In den Wochen vor Ausbruch der Novemberrevolution zeigt sich in der Bewegung für das Frauenstimmrecht deutlich, in welchem Maße die Werbekraft durch das gemeinsame Vorgehen bürgerlicher und sozialdemokratischer Frauen verstärkt wurde.
Seit Beginn des Jahres 1918 haben sich die Verbitterung und die Unruhe in der Bevölkerung zu einer Massenbewegung gegen die Militärdiktatur ausgeweitet und zunehmend auch die unteren Reihen der Armee erfasst. In ganz Deutschland kommt es zu Massenstreiks. Nie am Rande stand die Frauenrechtsbewegung: Im April 1918 kam es zu Protestaktionen des neuen Bündnisses für das Frauenstimmrecht, mit Zusammenkünften in Berlin und Hamburg. Im Mai mussten sie noch einmal eine herbe Enttäuschung einstecken, als im Berliner Abgeordnetenhaus das gleiche Wahlrecht für alle preußischen Bürger mit großer Mehrheit abgelehnt worden war, was auch und erst recht für die Frauen galt. Sie stellten sich auf eine neuerlich lange, eventuell Jahrzehnte dauernde Phase des Ringens ein.
Doch plötzlich, im Herbst 1918, spitzt sich die Situation im Deutschen Reich zu: Rasante Momente einer Demokratisierung setzen ein, sie gehen zunächst mit einer Umbildung der Reichsregierung in eine parlamentarisch-demokratische Mehrheitsregierung einher: Am 3. Oktober 1918 wird Max von Baden zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten berufen. Er soll das Kriegsende einfädeln, schonend, mit innen- und außenpolitischen Kompromissen. Auf Druck der Obersten Heeresleitung übermittelt er am 5. Oktober ein Waffenstillstandsgesuch an den amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson auf Basis von dessen 14-Punkte-Plan.
Frauen spielen jetzt scheinbar überhaupt keine Rolle, doch die SPD-Frauen um Marie Juchacz und die bürgerlich-liberalen Frauen um Marie Stritt erspüren die Temperatur und ergreifen die Initiative: In einer konzertierten Aktion verschaffen sie ihrer Stimmrechtsinitiative Gehör gegenüber der neuen Reichsregierung und übersenden dem neuen Reichskanzler Max von Baden, der einen Ruf als liberaler Monarchist und Anhänger von Reformen hat, am 25. Oktober ein Schreiben, in dem sie fordern, bei der Neugestaltung Deutschlands auch die Interessen und Ansprüche der Frauen zu berücksichtigen. Sie bitten um eine Unterredung mit der Spitze der neuen Reichsregierung, um ihre Forderung nochmals eingehend zu erläutern.
Das Frauenbündnis, das dieses Schreiben unterzeichnet, hat inzwischen deutlich an Breite gewonnen: In nie gekannter Einigkeit unterschreiben neben Marie Juchacz für die Frauen in der Mehrheits-SPD und Marie Stritt für den Deutschen Reichsverband für Frauenstimmrecht auch Anita Augspurg für den Deutschen Verband für Frauenstimmrecht und Gertrud Hannah für das Arbeiterinnensekretariat der Generalkommission der Freien Gewerkschaften Deutschlands, dazu Gertrud Bäumer für den Bund deutscher Frauenvereine. Für den Deutschen Frauenausschuß für dauernden Frieden unterzeichnet Lida Gustava Heymann, Helene Lange für die Frauenorganisation der Fortschrittlichen Volkspartei und schließlich Klara Mende für die nationalliberalen Frauen.
Es ist die umfassendste Allianz von Frauen, die es je in Deutschland gegeben hat. Sie sind eine Kraft. Lediglich Frauenorganisationen einiger konservativ-rechter und kommunistisch-sozialistischer Kreise fehlen.
Zu einem Empfang bei der Reichsregierung kommt es allerdings nicht mehr – eine entfesselte Dynamik setzt alle bisherigen Pläne außer Kraft. Und doch herrscht nun eine Aktivität, die den Frauen entgegen kommt.
