Frauen

Als mit dem Jahr 1919 eine neue Epoche anbricht, wird zu einer ihrer kräftigsten Zugnummern das erstmalige Wahlrecht für Frauen. Wie viele Jahrzehnte hat die weibliche Bevölkerung darum gerungen? Wohl ein halbes Jahrhundert. Doch haben die Frauen es auf eine gewaltfreie und charmante Art getan, die sich leider nicht auf die Denkungsart der Krieger übertrug. Sie haben den Boden für eine bessere Gesellschaft bereitet.

Wann genau ging das los, dass Deutschlands Frauen sich in ihre eigenen Angelegenheiten öffentlich einzumischen begannen? Wann und wo fanden sie sich erstmals zusammen, um ihre Stimme zu erheben und für Demokratie und Frauenrechte zu streiten? Leipzig ist nicht nur die Heldenstadt vom Oktober 1989 – sie ist bereits im Oktober 1865 die Stadt der Heldinnen: Rund 120 Frauen und auch einige Männer aus verschiedenen deutschen Staaten versammeln sich in Leipzig, um einen Frauenverein ins Leben zu rufen, der sich in ganz Deutschland ausbreiten soll. Ein Vorläufertreffen gab es bereits in Erfurt, doch nun geht es richtig los. Zwei Tage voller Vorträge, Debatten und fröhlichem Miteinander – und der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins.

Es ist die Geburtsstunde der deutschen Frauenbewegung. Initiatorin und auch Seele des Vereins ist die Schriftstellerin Dr. Louise Otto-Peters, die schon in der Revolutionszeit 1848 für die Gleichberechtigung der Frauen auf die Barrikaden ging. Dort machte sie ihre erste schmerzhafte Erfahrung mit den Revolutionären: »Wo sie das Volk meinen, da zählen die Frauen nicht mit.« Und noch immer lähmen Gesetze wie:

»Politischen Vereinen ist die Aufnahme von Frauenpersonen verboten. Auch dürfen solche Personen nicht an Versammlungen teilnehmen, bei denen politische Gegenstände verhandelt werden.«

»Solche Personen« machen die Hälfte der Bevölkerung aus. Verboten wurde nach 1848 für Frauen auch, Redakteurin einer Zeitung zu sein. Louise Otto-Peters musste also ihre »Frauen-Zeitung« aufgeben, deren erklärte Aufgabe es war, »wenigstens mit den Ketten zu klirren, die man nicht lösen kann«.

Nicht nur für sie ist die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins nun ein neuer Aufbruch im Geist der Revolution von 1848. Die versammelten Frauen sind hoch motiviert. Politische Rechte darf der Verein nicht fordern. Auch deshalb wollen sich die Frauen zunächst auf Bildung und Berufsarbeit konzentrieren. Ist die Frauenarmut nicht erschreckend hoch? Und ebenso die Arbeitslosigkeit? Den Schlüssel zur Lösung dieser schwerwiegenden Probleme sehen die Gründerinnen zuallererst in der Bildung.

Die Frauen um Louise Otto-Peters denken von Beginn an über ihr eigenes Umfeld hinaus. Obgleich es sich um einen bürgerlichen Frauenverein handelt, werden sie auch für die Arbeiterinnen kämpfen – für deren Berufsausbildung und für gleiche Löhne. Der Bruch scheint ihnen eher einer zwischen Mann und Frau zu sein als einer zwischen Bürgertum und Arbeiterklasse – sie sprechen die Arbeiterinnen von Frau zu Frau an.

Mitte des 19.Jahrhunderts bricht die Stunde der landesweit organisierten Frauen an. Unauffällig zunächst, oft auch noch belächelt oder verhöhnt, werden Frauenthemen Teil der gesellschaftlichen Debatte, was bereits etlichen Frauen in Not hilft. Mehrere Gründungen gibt es allein in Sachsen, zunächst noch in kleinerem Umfang. In Dresden existiert unter der Protektion der sächsischen Königin schon bald ein Frauenverein, der ein Asyl für taubstumme Mädchen betreibt. Und unter dem Motto »Arbeiten ist keine Schande, nicht arbeiten wollen aber bringt Schande« wird von engagierten Frauen ein Vorläufer des späteren Arbeitsamtes gegründet, der fast ebenso viele Frauen wie Männer vermittelt: Frauen suchen und finden über diesen Anlaufpunkt Arbeit als Lehrerin für Sprachen, Schreiben, Rechnen und Zeichnen oder als Kinderfrau, bei der Krankenpflege, im Büro, als Botenfrau, Aufwärterin, Wäscherin oder als Markthelferin, Scheuerfrau, als Näherin oder Strickerin …

Die Dresdner Diakonissenanstalt vermittelt ihrerseits vor allem Arbeit in der Krankenpflege. Zur Geborgenheit in einer Gemeinschaft kommt die spirituelle Erfüllung. Das Konzept der Frauen spricht sich schon bald herum: Als der Patientenzulauf wächst und damit der Erfolg, nehmen Männer der Diakonie den Frauen die Leitungsarbeit aus der Hand und setzen sich selbst an die Spitze. Einige der Gründerinnen verlassen unter Protest den Verein, andere fügen sich.

Viel Frauenpower zeigt sich bereits im späten 19. Jahrhundert: Bertha von Marenholtz-Bülow gründet um 1870 in Dresden Volkskindergärten sowie ein Seminar und eine Pension für Kindergärtnerinnen, dazu gleich noch eine Fröbelstiftung. Der Enthusiasmus steckt an: Schon bald ist die Gründungswelle der christlich-konservativen und vaterländischen Frauenvereine nicht mehr zu überblicken, hat fast jede Kirchgemeinde ihren Jungfrauen- und Großmütterchenverein. Ein Vincentius-Verein für katholische Arme entsteht, der sich besonders der Erziehung verwahrloster Kinder widmet. 1865 folgt der Dresdner Verein der Heiligen Elisabeth. Die Krankenpflegeausbildung nimmt schon in kurzer Zeit einen breiten Raum ein. Auch die sächsische Königin Carola geht mit gutem Beispiel voran und engagiert sich bei der Gründung gleich mehrerer Vereine: einen zur Vermittlung weiblicher Heimarbeit, einen für außerhäusige Arbeiterinnen und einen speziellen Frauenverein für die nahe der Stadt Dresden gelegenen Ortschaften.

