Vorwort

Über dem Europa des Jahres 1919 liegen Hunger und eine tiefe Erschöpfung – sowohl auf Seiten der Sieger als auch der Besiegten. Der Habsburger Völkerstaat ist in seine Bestandteile aufgespalten, und Deutschland als dem größten Verlierer des Weltkriegs wird ein Friedensvertrag diktiert, der die Menschen quer durchs Land in Zorn und Depressionen versetzt. Aus dem Osten droht der Bolschewismus, im Westen halten die Siegermächte deutsche Gebiete besetzt.

Wie soll das weitergehen? Niemand will die Verantwortung für diesen Krieg übernehmen – am wenigsten jene, die ihn zu verantworten haben. Die SPD springt in die Bresche; nun lastet alles auf ihren Schultern. Doch kaum ist der Waffenstillstand da, trommelt Linksaußen zum Bürgerkrieg, als sei es der seelischen Verheerung noch nicht genug. In den Wochen vor ihrer Ermordung wird die plötzlich zur Demokratie tendierende Rosa Luxemburg von ihren heißblütigen Genossen behandelt wie eine alte Tante.

Und wie verläuft der Umbruch vom Krieg in den Frieden bei den Heimkehrern? Um das zu erspüren, kehren wir noch einmal auf die Schlachtfelder zurück, lassen Otto Dix und Oskar Kokoschka vom Inferno berichten, Ernst Toller und Otto Griebel. War alles unausweichlich, was da geschah? Mit dem Blick aus dem 21. Jahrhundert erkennen wir Momente, über die wir schaudernd sagen können: Es gab sie doch auch vor hundert Jahren! Es gab Pazifisten und mitten im Krieg die streng untersagte Verbrüderung an der Front – das deutsch-englische Weihnachtsliedersingen im Schützengraben, das Fußballspiel der Kriegsgegner im Niemandsland. Den Maschinenbaustudenten der Technischen Hochschule Dresden Max Immelmann holen wir aus dem Vergessen, der als Fliegerleutnant abstürzte und dem britische Piloten unmittelbar danach als Zeichen der großen Anerkennung seiner Fairness einen Kranz an der Frontlinie abwarfen.

Ein Europa der Verständigung blitzt auf, das 1919, nach dem Ende des Großen Krieges, in sehr weiter Ferne liegt …

Doch da gibt es noch eine zweite Linie: Kaum wahrgenommen in der Welt des patriotischen Rauschens macht sich eine Generation starker Frauen auf den Weg, um ein gesamtdeutsches Frauenwahlrecht zu erkämpfen – an ihrer Spitze die Schauspielerin Marie Stritt. Sie agieren aus der bürgerlichen Mitte heraus, ohne aggressive Ausfälle gegen das männliche Geschlecht. Sie bekommen großen Zulauf und sind auf Anhieb erfolgreich, wie die Wahlen zur Nationalversammlung zeigen.

Vieles von dem, was nach Kriegsende geschieht, läuft in Dresden zusammen. Und hier ist einiges anders als in München oder Berlin, die Revolution verläuft fast friedlich, die Ausrufung des Freistaates ebenfalls. Zwar hat das Militär Mühe, vom König auf die Sozialdemokraten umzuschwenken; die aber, unter Führung des Juristen und früheren Journalisten Georg Gradnauer, sind zur Verständigung bereit, zum gemeinsamen Blick nach vorn. So geht 1919 auch hier die größte Aggression von Linksradikalen aus: Sie zielen auf eine Revolution nach russischem Vorbild und haben vor allem die gemäßigte SPD im Visier. Deren Minister Gustav Neuring wird auf die Augustusbrücke gezerrt, dort unter Johlen in die Elbe gestoßen, sein Kopf zur Zielscheibe, bis er versinkt … Doch wer steckt hinter diesem Mord? Sind wir wirklich schon alle DDR-Geschichtslügen los?

Die Stimmungen in den Metropolen der anbrechenden Weimarer Republik sind sehr unterschiedlich. Und ohne den vergleichenden Blick nach München, Berlin oder Köln ließe sich die Umbruchzeit im Elbetal des Jahres 1919 nicht beschreiben. Wieso sind die Freikorps hier nicht so brutal wie im Ruhrgebiet oder in Bayern? Ist das vorübergehend?

