Das neue Deutschland geht mit unfassbar vielen Kriegstoten ins erste Friedensjahr. Sachsen musste 1914 bei rund fünf Millionen Einwohnern etwa 750 000 Soldaten und Offiziere stellen. Davon sind 212 783 Gefallene zu beklagen, 19 000 sind vermisst. 334 000 Männer kehrten verwundet zurück, und rund 40 000 Männer befinden sich noch immer in Kriegsgefangenschaft. Die Bilanz für Dresden: 13 880 Gefallene. Eine viel größere Zahl von Heimkehrern ist körperlich verstümmelt, seelisch entwurzelt. Voller Trauer sind Tausende Witwen und Kinder, deren Väter nicht zurückgekehrt sind. Ähnlich sieht es im ganzen Land aus, und überall regt sich Protest gegen die Zurückhaltung der deutschen Kriegsgefangenen, während die der Alliierten bereits ihre Heimreise angetreten haben.
»Heraus mit unseren Gefangenen!«, übertitelt der »Dresdner Anzeiger« am 10. Februar 1919 der Stadtbevölkerung einen Antrag der deutschnationalen Fraktion:
»Bei der Nationalversammlung ist folgender Antrag eingegangen: Die verfassungsgebende Deutsche Nationalversammlung wolle beschließen: Die deutsche Nationalversammlung erhebt Einspruch gegen die Zurückhaltung von Kriegs- und Zivilgefangenen. Die Gefangenen der Verbündeten sind ihrer Heimat zurückgegeben. Es ist eine Forderung der Menschlichkeit und Gerechtigkeit, daß auch die Leiden der deutschen Kriegsgefangenen schleunigst beendet werden. Die Nationalversammlung ruft die Neutralen und das Gewissen der ganzen Welt auf, sich mit ihr zu vereinigen zu der Forderung: den Gefangenen die Heimat, den Familien den Gatten und Vater zurückzugeben, die – jahrelang von den Angehörigen getrennt – mit Ungeduld die Erlösung aus der Gefangenschaft erwarten. Die deutsche Nationalversammlung sendet den Brüdern jenseits der Grenze den Gruß der Heimat zu.«
Der Antrag wird mit großer Mehrheit angenommen.
Schon kurz nach Kriegsende steht alles nebeneinander: Angst und Verrohung, wilde Kreativität, Hunger nach Liebe und wachsender Hass auf Andersdenkende. Nun, wo das Schlachten zu Ende ist, spüren viele: Die Welt ist aus den Fugen. Menschen beginnen, wie wild zu feiern. Oder sie sterben still vor sich hin. In Lazaretten flößen Schwestern zerschossenen Gesichtern karge Nahrung ein, während den ersten Neureichen schon die erlesensten Speisen munden. Alles steht nebeneinander: Hungrige Kriegskrüppel und aus den Nähten platzende Cafés, endlose Einkaufsschlangen und bereits überfüllte Tanzsäle. Getanzt wird exzessiv, taumelnd auf der Naht von Untergang und Zukunftsverheißung.
Die Welt von 1919 ist paradox, und stürmischer als in anderen Städten verläuft in der Kunstmetropole Dresden die Nachkriegszeit. Endzeitstimmung und Aufbruchsfieber überlappen einander und all die kleinen politischen Schlachten werden mit tiefer Leidenschaft geschlagen.
Wirtschaftlich sieht es eher schlecht aus: Der Lebensstandard der Dresdner Bevölkerung ist schon in den ersten Friedensmonaten um ein Drittel heruntergesackt; die Schokoladenbranche leidet unter Rohstoffmangel, die Zigarettenindustrie beginnt, sich von Dresden nach Hamburg zu verlagern. Doch wer sich eine Zeitung leisten kann, der besitzt auch meist noch Kaufkraft: Federbetten werden am 13. Februar im »Dresdner Anzeiger« annonciert und prachtvolle Perserteppiche, hygienische Damenbinden und Krankenfahrstühle, Konfirmandenleibchen und Wärmflaschen, Haarbalsam und Japanvasen … Der Turnverein »Guts Muths« lädt zur Hauptversammlung ein, zu unentgeltlichen Pockenschutzimpfung wird aufgerufen, und an Angehörige des Restheeres werden Kriegsauszeichnungen verliehen. Am 16. Februar gibt es im »Dresdner Anzeiger« eine zornige Großanzeige von 23 Dresdner Möbel-Herstellern:
»Zur Aufklärung!