Der neue Frauenberuf der Verkäuferin entwickelt sich, zu dieser Zeit noch »Handlungsgehilfin« genannt: Mit Unterstützung sozial interessierter Frauen aus dem Bürgertum schließen sich 1868 Mädchen und Frauen zu einem bereits gewerkschaftsähnlichen Verein der Handlungsgehilfinnen für Dresden und Umgebung zusammen. Der Verein wird eine große praktische Hilfe für Frauen, er bietet ihnen Stellenvermittlung, Stellenlosenunter­stützung sowie Förderung der Fach- und allgemeinen Bildung an. Vermittelt werden zudem Erholungsmöglichkeiten und Wohnungen, eine Unterstützung in Notfällen sowie Darlehen und Sparmöglichkeiten. In ähnlicher Weise wirkt ab 1876 der Verein Lehrerinnenheim. Und etwa zur gleichen Zeit gründen elf Dresdner Frauen den Fortbildungsverein für unbemittelte Mädchen und eröffnen eine Zeichenschule, deren Absolventinnen seit 1879 zum Staatsexamen zugelassen werden. Nach und nach entstehen eine Abendschule und eine Handelsschule, eine Näh- und eine bald schon berühmte Kunststickschule.

Zum Motor der Dresdner Frauen-Initiativen werden auch Künstlerinnen, die der Stadt durch feste Engagements zugewachsen sind – die Schauspielerin und Dichterin Anna Löhn-Siegel und Auguste Diacono, auch sie Schauspielerin am Dresdner Hoftheater, sowie Marie Börner-Sandrini, die als Sängerin an der Dresdner Hofoper wirkt.

Eine der bekanntesten Frauenrechtlerinnen der ersten Stunde ist Marie Stritt. 1855 kommt sie als Marie Bacon im siebenbürgischen Schäßburg auf die Welt. Das ist eher abgelegen vom großen politischen Geschehen. Später in Dresden lebend, wird die Schauspielerin Rückschau halten:

»Damals war Siebenbürgen noch ein Großfürstentum und, bis zur Vereinigung mit Ungarn 1867, österreichisches Kronland. Bis zu meinem 19ten Jahre habe ich völlig in den Lebens- und Anschauungskreisen einer wundervoll gelegenen, historisch bedeutsamen und von jeher durch die Tüchtigkeit ihrer Bewohner ausgezeichneten, im übrigen aber ganz weltfernen Kleinstadt gelebt. Weltfern auch im buchstäblichen Sinn des Wortes, bis die Eisenbahn die Siebenbürgen etwas näher an die Welt heranrücken sollte. Ich war über 17 Jahre alt, als ich die erste Lokomotive pfeifen hörte und den ersten leibhaftigen Eisenbahnzug, der auch für meine Vaterstadt eine neue Ära einzuleiten bestimmt war, zu sehen bekam.«

Maries Eltern, zwei nach Begabung und Charakter glücklich veranlagte Menschen, erfreuen sich der allgemeinen Wertschätzung ihrer Mitbürger. Es sind warmherzige Menschen. Der Vater ist Rechtsanwalt, die Mutter zieht zehn Kinder auf, von denen Marie das älteste ist. Wesentliches für ihr Leben lernt die Jugendliche ausgerechnet in den schulischen Nähstunden:

»Unsere Lehrerin, Frau Lupini, eine anerkannte Meisterin ihres Faches, war eine kleine, rundliche und sehr energische Frau, Mutter zahlreicher Kinder, die sie alle zu tüchtigen Menschen erzog. Nach unserem Urteil war sie ›streng, aber gerecht‹. Und jedenfalls haben wir etwas bei ihr und ihren beiden bildhübschen Töchtern gelernt, die ihr abwechselnd assistierten. Sie hatte nur eine sehr schwache Seite, das war ein glühender Haß – auf die Nähmaschinen, die um jene Zeit aufkamen und von denen sie nicht müde wurde, uns in schrecklichsten Mordsgeschichten zu erzählen. Was sie indessen nicht hinderte, schon wenige Jahre später in ›optima forma‹ vor der Todfeindin zu kapitulieren, d.h., sie gleich in mehreren Exemplaren in ihrer eigenen Arbeitsstube einzustellen und hinfort bis an ihr Lebensende ebenso tadellose Arbeiten mit der Maschine zu liefern, wie vorher mit ihren geschickten Händen.«

Die Abneigung so vieler Mitschüler gegen Schule und Schulzwang und das beliebte Durchhecheln und Verspotten einzelner Lehrer bleibt Marie Stritt damals wie auch später unverständlich: Weit davon entfernt, ein Musterkind zu sein, erscheinen ihr Hochachtung, Anhänglichkeit und Dankbarkeit in dieser Richtung einfach als selbstverständlich und der Abschied von der Schule als ein tiefschmerzliches Ereignis ihres jungen Lebens. Und die Erinnerungen vergolden sich noch nachträglich.

Für die Zwölfjährige bedeutet der Abgang von der Schule auch schon den Abschied von ihrer Kindheit: Marie sieht sich von ihrem Vater als die älteste Tochter fürs Haus vorgesehen, samt den damit verbundenen Pflichten. Und das tut weh:

»Wie viele Tränen habe ich damals im Stillen geweint, wenn ich, mit dem Staubtuch bewaffnet, hinter der Gardine verborgen, meinen älteren Brüdern und ihren Kameraden auf ihrem Weg zum Gymnasium hinauf nachsah, Tränen ohnmächtiger Empörung und bittersten Neides, daß mir diese fröhliche, höhere Welt für immer verschlossen sein sollte, obgleich ich mir bewußt war, es im Lernen mit all den Jungen aufnehmen zu können!

