Fünftes Kapitel

FÜNFTES KAPITEL

Onni faltet das dunkle Hemd zusammen und steckt es in seinen Rucksack. Er hält inne, zieht das Hemd wieder hervor und schüttelt es sorgsam aus. Dann faltet er es abermals, besieht sich das Ergebnis von allen Seiten und schiebt das rechteckige Stoffbündel auf seinen Handflächen in den Rucksack, nicht unähnlich einem Pizzabäcker, der seine Pizza in den glühend heißen Ofen hebt. Eilig zurrt er den Verschluss des Rucksacks zu. Bliebe er zu lange offen, bestünde die Gefahr, dass Onni das Hemd ein drittes Mal zusammenlegen müsste.

»Schon fertig für heute?« Ritwa öffnet einen Spind und hängt ihre Jacke hinein. »Ich beneide dich, Onni. Hättest du nicht eigentlich bis zum Nachmittag Dienst gehabt?«

»Es ist nicht viel los. Ich habe Frau Wirtanen gefragt, ob ich deshalb früher gehen darf. Sie meinte, das ginge okay, da du noch kommen würdest.«

»Ihr hättet mich auch anrufen können, dann wäre ich zu Hause geblieben.« Ritwa gibt der Tür einen Stoß, sodass der Spind mit einem lauten Geräusch zuschlägt. »Aber an mich denkt ja niemand.«

Onni kann nicht sagen, ob Ritwa einen Scherz macht oder ob sie es ernst mit ihrer Anklage meint. Er ist nicht gut in diesen Dingen. Kaisa, seine Mutter, sagte schon früher, das soziale Miteinander sei für ihn wie eine Fremdsprache, die er nur mäßig beherrsche. Vielleicht gefällt ihm sein Job im Museum deshalb so gut. Er hat lediglich sicherzustellen, dass keiner der Besucher den Bildern und Skulpturen zu nahe kommt. Meist kreisen seine Gedanken sowieso um die Doktorarbeit, an der er schreibt. An den Schreibtisch zieht es ihn auch jetzt, deshalb hat er Frau Wirtanen gefragt, ob er früher gehen könne.

»Genieß deinen freien Nachmittag«, sagt Ritwa. Sie zwinkert ihm im Vorbeigehen zu.

Er schultert den Rucksack und verlässt das Museum. Ritwa hat zum Abschied doch recht freundlich gewirkt, findet er. Dann wird sie nicht wirklich enttäuscht darüber gewesen sein, dass er den Nachmittag frei hat, wohingegen sie arbeiten muss. Das erleichtert ihn, er möchte nämlich keinen Streit mit ihr. Vor einem Jahr, als er den Job im Museum anfing, war Ritwa für ein paar Wochen nicht gut auf ihn zu sprechen. Mehrmals wollte sie sich mit ihm verabreden, lud ihn sogar zu sich nach Hause ein. Dass er die Treffen allesamt ausschlug, nahm sie ihm richtig übel. Er sei ein komischer Kauz, ein richtiger Nerd, hat sie ihn damals angefahren. Doch das ist längst wieder vergessen. Hofft er zumindest.

Gedankenverloren rückt er an seiner Nickelbrille, während er die Aleksanterinkatu überquert. Auf der anderen Straßenseite bleibt er stehen und schiebt den Rucksack, den er nur über einer Schulter trägt, zurecht. In einer nahen Schaufensterscheibe erblickt er sein Spiegelbild und tritt einen Schritt darauf zu. Missmutig mustert er seine große, schlaksige Statur. Die langen Gliedmaßen versucht er vergeblich unter einem viel zu weiten Pullover zu verstecken. Es ist endlich an der Zeit, dass er in ein Fitnessstudio geht, um Muskeln aufzubauen, sagt er sich. Doch er weiß genau, dass es bei dem Vorsatz bleiben wird. Wie schon so oft.

Im Kiosk an der Ecke zur Vuorimiehenkatu greift Onni einen abgepackten Hirsesalat aus dem Kühlregal. Während er an der Kasse ansteht, studiert er das Titelblatt des heutigen Helsingin Sanomat. Der Aufmacher ist ein Artikel über den Einbruch bei einem der reichsten Finnen, Taavi Romu. Der Zweiundachtzigjährige soll in seiner Villa nahe Helsinki überfallen worden sein, ohne dass jedoch etwas geraubt wurde. Ungläubig schüttelt Onni den Kopf. Er hat Romu einmal von Weitem bei einer Veranstaltung im Museum gesehen. Der Multimillionär gehört zu den wichtigsten Förderern der staatlichen Sammlung. Zum Glück ist dem Mann anscheinend nichts geschehen.