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Ist im Oktober 1918 das Ende dieses furchtbaren Krieges in Sicht? Mehr als fünfzehn Millionen Menschen hat er bereits das Leben gekostet. Viereinhalb Jahre lang haben Soldaten in Schützengräben einander abgeschlachtet, wurden quer durch Europa 130 000 Tonnen Giftstoff verschossen, die 80 000 Männer töteten und eine Million durch Giftgas Verletzte in Lazarette zwang. Europa, das heißt im Oktober 1918: Verseuchter Boden, zerschossene Wälder, Erde – von Granaten umgepflügt …
Für keineswegs alle ist es vorbei: Otto Dix ist noch immer Krieger. Kurz nach seiner Beförderung meldet er sich zur Ausbildung als Flieger von Gent nach Schneidemühl. Ja, er will jetzt Flieger werden. Seine Auskünfte werden später der Frage »Warum?« nicht ausweichen. Der Nietzscheianer Dix lebt in den Kriegsorgeln einen dionysischen Vitalismus. In der Hölle des Grabenkampfes vor Reims hat er sich auf einer Feldpostkarte Frieden gewünscht. Doch solange der Krieg anhält, weicht er nicht zurück – nicht aus politischen Gründen, sondern aus philosophischen: Krieg gilt ihm als Naturereignis. Er kämpfte meistens dort, wo die Schlacht am schlimmsten tobte, in den Gräben der Westfront. Das hat er sich nicht ausgesucht, doch er ist dem »Vieh Mensch«, zu dem er sich selbst zählt, auch nicht ausgewichen. Noch Jahrzehnte später wird der ehemalige Stoßtruppführer Dix in einem Interview mit der Journalistin Maria Wetzel das wiedergeben, was er im Krieg erlebt hat:
»Schon die Eindrücke auf dem Weg zur Front waren furchtbar«, wird er sich erinnern. »Verwundete und die Gaskranken mit eingefallenen gelben Gesichtern, aufgeweichte, kreideweiße Gräben der Champagne, Leichengestank der herumliegenden Toten (…)«
Die Interviewerin wird ihn 1965 fragen, ob er denn damals keine Angst hatte. Doch, die hatte er. Aber:
»Wenn man vorging an die Front, da war eine Hölle von Trommelfeuer – naja, jetzt kann man lachen –, da war Scheiße in den Hosen … Aber je weiter man vorkam, umso weniger hatte man Angst …«
Im Oktober 1918 verarbeitet Otto Dix das jahrelange Töten in einer Flut von grausigen Bildern, in seinem Tornister steckt noch immer ein Nietzsche – nicht mehr »Die fröhliche Wissenschaft«.
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Oskar Kokoschka ist absolut fertig mit dem Krieg – leider noch nicht körperlich, den Österreicher hat es furchtbar erwischt. Der Maler aus Wien wohnt im Oktober 1918 schon über ein Jahr in Dresden. Und noch immer ist er täglich oberhalb der Elbhänge zu finden, in Dr. Teuschers Sanatorium. Ein Wunder, dass er überhaupt noch lebt. Rasender Kopfschmerz hat ihn in der Zange, seit jene winzige Kugel seine rechte Schläfe durchbohrt hat. Oskar Kokoschka braucht jetzt all seine Kraft, um weiterzuleben. Wird er jemals wieder malen können? Was drunten in der Stadt passiert, erfährt er von seinem Arzt und den Schauspielerfreunden, mit denen er zusammenwohnt.
Im sächsischen Tal herrscht Kriegsalltag, und das heißt vor allem Mangel. Es gibt bei den Winterkartoffeln schmerzhafte Engpässe, die Proteste gegen die sich verschlechternde Versorgungslage nehmen zu. Erste Rufe nach einer Beendigung des Krieges werden laut, doch findet sich in diesen Spätherbsttagen noch keine Spur von einem Umsturz: Die Bevölkerung ist absorbiert von Meldungen wie der vom falschen Kriminalbeamten, der einer Schlosserwitwe elf Eintausendmarkscheine konfiszierte und damit spurlos verschwand, von der Nachricht, der Leipziger Lokführer, der im September ein Zugunglück im Neustädter Bahnhof mit vierzehn Toten verursachte, habe sich inzwischen als farbenblind erwiesen.