Nach Jahren erst habe ich erfahren, daß meine guten Eltern schon damals meinen kindlichen Gedankengängen volles Verständnis entgegenbrachten und auch in diesem Sinne gehandelt hatten. War doch mein Vater an die Schulbehörde der Evangel. Landeskirche, die darüber zu befinden hatte, mit dem Gesuch herangetreten, mich am Unterricht der Knaben im Gymnasium teilnehmen zu lassen. Das Gesuch wurde natürlich glatt als eine ganz unmögliche Zumutung abgelehnt.«

Später erzählt eine Tante der erwachsenen Marie Stritt, dass damals die »ganze Stadt« über das Gesuch des Vaters entrüstet war. Doch die Eltern meinen es ernst und organisieren – inzwischen ist die Familie auf sieben Kinder angewachsen –, dass Marie zwischen ihrem vierzehnten bis siebzehnten Lebensjahr von Fachlehrern des sächsischen Gymnasiums in Siebenbürgen Privatunterricht erhält – in Rechnen und Mathematik, Geschichte, Deutsch und Literatur, Physik und Chemie, Englisch und Ungarisch – gemeinsam mit ihren Brüdern, für die das als Nachhilfeunterricht gilt.

Nach Abschluss der privaten Bildung und in Anerkennung ihrer Arbeit als Haustochter darf die Siebzehnjährige aus der abgeschotteten siebenbürgischen Kleinstadt an einer wochenlangen Reise in Gesellschaft einer befreundeten Familie teilnehmen. Es geht hinaus in die Welt – nach Wien und nach Süddeutschland: über Linz nach Passau, Regensburg, Nürnberg, Frankfurt, Mainz, Heidelberg, Stuttgart, München und über Salzburg wieder nach Wien zurück, von wo man in einer vierzigstündigen Fahrt im Personenzug dann nach Schäßburg heimkehrt. Marie Bacon ist voller unvergesslicher Eindrücke aus Museen, Theatern, Städten … Vor allem die Theateraufführungen lassen in ihr den Wunsch wachsen, selbst auf einer Bühne zu stehen. Als Neunzehnjährige verlässt sie Siebenbürgen, um in Wien Schauspiel zu studieren – damit gehört sie im deutschsprachigen Raum zu den frühesten professionell ausgebildeten Schauspielerinnen überhaupt. Mit 21 Jahren ist die Überfliegerin Hofschauspielerin am Großherzoglichen Hoftheater in Karlsruhe. Ein Theater immerhin, über das Johannes Brahms schreibt: »Ein anständiger Mensch muß schon des klassischen Repertoires wegen alljährlich einige Monate in Karlsruhe leben.«

Als der Tenor Albert Stritt am Hoftheater engagiert wird, verlieben sich die beiden Künstler stark ineinander. Nun läuft es wie bei anderen Paaren: Marie wird schwanger, die 24-jährige Schauspielerin und der 32-jährige Sänger heiraten und werden 1880 glückliche Eltern eines Mädchens namens Friederike. Im Jahr darauf wechseln sie nach Frankfurt am Main, wo beiden am Stadttheater ein neues Engagement winkt. Doch Marie Stritt gastiert nun lieber und tritt erstmals auch im Dresdner Hoftheater auf. Nachdem sie 1882 ihr zweites Kind auf die Welt gebracht hat, den Sohn Walter, gibt sie ihre schauspielerische Karriere auf. Albert Stritt brilliert als Heldentenor, und hier vor allem in Wagner-Opern; er erhält 1885 einen Ruf an die Metropolitan Opera in New York, eine außergewöhnliche Anerkennung für einen Sänger im ausklingenden 19. Jahrhundert. Seine Frau Marie spricht ein gutes Englisch und zieht mit ihren beiden Vorschulkindern zeitweise mit auf den fernen Kontinent.

1886 kehrt ihr Mann nach Europa zurück, die Familie siedelt um nach Hamburg, wo Albert Stritt die Titelrolle in der deutschen Erstaufführung von Verdis »Othello« singt. 1890 wechselt die Künstlerfamilie ein letztes Mal die Stadt: Der Tenor nimmt ein Engagement für nur eine Spielzeit am Dresdner Hoftheater an, danach gastiert er an fast allen großen Bühnen Deutschlands, an der Oper in Wien, wo er auch eine Regie übernimmt, und an der Covent-Garden-Oper in London.

Der reisefreudigen Familie Stritt gefällt es in Dresden, sie bleibt. Die Kinder gehen nun hier zur Schule. 1901 übernimmt Albert Stritt am Konservatorium in Wien eine Gesangsprofessur, die er kurz darauf auch in Dresden innehat. Ihm bleibt nicht mehr viel Lebenszeit: 1908 stirbt der Sänger in Dresden mit nur sechzig Jahren.

Marie Stritt

Marie Stritt ist da schon längst in der Frauenrechtsbewegung aktiv: Sie ist die treibende Kraft im Kampf gegen das Bürgerliche Gesetzbuch von 1900, noch ohne Erfolg. Doch zwischen 1899 und 1910, in der Hochphase der bürgerlichen Frauenbewegung, führt sie den Bund deutscher Frauenvereine (BDF) an, hat wesentlichen Anteil an Programmatik und politischen Strategien des Bundes und treibt seine Entwicklung zu einer großen und bedeutenden Dachorganisation in Deutschland voran.

