramt Sarah in ihrer Handtasche. Mit zitternden Fingern klappt sie ihre Sonnenbrille auseinander und schiebt sie auf die Nase. Nervös schielt sie zu ihrer Nachbarin hinüber, deren Zunge abermals hervorschnellt, um schwungvoll den Zeigefinger anzulecken.

Lecken. Blättern. Lecken. Blättern.

Petra beugt den Kopf nach vorne, in die Illustrierte hinein. Ihr Blick springt von den Fotos, die auf der Doppelseite abgebildet sind, zu den Bildunterschriften, von dort zum Textblock und dann wieder zurück auf die Fotos. Dann stockt sie. Ruckartig fährt ihr Kopf herum, und sie blinzelt Sarah an. »Das sind ja Sie!«, ruft sie überrascht aus und hält Sarah die Fotostrecke entgegen. Der Panther-Ring funkelt angriffslustig. »Sie sind Sarah Fuchs! Ihr Mann hat Sie für diese Sängerin sitzenlassen!«

Wie paralysiert starrt Sarah in Petras weit aufgerissene Augen, in denen eine Mischung aus Sensationsgier und Häme blitzt, und ignoriert die ihr entgegengestreckte Zeitschrift.

»Das sind doch Sie?«, fragt Petra mit Aufregung in der Stimme. Ihre Augen sind nun zu schmalen Schlitzen zusammengepresst, aus denen sie Sarah wie ein Raubvogel taxiert. »Nehmen Sie doch mal die Sonnenbrille ab!«

Ruckartig erwacht Sarah aus ihrer Starre und räuspert sich. »Minä en ymmärrä teitä«, quetscht sie hervor. Ich verstehe Sie nicht.

»Wie bitte?« Petra blinzelt, schaut auf die Fotos, dann wieder zu Sarah. Sie öffnet den Mund, schließt ihn jedoch stumm wieder.

Erleichtert, dass sie der Frau fürs Erste den Wind aus den Segeln genommen hat, durchkämmt Sarah ihr Gedächtnis nach einem weiteren Satz, den sie Petra entgegenschleudern kann. Irgendetwas Belangloses, damit die Frau sie für eine Finnin und eben nicht für Sarah Fuchs, die in einem Linienflug aus München flüchtet, hält. Warum fällt ihr gerade jetzt nichts Passendes ein? Was kann sie …? Verdammt! »Kissa on teeveen ääressä«, stößt sie schließlich aus.

Petra presst ihre Lippen aufeinander, sichtlich unschlüssig, wie sie reagieren soll. Hilfe suchend sieht sie sich um, doch niemand der übrigen Passagiere verfolgt das Gespräch der Frauen in Reihe 3.

Die Katze ist vor dem Fernseher. Am liebsten würde Sarah sich selbst ohrfeigen. Ihr ist einzig dieser dämliche Satz in den Sinn gekommen. Glücklicherweise versteht Petra augenscheinlich kein Wort von dem, was Sarah da von sich gibt. Sie wird die Frau einfach totreden, bis sie von ihr ablässt. Oder bis sie in Helsinki landen. »Kissa menee pöydän alle.« Die Katze geht unter den Tisch. Über Wochen hat Sprachlehrer Torben Sarah mit endlosen Katzenbildern, die sie beschreiben musste, gequält. Es ist unvorstellbar, wo Katzen überall hingelangen können.

Petra runzelt die Stirn. In ihren Augen blitzt Verunsicherung auf. Die Illustrierte baumelt schlaff in ihrer Hand.

»Kissa on kukkien keskellä.« Die Katze ist zwischen den Blumen. Sarah wirft Petra ein entschuldigendes Lächeln zu. So, als verstehe sie nicht, was die Mitreisende überhaupt von ihr will. Nun, da sie die Frau erfolgreich auf den Holzweg führt, gewinnt Sarah fast schon Gefallen an der Situation.

Ein weiteres Mal gleicht Petra die Fotos der Zeitschrift mit Sarahs Erscheinung ab, dann verzieht sie beleidigt die Mundwinkel. Zwinkernd versucht sie, durch Sarahs verspiegelte Brillengläser zu stieren.

Sarah holt zum Todesstoß aus. »Kissa hyppää pois television päältä.« Sie schickt ein nachdrückliches Nicken hinterher. Die Katze springt vom Fernseher. »Kissalla on nälkä ja se menee keittiöön.« Die Katze hat Hunger und geht in die Küche.

»Ich … äh …« Petra schüttelt den Kopf, dann hebt sie die Zeitschrift ruckartig vor ihr Gesicht.

Lecken. Kopfschütteln. Lecken. Blättern.

Als der kaum besetzte Airbus A320 keine Stunde später in Helsinki-Vantaa am Terminal ankommt und sich die Flugzeugtür geöffnet hat, stürmt Petra aus dem Flieger, ohne sich noch einmal nach Sarah umzudrehen. Die Illustrierte lässt sie achtlos auf ihrem Sitzplatz zurück.

Das Schmutzblatt wird im Abfall landen, wo es hingehört, denkt Sarah mit einer leisen Genugtuung, während sie in ihren leichten Mantel schlüpft. An der Tür nickt sie der Stewardess zum Abschied zu.

»Sie haben aber eine sehr umtriebige Katze«, sagt die Stewardess auf Englisch und zwinkert Sarah vergnügt zu. »Willkommen in Helsinki.«

Mit rotem Kopf stöckelt Sarah aus dem Flugzeug. Sie ist sich sicher, Alkohol im Atem der Stewardess gerochen zu haben.