In Dresden grassiert zudem eine Grippeepidemie: Die Stadtoberen haben bereits öffentliche Einrichtungen schließen lassen, worauf nun die Leiter der Dresdner Privattheater ins Neue Rathaus marschieren, um gegen die Maßnahme zu protestieren. Die Post bittet, Weihnachtspakete für Soldaten bis spätestens 2. Dezember aufzugeben und sächsische Zeitungsverleger bekunden, jetzt im Heeresdienst stehende Mitarbeiter nach deren Rückkehr wieder einzustellen. In der Königlichen Gemäldegalerie spricht Kunsthistorikerin Frl. Günsche über die Niederländischen Meister … Wirklich nichts weist auf das Kriegsende hin, geschweige denn auf eine Revolution.
Und der sächsische König? Seine Majestät, Friedrich August III., besucht am letzten Oktober-Sonntag den Gottesdienst in der Katholischen Hofkirche. Ein paar Eiserne Kreuze werden verliehen. Kronprinz Georg sucht sich beim Hoflieferanten gute Bücher aus, seine älteste Schwester weilt zum Wettiner-Jubiläum in Bautzen. Es scheint ein Herbstsonntag wie jeder andere in dieser Kriegszeit zu sein. Oskar Kokoschka liegt in einer Badewanne mit Heil-Essenzen.
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Auch Friedrich Wolf hält sich zu dieser Zeit in Dresden auf, er ist als Militärarzt eingesetzt. Seine Lebensgefährtin Käthe Gumpold hat ihn von Berlin, wo Wolf Medizin studierte, mit nach Dresden gezogen – hier hat sie Innenarchitektur und rhythmische Gymnastik studiert, in Hellerau. Und sie hat ihrem schreibenden Medizinstudenten nicht nur von den Kunstschätzen der Elbestadt vorgeschwärmt, sondern auch von den berühmten Werkstätten in Hellerau.
Was ist Hellerau? Zunächst mal eine 1909 gegründete Gemeinde, etwa sechs Kilometer nördlich von Dresden gelegen, am Rande der Dresdner Heide. Doch sie birgt etwas Besonderes: Hier wurde 1910 ein Fabrikgebäude errichtet, in dem seither preiswerte Einzel- und Serienmöbel im sachlichen Stil gefertigt werden – Möbel, von denen jeder Kaiserkitsch abgestreift ist und die schon vor dem Krieg über Dresden hinaus als bahnbrechend wahrgenommen wurden.
Berühmt ist Hellerau inzwischen auch als erste Gartenstadt Deutschlands: Für seine Mitarbeiter benötigte der Fabrikbesitzer praktische Wohnungen in Nähe des Werkes, und das war der Ausgangspunkt für die Anlage einer Gartenstadt: Der Kunstprofessor und Architekt Richard Riemerschmid aus München, auch ein Experte des Jugendstils, der das Münchner Theater um die Jahrhundertwende konzipierte, entwickelte von 1907 an für sechs Jahre den Bebauungsplan von Hellerau. Als Modell standen ihm die englischen Gartenstädte vor Augen, und 1909 begann er schon parallel mit der Entwicklung einer Gartenstadt in Nürnberg.
Hellerau gilt als gelungen und hat sich entwickelt, trotz des Krieges. Denn dahinter steckt eine Idee: Die Mietskasernen der Großstädte sollen überwunden und eine Naturnähe angestrebt werden, die den Bewohnern ein menschliches Lebensgefühl zurückgeben soll. Hier findet auch die Seele eine Wohnung. Bis hierher kommt der Krieg nicht.
Geplant war Hellerau zunächst nur für die Mitarbeiter der neuen Werkstätten, doch mehr und mehr Künstler siedelten sich hier an. 340 Wohneinheiten wurden entwickelt, auf einer Fläche von 140 Hektar. Die Anlage der Straßen erfolgte organisch, indem sie sich dem gegebenen Gelände mit seinen Krümmungen und Höhenunterschieden anpassten. Einfamilienhäuser in Reihen sind entstanden – alle mit einem Garten verbunden. Jede Bauspekulation bleibt von vornherein ausgeschlossen, weil als Bauherr allein die eigens dafür gegründete Baugenossenschaft zuständig ist. Eine Oase, dem Menschen gemäß. Der zweite Schöpfer dieser Oase ist der Architekt Heinrich Tessenow aus Rostock, dessen Werkzeichnungen von Schränken, Stühlen, Tischen und Betten bald zum Basiswissen von Architekturstudenten gehören wird. Hellerau gilt als Heiligtum des modernen Tanzes, auch Pädagogen geraten hier in Reformrausch.