Hineingezogen in den Aufbruch der Frauenrechtlerinnen hat sie ausgerechnet ihre 65-jährige Mutter Therese Bacon, die sich von Siebenbürgen aus auf die beschwerliche Reise nach Erfurt macht, wo der noch junge Allgemeine Deutsche Frauenverein die engagierten Frauen Deutschlands zum 25-jährigen Jubiläum einlädt. Ihre 35-jährige Tochter Marie, die gerade mit Familie nach Dresden umgezogen ist, hat es da weniger weit. Die Anwesenheit der Mutter wird in Erfurt anschließend in der Frauenverbandszeitschrift »Neue Bahnen« erwähnt: Die Siebenbürgerin hat in Erfurt eine Rede vor großem Publikum gehalten, und die kam gut an. Nicht nur darauf ist Tochter Marie stolz, sondern auch darauf, dass Therese Bacon nun als »Frau von seltener Geistesgabe« beschrieben wird.

In Folge dieses Ereignisses in Erfurt gründen zwei Frauen in Dresden, anknüpfend an die Tradition der 1848er, eine lockere Montagsgesellschaft, in der Frauen- und Bildungsfragen die Themen sind. Hedwig von Alten, neben Johanna Baum eine der Initiatorinnen, berichtet darüber:

»Wir richteten – um es einmal auszuprobieren – in unserer Wohnung zwanglose Zusammenkünfte für die Mitglieder der Montagsgesellschaft ein und luden in den Zeitungen diejenigen Damen Dresdens, die sich für die Frauenbestrebungen interessierten, dazu ein. Es kamen überraschend viele! Und wenn auch ein Teil nur aus Neugier oder in der Meinung, es handele sich um einen Näh- oder Suppenverein, erschienen waren und in der Folge fortblieb, bildete sich doch sehr bald ein großer Kreis ständiger Besucherinnen dieser zwanglosen Zusammenkünfte.«

Die Zusammenkünfte wechseln bald in einen offiziellen Saal, und die Schauspielerin Marie Stritt ist längst mit guten Ideen dabei. Die Ziele für die Zukunft:

»Erreichung voller Erwerbsfreiheit auf allen Gebieten, welche die Frauen selbst zu betreten wünschen und in denen sie sich versuchen wollen; Gleichstellung der Geschlechter vor dem Gesetz, bessere staatliche Institutionen zum Zwecke der Erziehung und Ausbildung bis zum wissenschaftlichen Studium.«

Die Montagszusammenkünfte stoßen auf sehr positive Resonanz, die Veranstaltungen sind gut besucht, die Stimmung ist heiter. Man interessiert sich fürs Ausland und verfolgt mit besonderem Interesse den Verlauf der amerikanischen und englischen Frauenbewegung. Marie Stritt beeindruckt nicht nur durch die Inhalte ihrer Ansprachen, sondern auch durch ein glänzendes Rednertalent. Das macht sie zur vielbegehrten Wanderrednerin in Sachen Frauenemanzipation. Und eingeladen wird sie inzwischen nicht nur von Frauen- sondern auch von Männervereinen.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hält Marie Stritt Vorträge über »weibliche Schwächen«, über »häusliche Knabenerziehung« und die Bedeutung und Ziele der Frauenbewegung. Was hat es mit dem Spruch »Die Frau gehört ins Haus?« auf sich – die Rednerin verteidigt das Recht der Frauen auf freie Berufswahl und -ausübung. Sie hilft bei der Vernetzung von Frauenvereinen und schlägt vor, Rednerinnen auszusenden, um die Idee der Frauenbewegung zu verbreiten, um neue Mitglieder zu werben und neue Ortsgruppen zu gründen. Doch dieser Plan scheitert – und nicht nur an der Geldnot des Vereins. Im Vorstand herrscht auch die Angst, die Rednerinnen könnten nicht linientreu genug sein und vor allem nicht genug »Mäßigung« üben. So muss die Schauspielerin selbst wieder ran.

Der Dresdner Ortsverein des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins richtet mit Pioniergeist eine Rechtsschutzstelle für Frauen ein. Es ist eine Konsequenz aus der Erfahrung, dass Frauen juristisch von Männern nicht wirklich vertreten werden. Ein Blick auf die Rechtslage zeigt, dass Frauen nicht einmal als mündige Rechtspersonen angesehen werden: Alle Gesetze regeln, in mehr oder minder rigider Form, die Unterwerfung der Ehefrau unter den Willen des Mannes. Er entscheidet in allen ehelichen Angelegenheiten und in Erziehungsfragen. Er ist Eigentümer, zumindest Nutznießer des Vermögens der Frau, auch ihres Arbeitslohns, über die sogenannte eheliche Pflicht auch ihres Körpers. Sogar um einem Frauenverein rechtsgültig beizutreten, muss der Ehemann seine Genehmigung erteilen.

Die Frauen des Dresdner Rechtsschutzvereins um Marie Stritt erhalten fachliche Hilfe von zwei männlichen Rechtsanwälten. Das ist die eine Seite: Weitaus mehr Juristen beklagen sich jedoch, die Rechtsschutztätigkeit »pfusche ihnen ins Handwerk«, sei eine Art »Winkelkonsulenz und entziehe ihnen Klienten«.

Die Frauen lassen sich dadurch nicht beirren. Sie schaffen mehr Öffentlichkeit, werben zum Beispiel in Dresdner Zeitungen für die Inanspruchnahme der Rechtsberatung durch Frauen und Mädchen. Durch erfolgreich geführte Prozesse und ständig steigende Besucherzahlen wird die Rechtsschutzstelle schon bald zu einer Institution für Frauenangelegenheiten. Der Hilfs- und Beratungsbedarf ist groß: Werden 1894 628 Frauen für eine Rechtsberatung registriert, so sind es 1914 schon 4004 Frauen. Die Hilfesuchenden sind in erster Linie Arbeiterinnen und Hausangestellte, und am meisten gefragt ist die Beratung zum Familienrecht. Marie Stritt konstatiert für Deutschland eine »allgemeine Unwissenheit der Frauen in Bezug auf ihre staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten und ihre gesetzlichen Beschränkungen«. Das Dresdner Modell spricht sich herum – ähnliche Rechtsschutz- und Beratungsstellen entstehen nun auch in Breslau, Berlin, Barmen, in Leipzig, Danzig, Zürich und Wien.