Vom Kiosk bis zu seiner Wohnung sind es nur ein paar Gehminuten. Würden seine Eltern, die in Turku leben, ihn nicht finanziell unterstützen, könnte Onni sich eine Unterkunft in dieser Gegend nicht leisten. Der Teilzeitjob im Museum wirft gerade so viel ab, dass es für die täglichen Ausgaben reicht. Doch seine Eltern, beide Akademiker in gut bezahlten Positionen, bestehen darauf, dass ihr Sohn ein angenehmes Leben führt, während er an einer wissenschaftlichen Arbeit über den Stellenwert von vorchristlichen Religionen in der altfinnischen Geschichte schreibt. Sein Vater überweist ihm sogar jeden Monat mehr als die Mietkosten. Die unbestreitbaren Vorzüge eines Daseins als Einzelkind.

Den Salat stellt er in den Kühlschrank, prüft dreimal, ob die Kühlschranktür auch wirklich geschlossen ist, dann füllt er ein Glas mit Leitungswasser und setzt sich auf das Sofa. Vor ihm auf dem Tisch liegt ein gutes Dutzend Bücher neben seinem Laptop. Er starrt auf den Bücherstapel, weiß, dass er dringend weiterarbeiten muss. Am Nachmittag hat er den Termin bei Max Bengtsson, seinem Doktorvater. Er mag den Professor sehr, doch er wird ihm beichten müssen, dass er mit seiner Arbeit schon seit einiger Zeit nicht weiterkommt. Davor graut es ihm.

Halbherzig blättert Onni in einem der Bücher, dann klappt er den Laptop auf, nur um ihn sogleich wieder zu schließen. Wem soll er etwas vormachen?, fragt er sich. Auch jetzt wird er die Blockade nicht lösen können. Vielleicht hilft ihm das Gespräch mit Max weiter, doch im Moment vertrödelt er nur seine Zeit.

Plötzlich wirkt die Wohnung erdrückend. Onni springt vom Sofa auf, schnappt sich seine Geldbörse aus dem Rucksack und hechtet durchs Treppenhaus nach draußen. Er braucht dringend frische Luft und Bewegung. Ohne ein konkretes Ziel vor Augen wandert er durch das Viertel, wobei ihm jetzt, am frühen Nachmittag, nur wenige Passanten begegnen.

Sein Kopf schmerzt. Wie ein Schmetterlingsschwarm flattern die Gedanken wild durcheinander. Immer wieder ermahnt Onni sich, nicht an das bevorstehende Treffen mit Max zu denken. Er darf sich nicht verrückt machen, sonst kommt er gar nicht mehr weiter. Er wusste sogleich, dass dies kein guter Tag werden würde, als das Schiff ausblieb.

Als es ihm endlich gelingt, die schweren Gedanken abzuschütteln, und er erleichtert den Blick hebt, schaut er auf den Eingang des Black Swan. »Wirklich?«, stößt er überrascht aus. Ausgerechnet hierhin hat es ihn verschlagen? Schnell will er weitergehen, aber dann schaut er doch kurz in der Bar vorbei. Der Laden ist fast leer. Lediglich eine Handvoll Leute sitzen drinnen an den Tischen. Es wird sich wahrscheinlich erst später füllen, wenn die Büros und Geschäfte schließen. Mit gesenktem Kopf steuert er die Theke an und setzt sich auf einen Hocker.

»Hi«, grüßt der Barkeeper, ein braun gebrannter Mittdreißiger mit blonden Haaren, die er zu einem Zopf zusammengebunden hat. »Was darf’s sein?«

»Ein Bier, irgendeins«, antwortet Onni. Nervös schiebt er die Ärmel seines Pullovers hoch und wieder herunter. Wenn er sich doch nur erinnern könnte! Als der Barkeeper eine Flasche vor ihm abstellt, ergreift Onni sie eilig und nimmt einen tiefen Schluck. Dabei sieht er sich in dem kleinen Raum um. Ein paar Jungs in seinem Alter unterhalten sich lachend an einem Tisch, ansonsten sitzen noch zwei ältere Männer in entgegengesetzten Ecken des Raums und starren in ihre Gläser. Nein, er erinnert sich nicht.