Schon vor dem Krieg kam Friedrich Wolf mit seiner Lebensgefährtin hierher. Nein, es war nicht das Thema des werdenden Arztes, er absolvierte sein Praktikum zunächst in einem Krankenhaus in Meißen, danach in der Städtischen Heil- und Pflegeanstalt in Dresden – Friedrich Wolf wollte Nervenarzt werden. Durch seine Lebensgefährtin macht er sich jedoch mit den Tessenowschen Festspielen bekannt, den Hellerauer Werkstätten. Und befreundet ist er seitdem mit dem Architekten Paul Bender. Am Ende seines Praktikums in Dresden, im Jahr 1913, erhielt der junge Mediziner aus den Händen des sächsischen Innenministers die Approbation als Arzt überreicht. Wolf entdeckte noch ein bisschen die Welt, wurde aber mit Kriegsbeginn 1914 in Dresden als Militärarzt in Stellung gebracht. In den Krieg zog Wolf so begeistert wie Ernst Toller, Oskar Kokoschka oder Otto Griebel. Und auch er war nach zwei Jahren Kriegserfahrung ein starker Gegner dieses Krieges geworden.
Dennoch blieb er vier Jahre lang Offizier in einer sächsischen Division. Und er stieg auf: Im Oktober 1916 verlieh ihm Seine Königliche Majestät das Patent zum Oberarzt. Dr. Friedrich Wolf wurde erst verwundet und später verschüttet, er verbrachte seine Genesungsurlaube im Erzgebirge, in Kipsdorf und Dippoldiswalde.
Kurz nach Kriegsbeginn hatte er seine Lebensgefährtin Käthe Gumpold geheiratet – die beiden liebten sich und Käthe war schwanger. Wolf schrieb viel in den Kasernen, er hatte Nervenzusammenbrüche, wurde in Langemark erneut verschüttet und musste erleben, wie sein Freund Paul Bender eine Handbreit neben ihm fiel. Nun wurde es schlimmer mit ihm – er zwang sich zu arbeiten, schrieb, hatte flatternde Nerven und schon bald einen chronischen Gesichtsmuskeltick.
Mitte September 1918 war Dr. Wolf völlig am Ende, er stieg ins Private aus und folgte seiner Sehnsucht nach der Familie – nach Käthe, die bereits wieder schwanger war, und seiner inzwischen dreijährigen Tochter Johanna. Die Familie wohnt inzwischen in Langebrück bei Dresden, in einem Häuschen mit Garten. Der Oberarzt – noch keineswegs vom Militär entlassen – werkelt im herbstlichen Garten. Nein, er wird nicht an die Front zurückkehren, er wird sich krank melden. Es ist Oktober, und Wolf ist wirklich krank: Wieder muss er ins Genesungsheim nach Kipsdorf, dann wird er nach Dresden zurückbefohlen. Überall fehlen Ärzte, in Dresden müssen jetzt 10 000 Betten herbeigezaubert werden für die vielen aus der Etappe zurücktransportierten Verwundeten!
»1918 in der Heimat«, wird sich Friedrich Wolf später an seine Rückkehr nach Dresden erinnern. »Das Elend in den Lazaretten, die Achtzehnjährigen in den Grippemonaten September, Oktober (…) Ich tue Dienst vierzehn, sechzehn Stunden den Tag, bis zur Bewußtlosigkeit. Ich werde Vertrauensmann des Sanitätspersonals, der Kranken; im Handumdrehen bin ich in der Bewegung.«
Bewegung ist nicht nur in Dresden, Bewegung kommt jetzt in alle Teile Deutschlands. Geht der Krieg seinem Ende entgegen?