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Der Allgemeine Deutsche Frauenverein gibt im Herbst 1914 die aktuellen und nötigen Aktivitäten vor:

»Angesichts dieser großen allgemeinen Not haben alle anderen sozialen Aufgaben, hat auch unsere Verbandsarbeit und alles, was sonst im Kampf um die Bürgerrechte der Frau unternommen wird, zurückzutreten«, beschließt der Vorstand. »Wie wir auch sonst über den Krieg denken mögen, in diesem Augenblick ist es unser aller unabweisbare Pflicht, zum Schutz und zur Erhaltung unseres Vaterlandes unsere ganze Kraft einzusetzen. (…) Die deutschen Frauen, die nach den ihnen vorenthaltenen Bürgerrechten streben, sind wohl vor allen anderen dazu berufen, in der gegenwärtigen großen Not im Dienst des Vaterlandes Bürgerpflichten zu erfüllen

Den Frauen wird empfohlen, sich der Kriegsfürsorgearbeit zu widmen, sich besonders dem vom Bund deutscher Frauenvereine eingesetzten »Nationalen Frauendienst« anzugliedern. Dieser breitet sich innerhalb kürzester Zeit im ganzen Land aus und funktioniert in perfekter Zusammenarbeit mit den kommunalen Ämtern, sodass bald die gesamte Wohlfahrtspflege und das Fürsorgewesen in der Hand des Bundes deutscher Frauenvereine liegt. Der Bund wird getragen von einem breiten Frauenbündnis, das auch Vertreterinnen der sozialdemokratischen Frauenverbände umfasst.

Ebenfalls im Herbst 1914 – Marie Stritt hatte noch wenige Wochen zuvor als Vertreterin Deutschlands an einer Sitzung des Weltbundes für Frauenstimmrecht in London teilgenommen – beschließt der Vorstand des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht einstimmig, »im Hinblick auf den Krieg und die dadurch geschaffene allgemeine Weltlage, von der Abhaltung des für Juni 1915 in Aussicht genommenen Internationalen Kongresses für Frauenstimmrecht in Berlin, für den die Vorbereitungen bereits seit Monaten im Gange waren, abzusehen.« Der Zusatz »Auch wenn dieser fürchterliche Weltkrieg voraussichtlich bis dahin beendet sein dürfte« zeigt, dass sich die die Frauenrechtlerinnen, wie so viele Deutsche, so viele Europäer in diesen ersten Monaten des Krieges, verschätzen.

Die bereits für den Kongress gesammelten und eingegangenen Gelder sollen nun dazu dienen, Wolle zu kaufen und »Tausende unserer jungen, tapferen Krieger mit den so nötigen Strümpfen zu versehen, und zugleich sollen durch den Krieg brotlos gewordene Frauen in lohnender Beschäftigung die Freude empfinden, durch den Fleiß ihrer Hände dem siegreichen Heere, dem sie ihre Gatten, ihre Söhne und Brüder geben, wertvollen Dienst zu leisten.«

Der Patriotismus entspricht dem derzeitigen Mainstream der bürgerlichen Frauenbewegung – und er findet seine Parallele im gegnerischen Lager. Denn auch die Frauen Australiens und Neuseelands, deren Männer 1915 in hoher Zahl an der Seite Englands in den Krieg ziehen müssen, stricken wärmende Socken für ihre Männer, Söhne und Brüder auf der anderen Seite des Erdballs.

Die radikaleren deutschen Frauenrechtlerinnen um Lida Gustava Heymann und ihre Lebensgefährtin Anita Augspurg schwimmen entschieden gegen diesen Strom und lehnen die Unterstützung des Krieges in jedweder Form ab. Sie werfen den gemäßigteren Schwestern vor, sich der Stimmung des Tages anzupassen, und mokieren sich besonders über deren Strumpfaktion, mit der sie ihrer Kardinalsaufgabe zuwiderhandeln – sich für Frauenrechte einzusetzen.

Deutlicher werden während der Kriegszeit nun auch in der deutschen Frauenbewegung politische Strömungen sichtbar, die denen in der Männerwelt ähneln. Sie werden nicht mit Gewalt ausgetragen, sondern mit Worten. So verhält sich die Vorsitzende des Deutschen Verbandes für Frauenstimmrecht Marie Stritt konform zur Burgfriedenspolitik – dem Zurückstellen ­innenpolitischer Konflikte während des beginnenden Krieges. Das »Augusterlebnis 1914« einer klassen- und geschlechtsübergreifenden nationalen Begeisterung wirkt auch bei ihr insofern fort, als sie in der September/Oktober-Ausgabe der Verbandszeitschrift »Die Staatsbürgerin« die »Einmütigkeit, diese wundervolle neue Einigkeit des deutschen Volkes« feiert, die »wie der Anbruch einer neuen Zeit unserer tiefen Sehnsucht« anmute – in der »Zuversicht, dass sich an einen glorreichen Sieg der deutschen Waffen der glorreichere des höchsten Kulturgedankens knüpfen möge, unseres Prinzips: Recht vor Gewalt!«

Wie bei den meisten Deutschen weicht die anfängliche Euphorie jedoch einer baldigen Ernüchterung. Später, in einer Darstellung von 1927, wird Marie Stritt ihre inneren Konflikte beschreiben, die ihr schon nach kurzer Zeit schwer zu schaffen machten:

»Als in den grauenvollen Jahren 1914–1918 unsere gemeinsame Arbeit und damit meine Lebensarbeit völlig lahmgelegt wurde – als in der Kulturschande des Weltkrieges der Nationalismus seine wüstesten Orgien feierte – da wurde meine ganze frohe Zuversicht in unsere Sache zuschanden, da habe ich einen seelischen Zusammenbruch erlitten. Wenn ich schließlich doch wieder zu mir selbst gefunden habe, wieder an die Möglichkeit einer besseren Zukunft glauben lernte – so danke ich das in erster Linie dem Bewußtsein, daß Gesinnungsgenossinnen in aller Welt gleich mir gedacht und gefühlt und sich von jeder Konzession an einen entarteten Nationalismus frei gehalten haben.«

Im März 1916 – an den Fronten in Europa und Übersee schlachten die Krieger etlicher Nationen einander ab –, im dritten Kriegsjahr also, fusionieren die konservative Deutsche Vereinigung für Frauenstimmrecht und Marie Stritts liberaler Deutscher Verband für Frauenstimmrecht zu einem großen Dachverband: dem Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht.

Zur Ersten Vorsitzenden wird aufgrund ihrer Erfahrung und ihrer hohen Anerkennung Marie Stritt gewählt. Die Zweite Vorsitzende wird die Juristin Dr. Li Fischer-Eckert aus dem westfälischen Bürgertum, die 1913 ihre Doktorarbeit über »Die wirtschaftliche und soziale Lage der Frauen in dem modernen Industrieort Hamborn im Rheinland« veröffentlicht hat. Der neue Reichsverband schließt sich nun dem Weltbund für Frauenstimmrecht an. Ein Jahr nach diesem Zusammenschluss ist er auf zehn Landesvereine, neunzig Ortsgruppen und fast 90 000 Mitglieder angewachsen. Nach Meinung der linksradikalen Frauen hat der Zusammenschluss jedoch die »Einigung mit rechts vollzogen und gleichzeitig die Grenze gegen links so scharf wie möglich gezogen«. Hier herrscht große Unzufriedenheit.

Die neue Satzung des Reichsverbandes, die von einer Kommission unter Leitung von Marie Stritt erarbeitet wurde, legt fest, den »deutschen Frauen die gleichen öffentlichen Rechte im Staats- und Gemeindeleben zu verschaffen, wie sie den Männern zustehen, insbesondere ihnen das aktive und passive Wahlrecht zu den gesetzgebenden Körperschaften und Organen der Selbstverwaltung zu erringen.«

Aufgrund des innenpolitischen Drucks durch zunehmende Demonstrationen, Hungerrevolten und Streiks – an denen Frauen im hohen Maße beteiligt sind – als auch infolge des außenpolitischen Drucks, unter dem das Reich steht, kommt 1916/17 Bewegung in die deutsche Innenpolitik. Insbesondere die Frage einer Wahlrechtsreform zur endgültigen Abschaffung des Dreiklassenwahlrechts entwickelt sich zum Tagesthema. Immer deutlicher wird, dass ohne eine solche Reform der innere Frieden nicht mehr länger gesichert werden kann. Selbst der Kaiser spricht sich in seiner Osterbotschaft 1917 für eine Wahlrechtsreform in Preußen aus, dem führenden deutschen Bundesstaat; die Reichsregierung erklärt sich nun prinzipiell bereit, das gleiche, direkte und geheime Wahlrecht in Preußen einzuführen. Das gilt allerdings nicht für Frauen, sondern nur für den männlichen Teil der Bevölkerung. Die Dynamik jedoch ist da, um 1917 den Kampf für das Frauenwahlrecht neu in Schwung zu bringen. Und nun bilden sich Koalitionen, die bisher kaum vorstellbar waren, und die in ein breites Frauenbündnis münden.

Publizistischer Protest gegen das Übergehen der Frauen bei der geplanten Wahlrechtsreform flankiert parlamentarische Eingaben. Der deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht richtet unter Führung von Marie Stritt Mitte 1917 erstmals in den Kriegsjahren wieder eine Petition an den neu eingesetzten Verfassungsausschuss des Reichstags, in der das Wahlrecht für Frauen unter den gleichen Bedingungen gefordert wird, wie es den Männern zusteht. Begründet wird dies vor allem mit der gestiegenen Erwerbstätigkeit der Frauen und der Notwendigkeit, ihre Fähigkeiten der Allgemeinheit zu Nutze zu machen.

Der Krieg hat plötzlich zwei Seiten: In dem Maße, in dem die Kraft der im Stellungskrieg verschlissenen und verstümmelten Männer schwindet, wachsen Kraft und Selbstbewusstsein der Frauen, die längst Arbeiten der Männer im zivilen Bereich übernommen haben. Ob bei der Straßenbahn, im Postwesen, in Krankenhäusern, Betrieben oder Schulen – nur mit Einsatz der weiblichen Hälfte der Bevölkerung lässt sich der Alltag in Deutschland noch aufrechterhalten. Frauen sind nun im Doppeleinsatz, denn die meisten von ihnen haben noch Kinder zu versorgen und wenigstens ein Minimum an Lebensmitteln heranzuschaffen. Viele schuften in der Rüstungsindustrie. Doch sie spüren die Kraft, die in ihnen steckt – wenn auch aus der Not heraus geboren, dürfen sie doch erstmals im kommunalen Bereich Gesellschaft mitgestalten.

So erfasst die Aufbruchsstimmung weite Teile der deutschen Frauen noch mitten im Krieg, und jetzt wird die Stimmrechtsfrage zum zentralen Thema. Im Oktober 1917 veröffentlicht der Bund Deutscher Frauenvereine eine Denkschrift zur »Stellung der Frau in der politisch-sozialen Neugestaltung Deutschlands«, mit der sich seine Verfasserinnen an verschiedene Regierungen und Parlamente im Deutschen Reich wenden. Sie fordern darin die Einbeziehung der Frauen in das aktive und passive Wahlrecht, wobei sie dem kommunalen Wahlrecht besondere Bedeutung beimessen. Begründet wird die Forderung damit, dass eine Lösung der drängenden sozialen und wirtschaftlichen Fragen nur unter verantwortlicher, staatsbürgerlicher Mitwirkung der Frauen denkbar sei, die sich durch ihre sozialfürsorgerische Arbeit während des Krieges verdient gemacht hätten.