Am Abend, vermutet er, wird man sich im Black Swan nicht mehr um die eigene Achse drehen können, ohne jemandem auf die Füße zu treten. Gerappelt voll wird der Laden sein, ohrenbetäubend laut. Auch in den unteren Räumen, die erst am späten Abend geöffnet werden. Das hat er irgendwo gehört. Irgendwoher weiß er es. Mit dem Handrücken wischt sich Onni eine Schweißperle von der Stirn. Warum nur kann er sich nicht erinnern?

»Hallo, Onni«, ertönt eine Stimme. »Das ist eine Überraschung.«

Er fährt auf dem Hocker herum, wobei er beinahe seine Bierflasche vom Tresen fegt. »Swen«, stößt er aus. Er hat ihn nicht hereinkommen sehen.

Swen nestelt am Bund seiner Baggy-Jeans, dann tippt er an den Schirm seiner Baseballkappe. »Okay, wenn ich mich setze?« Ohne eine Antwort abzuwarten, zieht Swen einen Hocker zu sich heran. »Das Gleiche.« Er nickt in Richtung des Barkeepers und deutet auf Onnis Bierflasche.

Der Mann hinter der Theke zieht in einer einzigen flüssigen Bewegung eine Flasche aus einer Schublade hervor, entfernt den Kronkorken und stellt das Bier vor Swen ab. Das Ganze hat keine fünf Sekunden gedauert.

»Was macht die Kunst?« Swen untermalt die Frage mit einem breiten Grinsen.

Onni nimmt einen Schluck aus seiner Flasche. Was macht die Kunst? Ein flaches Wortspiel, schließlich haben Swen und er sich im Kunstmuseum kennengelernt. Dort waren sie Kollegen, wenngleich nur für eine kurze Zeit. Denn Swen hat bereits nach zwei Wochen wieder gehen müssen, da Frau Wirtanen ihn beim Klauen erwischte. Toilettenpapier aus den Besucherklos, im großen Stil. »Gut geht’s.«

»Cool, Junge. Das ist dope. Ich habe gestern noch an dich denken müssen.« Er zwinkert Onni zu.

»Ach?«

»Wegen dem Zeugs, mit dem du dich für deine Doktorarbeit beschäftigst. Diesem alten Krempel. Musste ich gestern dran denken, wie gesagt.« Er führt die Bierflasche an die Lippen und nimmt einen tiefen Zug, ohne Onni aus den Augen zu lassen.

»Du hast wegen meiner Doktorarbeit an mich gedacht?«

Swen nickt. »Ich mache im Moment guten Zaster mit Botengängen, weißt du. Und manchmal bin ich neugierig, was mich meine Auftraggeber so durchs Land fahren lassen. Eigentlich ist es immer das gleiche Zeug.« Demonstrativ zieht er die Nase hoch. »Aber gestern war es was ganz anderes. So etwas Altes. Wie du es mir mal im Museum gezeigt hast, als du von deiner Doktorarbeit gelabert hast. Was Uraltes halt. In etwa so hoch wie eine Weinflasche.«

»Okay.« Onni hat keinen blassen Schimmer, worauf Swen hinauswill. Er erinnert sich nicht, überhaupt mit ihm über seine Forschungsarbeit gesprochen zu haben. Wenn es während ihrer gemeinsamen Zeit im Museum war, dann ist es jedenfalls bereits Monate her.

»Stell dir vor, das Ding gestern war in Klopapier eingewickelt. Witzig, oder? Klopapier!«

»Klopapier?«, wiederholt Onni. Das birgt eine gewisse Ironie.

»Ja, genau. Ich habe die Lieferung vorsichtig ausgewickelt und mir genau angeguckt. War so ein altes, hässliches Ding. Echt krass. Du weißt, was ich meine, Junge.«

Er weiß nicht, was Swen meint, und eigentlich interessiert es ihn auch nicht. Plötzlich muss er wieder an seinen wichtigen Gesprächstermin mit dem Professor denken. Es war ein Fehler, hierher in die Bar zu kommen, schießt es ihm in den Kopf. Er hätte zumindest versuchen müssen, weiterzuschreiben.

»Gestern musste ich an dich denken, heute bist du hier«, erklärt Swen und legt eine Hand auf Onnis rechten Oberschenkel.

Er zuckt zusammen und schiebt Swens Hand zur Seite.