Um die im Publikum häufig verbreitete Ansicht:
Möbel werden billiger!
richtig zu stellen, gestattet sich der Schutzverband der Möbel- und Dekorationsgeschäfte, e.V., Sitz Dresden, zu erklären, daß alle heute fertigen Möbel in jeder Beziehung preiswert genannt werden müssen. Ein Rückgang der Preise bei Tischler- und Polstermöbeln ist bei den gegenwärtigen hohen Löhnen und Unkosten, die einen Abbau kaum erfahren dürften, ganz unmöglich, zumal auch alle Materialien für die Fabrikation davon beeinflußt sind. Infolgedessen werden jetzt neuangefertigte Möbel eher teurer als billiger und liegt es im Interesse des kaufenden Publikums, seinen Bedarf in den reichhaltigen Lägern der unterzeichneten Mitglieder zu decken, deren Firmen für eine korrekte Preisstellung bürgen.«
***
Im Februar 1919 wird der Aufbruch in die Demokratie in eine adäquate juristische Form gegossen. Die aus dem 19. Januar hervorgegangene Nationalversammlung tritt am 6. Februar zu ihrer konstituierenden Sitzung zusammen. Man entschied sich für die Thüringer Stadt Weimar – zum einen aufgrund der bürgerkriegsähnlichen Zustände in Berlin. Doch hofft Friedrich Ebert mit Blick auf die zur gleichen Zeit tagende Pariser Friedenskonferenz auch, Weimar als Heimstatt der freiheitsliebenden deutschen Klassik werde seine Wirkung auf das Ausland nicht verfehlen. Und nicht zuletzt soll die Wahl der Stadt Abneigungen in weiten Teilen Deutschlands gegenüber einem übermächtigen Preußen und seinem Zentrum Berlin zerstreuen. Nach der Wahl Friedrich Eberts zum Reichspräsidenten und der Beauftragung Philipp Scheidemanns mit der Regierungsbildung am 11. Februar 1919 kann die Weimarer Koalition aus SPD, Zentrum und Deutsche Demokratische Partei ihre Arbeit aufnehmen.
Weit oben auf dem politischen Parkett sind endlich auch die Frauen angekommen, wie ein Blick nach Weimar zeigt. Hier darf nun zum ersten Mal ein weibliches Parlamentsmitglied das Wort ergreifen. Es ist Marie Juchacz, Marie Stritts sozialdemokratische Mitstreiterin beim Kampf um das Frauenwahlrecht: »Ich erteile das Wort der Frau Abgeordneten Juchacz« – kurz, sachlich und ohne Hinweis auf die Bedeutung des Augenblicks kündigt der Präsident der Weimarer Nationalversammlung, Constantin Fehrenbach von der Zentrumspartei, am Mittwoch, dem 19. Februar 1919, den kommenden Redebeitrag an. Und doch ist es ein besonderer Moment in der Geschichte des deutschen Parlamentarismus. Denn an diesem 11. Sitzungstag des neugewählten Parlaments hält mit der vierzigjährigen SPD-Politikerin Marie Juchacz aus Landsberg an der Warthe zum ersten Mal in Deutschland eine Frau eine Rede vor einem demokratisch gewählten Parlament. Mit der ungewöhnlichen Anrede »Meine Herren und Damen!« löst die alleinerziehende Mutter zweier Kinder laut Protokoll Heiterkeit im Hohen Haus aus.
»Es ist das erste Mal, dass in Deutschland die Frau als Freie und Gleiche im Parlament zum Volk sprechen darf«, leitet denn die Sozialpolitikerin auch ihre rund vierminütige Ansprache ein. Und setzt selbstbewusst fort:
»Ich möchte hier feststellen, und glaube damit im Einverständnis vieler zu sprechen, daß wir deutschen Frauen dieser Regierung nicht etwa in dem althergebrachten Sinne Dank schuldig sind. Was diese Regierung getan hat, das war eine Selbstverständlichkeit: Sie hat den Frauen gegeben, was ihnen bis dahin zu Unrecht vorenthalten wurde.«
Gemeint ist das Wahlrecht.
Die Sozialdemokratin erhält viel Beifall für ihre ruhige und souveräne Ansprache – jedoch nur aus den eigenen Reihen. Andere schwatzen und kommentieren das Gesagte, sodass Präsident Fehrenbach mit der Glocke eingreifen muss. »Die Unterhaltung wird hinter dem Präsidialtische mit einer derartigen Lebhaftigkeit geführt, daß es dem Präsidium nicht möglich ist, die Rednerin zu verstehen (…) Ich kann das nicht weiter dulden. Ich bitte, hier Ruhe zu halten!«, tadelt der Katholik Constantin Fehrenbach.
Nun kann die Abgeordnete auf die kommenden Aufgaben des Parlaments eingehen, auf die Situation im Land nach dem verlorenen Weltkrieg sowie auf die Kritik an der neuen Regierung:
»Ich will nur feststellen, daß sich auch unter dem alten Regime Raub, Mord, Diebstahl und Verbrechen aller Art in so erschreckender Weise gehäuft haben (…) Ich werte all diese Erscheinungen rein menschlich; sie sind geboren aus der Not und dem Elend des Volkes. Der Krieg ist kein Jungbrunnen der Moral!«
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Den Wahlen zur Nationalversammlung im Januar folgen nun überall die Landtags- und Kommunalwahlen. Auch in Sachsen wird im Februar zweimal gewählt. Da ist zum einen die Volkskammer, eine Art Vorparlament: Am 15. November 1918 übernahmen sechs »Volksbeauftragte« die vorübergehende Regierungsgewalt: Sie erließen am Tag nach Weihnachten ein Wahlrecht für eine »vorläufige Vertretung des gesamten Volkes der Republik Sachsen«. Dieses Vorparlament, das sich nun »Volkskammer der Republik Sachsen« nennt, wird am 2. Februar 1919 gewählt. Das Ergebnis? Von den 96 Volkskammerabgeordneten werden 42 Sozialdemokraten (MSPD) sowie 15 USPD-Mitglieder gewählt. Die Deutsche Demokratische Partei (DDP) erhält 22 Sitze, die Deutschnationale Volkspartei 13 und die Mitglieder der Deutschen Volkspartei (DVP) 4 Sitze.