Es ist das Jahr, in dem im Parlament der fernen britischen Kolonie Neuseeland als erstem Land der Welt das Frauenwahlrecht beschlossen wird – und das gilt überraschenderweise nicht nur für die Pakeha, die weißen Frauen, sondern auch für die Frauen der Maori. In zahllosen Unterschriftenaktionen hatte die schottisch-stämmige Frauenrechtlerin Kate Sheppard die Abgeordneten in Wellington zuvor weichgeklopft. Für ihre letzte Petition konnte sie rund ein Drittel der volljährigen Frauen mobilisieren. In Europa hat immerhin Finnland mit dem Wahlrecht für Frauen 1906 nachgezogen. Wäre nun nicht endlich Deutschland an der Reihe?

Was weniger nach außen dringt: Herzeins sind die Frauen in der Wahlfrage keineswegs – den einen ist der Ton zu lasch, den anderen schon zu scharf, die dritten finden genau dieses Ausgewogene gut. Die Querelen im Dachverband über das konkrete gesellschaftliche Ziel des Frauenwahlrechts führen zum Austritt des mitgliederstarken Deutsch-Evangelischen Frauenbundes, der wie auch andere konservativ oder nationalliberal gesinnte Frauen das Wahlrecht ablehnen, wenn es nur um den Preis einer allgemeinen Demokratisierung des Landes zu erreichen ist.

Aus der proletarischen Frauenbewegung wiederum, die seit der Spaltung der Sozialdemokratie im April 1917 in zwei miteinander rivalisierende Organisationen zerfallen ist, wird ebenfalls die Forderung nach dem Frauenwahlrecht laut. Doch während für die Frauen der USPD, der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, in die der größte Teil der einstigen Führerinnen – allen voran Clara Zetkin – übergewechselt ist, der Kampf um demokratische Rechte wie das Stimmrecht Teil einer revolutionären Strategie ist, setzen die Mehrheitssozialdemokratinnen der MSPD auf Reform statt auf Revolution; sie streben danach, ihre Ziele im Rahmen des parlamentarischen Systems durchzusetzen.

Die aus Landsberg an der Warthe stammende Marie Juchacz rückt nun nach vorn: Friedrich Ebert überträgt ihr die Stelle als Frauensekretärin im Zentralen Parteivorstand in Berlin, die zuvor Clara Zetkin innehatte.

Im Unterschied zu den USPD-Abtrünnigen teilen die Mehrheitssozialdemokratinnen nicht die Zetkinschen Grundsätze einer »reinlichen Scheidung« von der bürgerlichen Frauenbewegung. Und die gemeinsame soziale Arbeit während des Krieges hat auf beiden Seiten Vorurteile abgebaut: Die bürgerlichen und die sozialdemokratischen Frauen wenden sich im August 1917 nun an die Stimmrechtsverbände und den Bund deutscher Frauenrechtsvereine mit der Aufforderung zu einer gemeinsamen Kundgebung zur anvisierten Wahlrechtsreform. Im Reichsverband für Frauenstimmrecht wird der Aufforderung sowohl vom Vorstand als auch von den angeschlossenen Organisationen ausnahmslos zugestimmt.

Nur: Die nun geplante gemeinsame Kundgebung wird von der Polizei nicht genehmigt! Und zwar paradoxerweise gerade wegen der weiblichen Zusammenarbeit über Partei- und Organisationsgrenzen hinweg. Zur Begründung des Verbots wird angeführt, die Versammlung werde von mehreren Vereinigungen einberufen und müsse deshalb als öffentlich gelten – und werde damit verboten!

Am 17. Dezember 1917 findet dann aber doch in Berlin eine gemeinsame Kundgebung statt, an der mehr als 1000 Frauen teilnehmen. Und die gemeinsame Erklärung, die nun dem Preußischen Landtag überbracht und die veröffentlicht wird, spricht eine klare Sprache. Dargelegt wird, wie viele Pflichten die Frauen während des Krieges klaglos erfüllt hätten, dass ihnen jedoch noch immer das Korrelat der vollen Rechte zur Mitarbeit in der Öffentlichkeit fehle:

»Gegen diese Rechtlosigkeit legen die Frauen kraft ihrer Arbeit für die Allgemeinheit wie Kraft ihrer Würde als vollwertige Menschen Protest ein. Sie fordern politische Gleichberechtigung mit dem Manne: Allgemeines, gleiches und direktes Wahlrecht für alle gesetzgebenden Körperschaften …«

Die Schlussworte der gemeinsamen Erklärung lauten:

»Dieser ersten gemeinsamen Willenskundgebung der Frauen werden solange weitere folgen, bis der Sieg unserer Sache errungen ist.«

Unterschrieben wird die denkwürdige gemeinsame Erklärung von Marie Juchacz für die sozialdemokratischen Frauen, von Marie Stritt für den Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht und von Minna Cauer für den Deutschen Bund für Frauenstimmrecht. Damit hat sich unter den Bedingungen des Weltkrieges ein Frauenbündnis entwickelt, das bis dahin undenkbar war. In der gesamten Frauenbewegung kommt es zur Annäherung von Sozialdemokratinnen und linksliberal geprägten bürgerlichen Frauen, die Marie Stritt als bewegende neue Erscheinung in der politischen Frauenbewegung begrüßt. Lediglich die Frauen der USPD lehnen die Zusammenarbeit mit den Bürgerlichen grundsätzlich ab und werfen der gemeinsamen Erklärung Merkmale eines Kompromisses vor.