Swen lacht auf. »Junge, du brauchst jetzt keinen auf Klosterschüler zu machen. Echt nicht. Beim letzten Mal warst du weit davon entfernt.«

»Wie meinst du das?« Onnis Stimme ist ein Krächzen.

Grinsend zieht Swen einen Stift aus seiner Jeans und setzt ihn an ein Nasenloch. Er tut so, als zöge er auf dem Tresen eine Line.

»I-ich … also …«, stottert Onni.

Swen kneift die Augen zusammen und starrt Onni für einen langen Moment an, dann seufzt er, dreht den Stift auf und beginnt, auf einem Bierdeckel herumzukritzeln. »Echt jetzt, Onni? Du weißt es nicht mehr?« Er unterbricht das Malen und blickt auf. In seinen Augen liegt etwas Abwägendes.

Onni schüttelt den Kopf. Ein Fragment klopft an sein Gedächtnis, doch er bekommt es nicht zu fassen.

»Alter, du warst zugedröhnt wie eine Haubitze. Alkohol. Koks. Wer weiß, was noch.« Swen setzt das Kritzeln konzentriert fort, als wäre es ihm nun unangenehm, Onni direkt in die Augen zu schauen. »Du bist voll abgegangen, hast da unten mit ein paar Typen rumgemacht.« Er deutet auf die Treppe, die zu den unteren Räumen führt. »Du warst wie ausgewechselt, hätte ich dir nie zugetraut.«

Ihm wird schwindelig. Was behauptet Swen da? Das ist nicht wahr! Warum kann er sich nicht erinnern? Das Einzige, was er noch weiß, ist, dass er vor zwei Wochen eines Morgens wie gerädert in seiner Wohnung aufgewacht ist, nachdem er abends erstmals in den Black Swan gegangen war. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als wäre eine Dampfwalze darüber gerollt. Er erinnert sich, die Bar betreten zu haben, und er erinnert sich an das Aufwachen am nächsten Morgen. Doch dazwischen klafft in seinem Kopf eine riesige Lücke. Hat er sich hier betrunken zum Affen gemacht? Ganz sicher hat er keine Drogen genommen, da muss Swen sich irren. Außerdem: Warum sollte er jemandem, der Klorollen stiehlt, überhaupt Glauben schenken? »Das kann nicht sein«, stößt er heiser aus.

Kopfschüttelnd steckt Swen den Stift zurück in seine Hosentasche und steht auf. Er bezahlt sein Bier, dann klopft er Onni auf die Schulter. »Pass zukünftig besser auf, was du so nimmst, Junge.« Knapp nickt er dem Barkeeper zu, richtet die Baseballkappe und verlässt die Bar.

Für einige lange Minuten sitzt Onni völlig bewegungslos auf dem Barhocker. Sein Gehirn arbeitet auf Hochtouren, doch es findet keine Antworten auf die Fragen, die in ihm kreisen. Also macht er das, was er immer tut, wenn er mit etwas nicht klarkommt. Er stellt sich ein Zimmer vor, in das er die unangenehme Sache hineinschiebt, dann zieht er die Tür zu. Sie besitzt kein Schloss. Sobald sie zufällt, gibt es keinen Weg mehr in das Zimmer hinein. Oder aus ihm heraus. Und er kann weitermachen mit seinem Leben.

Onni stößt einen Seufzer aus und zuckt mit den Schultern. Er muss sich auf das konzentrieren, was im Moment wirklich wichtig ist. Nachher erwartet Max von ihm eine weit fortgeschrittene Arbeit. Die er nicht vorweisen kann. Zu Hause sollte er sich gleich doch noch einmal an die Bücher setzen, ermahnt er sich und legt einen Geldschein neben seine Bierflasche. Vielleicht kommt ihm eine Erleuchtung, wie es mit dem Forschungsprojekt weitergehen kann.

Gerade will Onni sich vom Tresen wegdrehen, da stockt er. Verblüfft greift er nach dem Bierdeckel, auf dem Swen herumgekritzelt hat. »Was zum …«, stößt er atemlos hervor. Wie vom Blitz getroffen starrt er auf die Zeichnung. Das kann nicht sein!, hallt es in seinem Kopf. Das ist nicht möglich! Er muss sich am Hocker festhalten, derart überwältigt ist er von dem, was seine Augen sehen. »Grundgütiger Gott«, haucht er. Dann stößt er sich vom Hocker ab und torkelt wie in Trance aus der Bar. Der Bierdeckel brennt in seinen Handflächen wie flüssiges Feuer.