In jeder Großstadt herrscht eine andere Temperatur. Die in der Reichshauptstadt Berlin umreißt der Dadaist George Grosz im Nachhinein giftig:

»An allen Ecken standen Redner. Überall erschollen Haßgesänge. Alle wurden gehaßt: die Juden, die Kapitalisten, die Junker, die Kommunisten, das Militär, die Hausbesitzer, die Arbeiter, die Arbeitslosen, die Schwarze Reichswehr, die Kontrollkommissionen, die Politiker, die Warenhäuser und nochmals die Juden. Es war eine Orgie der Verhetzung, und die Republik war schwach, kaum wahrnehmbar. Das mußte mit einem furchtbaren Krach enden …«

Das gilt für Berlin, doch gilt das auch für Dresden – die Stadt von Karl May, die »Vornehmste, schönstgelegene Kunst- und Fremden-Stadt Deutschlands«, wie es 1919 in ihrer Werbung heißt?

Jeder versucht, sich neu zu finden, und Bettler prägen die Stadt ebenso wie eine pulsierende Künstlerszene. Kriegsheimkehrer wie Otto Dix und Oskar Kokoschka malen sich ihre Traumata von der Seele. Und während Dix den Gewinn seiner Bilder gern ins Bordell trägt, sehnt sich Kokoschka nach zärtlichen Mädchenhänden. Erich Kästner zieht es weg aus Dresden, Victor Klemperer gerade jetzt hierher.

Dresden wird zum Zentrum der Reformpädagogik. Und nirgendwo gründen sich 1919 so viele Vereine wie in der sächsischen Hauptstadt – Christen und Juden, Mädchen und Jungen, Kommunisten und Nationalisten. Alle wollen die Welt verändern – und dabei auch wandern. Die Sächsische Schweiz liegt gleich nebenan. Je mehr das erste Friedensjahr ins Land zieht, desto leidenschaftlicher wird getanzt …

Um die Atmosphäre von damals hundert Jahre später zu erspüren, brauchen wir Informationen aus erster Hand: Wir lesen in den Tagebüchern von Käthe Kollwitz und Victor Klemperer, in den Erinnerungen von Erich Kästner und Ernst Toller, Oskar Kokoschka und Marie Stritt.

Wie kommen die ersten Frauen in der Politik zurande, wie die Kriegsversehrten über die Runden? Die Jüdin Johanna Lindemann, die ein dramatisches Schicksal erwartet, kommt als Zwölfjährige zu Wort: Beeindruckend schildert sie, was Kinderarmut in der Kriegs- und Nachkriegszeit bedeutete.

Deutschland kommt nicht zur Ruhe. 1920 wird die junge Republik vom Kapp-Putsch erschüttert – viele Männer finden sich jetzt nicht mehr im Schützengraben wieder, sondern im Straßengraben und auf der Barrikade. Ostern 1920 wird auch Dresden vom Putsch heimgesucht: Freiwilligenverbände und rechtsradikale Einwohnerwehren unterstützen ihn, dazu Teile der Reichswehr. Auf der anderen Seite bilden sich Arbeiterräte und Aktionsausschüsse, die den Widerstand gegen die Putschisten organisieren. Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, Linksradikale zum bewaffneten Kampf …

In der Stadt toben schon bald bürgerkriegsähnliche Zustände: Geschossen wird im Zwinger, am Theaterplatz, unter der Brühlschen Terrasse. Als die Kämpfe abgeflaut sind, bleiben 59 Tote und 200 Verwundete zurück.

Auch die Kunst kommt nicht ungeschoren davon: Im Zwinger hat eine verirrte Kugel das Fenster der Gemäldegalerie durchschlagen und sich Rubens’ »Bathseba im Bade« in den Kopf gebohrt! Oskar Kokoschka ist fassungslos. Wutschnaubend läuft der sonst so sanfte Professor am darauffolgenden Tag durch die Gänge der Akademie. Er verfasst ein Plakat, das er mit studentischen Anhängern druckt. Darin richtet er sich – bezugnehmend auf die durchbohrte »Bathseba« –

»an alle, die hier in Zukunft vorhaben, ihre politischen Theorien, gleichviel ob links-, rechts- oder mittelradikale, mit dem Schießprügel zu argumentieren, die flehendlichste Bitte, solche geplanten kriegerischen Übungen nicht mehr vor der Gemäldegalerie des Zwingers, sondern etwa auf den Schießplätzen der Heide abhalten zu wollen, wo menschliche Kultur nicht in Gefahr kommt …«

Das Plakat prangt am nächsten Tag in allen Dresdner Zeitungen. Und es löst einen so bösartigen »dadaistischen« Kommentar seiner Berliner Kollegen um George Grosz aus, dass der sensible österreichische Maler beschließt, Deutschland zu verlassen.