***

Noch steckt Europa tief im Krieg. Doch die Gedanken vieler Bürger schweifen schon in die Nachkriegszeit. Wie kann Europa wieder aufgebaut, wie der nationale Hass überwunden werden, und zwar für immer?

Die Bremer Pazifistin Auguste Kirchhoff schließt im Sommer 1917 eine offen und weit gedachte friedenspädagogische Schrift ab. Doch sie steht unter Zensur wegen mangelnder vaterländischer Gesinnung – erst 1919 erscheint der Text in Leipzig, unter dem Titel »Unsrer Kinder Land«. Doch gerade 1917 hätten Kirchhoffs weitsichtige Worte in deutschen Schulen und Kasernen eine friedensstiftende Handreichung sein können:

»Wollen wir unserer Kinder Land vor neuen Blutopfern bewahrt wissen, dann müssen wir einen neuen Geist in ihnen wecken. Dann muß der Heroenkult, der heute noch vor allem den Kriegern und Siegern auf den Schlachtfeldern gilt, übertragen werden auf alle, die in nimmermüder Arbeit der Menschheit Kulturwerte vermitteln und für ihre Überzeugung lebten und starben.

Dann werden Kulturtaten höher bewertet werden müssen als Waffentaten, und moralischer Mut wird nicht länger in der Wertschätzung hinter physischem zurückstehen dürfen. Dann wird man auch aufräumen müssen mit der Legende vom ›Erbfeind‹ und den Kindern zeigen müssen, daß Völkerfreundschaften und Feindschaften auf dem sehr schwankenden Boden wechselnder Interessengemeinschaften und Interessengegensätze stehen. (…)

Dann wird vor allem auch an Stelle von Drill und äußerer Dressur in unserem Schulwesen, die als charakterbildende Faktoren doch gänzlich ausscheiden, wirkliche Erziehung treten müssen. Erziehung, die durch Freiheit Verantwortungsgefühl weckt und deren Ziel gerade aufrechte Persönlichkeiten sind, die selbstdenkend, nicht nachbetend, der Außenwelt und ihren Erscheinungen gegenüberstehen. (…)

Nicht in die Enge der Landespfähle unsere Kinder einschließen und eine chinesische Mauer bauen denen gegenüber, die jetzt unsere Gegner sind, sondern im Gegenteil ihren Blick weiten, damit er über die Grenzen hinaussehen lernt, ihre Seelen aufschließen für die Schönheit anderer Länder, für fremde Sitten, fremde Kunst, fremde Geistesschätze.

Das ist ja gerade der Jammer, daß die Völker sich im tiefsten Grunde gar nicht kennen und aneinander vorbeisprechen und –denken, daß sie sich mit oberflächlichem gegenseitigen Aburteilen begnügen, statt sich die Mühe zu geben, einander wirklich verstehen zu lernen und durch tieferes Eindringen in die Wesensart des anderen Schätze und Werte zu finden, die das eigne Leben befruchten und bereichern und die gegenseitige Achtung heben und fördern. Unseren Kindern wollen wir es nach Kräften ermöglichen, mit fremden Völkern, fremden Kulturen in nähere Berührung zu kommen. (…)

Gerade, weil wir Frauen und Mütter sind, dürfen wir es nie vergessen, daß auch im Feindesland um jeden kämpfenden Soldaten ein Frauenherz bangt und zittert, eine Mutter sich sorgt und grämt. Und wir können dieses Empfinden in die Tat umsetzen, wenn wir unseren Kindern im Gegner den Menschen zeigen, den Menschen, der gleich ihren kämpfenden Brüdern sein Leben einsetzt für sein Vaterland, und an den daheim seine Mutter, sein Weib, seine kleinen Geschwister in Angst und Not, in Liebe und Treue denken.

Diese Gesinnung gilt es, groß zu ziehen und dadurch ein Geschlecht heranzubilden, das aus diesen Zeiten tiefster Tragik das eine gelernt hat: daß nicht gegenseitiges Verleumden, Beschimpfen, Verkennen, Bekämpfen und Vernichten, sondern gegenseitiges Verstehen, gegenseitige Achtung und Hilfe unsere Aufgabe ist, daß Liebe, nicht Haß, welterlösende, aufwärtstreibende Kräfte im Schoße trägt.«

Solche Frauen wünschte man sich auch ein Jahrhundert später noch in politisch führender Position. Doch Auguste Kirchhoff – Musiklehrerin, Publizistin, Mutter von fünf Kindern und Frau des Bremer Rechtsanwaltes und späteren Senators Gerhard Kirchhoff – bringt nicht nur Männer gegen sich auf, sondern auch Frauen: Als sie 1915 vom internationalen Frauenfriedenskongress in Den Haag zurückkehrt, auf dem sie mit ihren »Feindinnen« beraten hatte, wie man diesen Krieg beenden könnte und einen Bericht dazu in einer Bremer Zeitung veröffentlicht, schallt ihr auch weiblicher Zorn entgegen: Ein Protestbrief wird gegen Auguste Kirchhoff verfasst – wegen mangelnder vaterländischer Gesinnung – und von mehr als 100 Frauen unterzeichnet. Die Verfemte ist enttäuscht, lässt sich aber in ihrem Anliegen nicht beirren. Ein Publikationsverbot wird über sie verhängt und öffentliche Auftritte sind ihr bis Kriegsende untersagt.

Je länger der Krieg dauert, desto stärker lastet auf den Frauen die Verantwortung für die Ernährung und Erziehung der Kinder. Frauenarbeit, selbst in Rüstungs- und Metallbetrieben, wird zur Massenerscheinung. »Meine Mutter dreht Granaten«, sagen die Kinder in der Schule. In der Leipziger Universität hält der Rektor im Oktober 1917 eine Versammlung ab, um auch die Studentinnen für eine Tätigkeit in der Rüstungsindustrie zu gewinnen.