Damit verfehlt die MSPD zwar ihr Ziel der absoluten Mehrheit, erreicht diese aber gemeinsam mit der USPD. Neben den 57 sozialdemokratischen Abgeordneten ziehen somit 39 Abgeordnete bürgerlicher Parteien in die Volkskammer ein. Auf der konstituierenden Sitzung am 25. Februar werden der Sozialdemokrat Julius Fräßdorf zum Volkskammerpräsidenten sowie der USPD-Politiker Richard Lipinski und der Demokrat Dr. Dietel zu Vizepräsidenten gewählt.
Die Volkskammer beschließt drei Tage später »Das vorläufige Grundgesetz für den Freistaat Sachsen«, womit auch die neue Staatsbezeichnung ihre verfassungsrechtliche Grundlage erhält. Bis zum 26. Oktober 1920 wird die Volkskammer eine »Verfassung des Freistaates Sachsen« erarbeiten, auf deren Basis dann Wahlen zum ersten Landtag erfolgen. Nicht mehr der Fürst beruft sein Kabinett – der Ministerpräsident und die einzelnen Ressortminister werden unter Teilnahme der Landtagsfraktionen ins Amt eingesetzt.
Was 100 Jahre später fast schon langweilige Normalität ist, das ist 1919 zum Staunen neu. Demokratie – sie scheint zu funktionieren. Wahlberechtigt sind auf einmal alle Erwachsenen, Frauen und Männer. Jede Stimme gilt gleich viel. Und erstmals dürfen jetzt auch weibliche Abgeordnete in den Landtag gewählt werden. Obwohl die neue Volkskammer zunächst Traditionen der Zweiten Kammer aus der Monarchie übernimmt, kommen nun in der neuen, demokratischen Vertretungskörperschaft Abgeordnete zusammen, die unterschiedlichster sozialer Herkunft sind und eine gemeinsame Basis für ihre Zusammenarbeit finden müssen. Das Parlament hat das Recht, Gesetze zu initiieren und darf erstmals auch seine Geschäftsordnung ohne Vorgaben festlegen. So kann die Regierung nicht mehr Parlamentsdebatten in dem Ausmaß steuern, wie das bisher der Fall war – eine Volksvertretung ist entstanden, die den Namen auch verdient.
Harmonie ist damit keineswegs programmiert. Die USPD will eigentlich ein anderes Regierungssystem: Ihre Fraktion formuliert eine Entschließung zum vorläufigen Grundgesetz für die künftige Entwicklung Sachsens als »demokratisch-sozialistischer Freistaat«. Da geht die MSPD-Fraktion gerade noch mit. Bei der Forderung der USPD eines »Zweikammersystems« jedoch – mit Parlament einerseits und Arbeiter- und Soldatenrat andererseits – folgt prompt die Ablehnung. So kommt es nicht zu einer gemeinsamen Regierung, sondern zu einer Minderheitsregierung der Mehrheits-SPD, in der Dr. Georg Gradnauer das Amt des Ministerpräsidenten übernimmt. Seiner Wahl ist ein knapper Ausgang beschieden.
Dennoch, es ist losgegangen, das Bild im Parlamentssaal ist nur leicht ungewohnt. Denn viele Frauen sind es nicht gerade, die im Februar 1919 in der Sächsischen Volkskammer Platz nehmen – insgesamt 3 … von 96 Abgeordneten. Immerhin, ein Anfang ist gemacht, der Aufbruch der Frauen lässt sich nicht mehr ungeschehen machen.
Am 25. Februar 1919, der ersten Sitzung im Dresdner Ständehaus, nehmen im Parlament Platz: Julie Salinger, die als Mitbegründerin und Delegierte der Deutschen Demokratischen Partei einzieht, neben sieben männlichen Abgeordneten der DDP. Julie Salinger, geboren im ostpreußischen Ortelsburg und Mutter zweier Kinder, hat sich in Dresden bereits zu Kriegszeiten einen Namen gemacht: Sie gehörte dem Zentralausschuss der Kriegsorganisation Dresdner Vereine an, organisierte Volksküchen und kümmerte sich um in Not Geratene. Gegen Kriegsende gründete sie mit Marie Stritt und anderen Engagierten den Stadtbund der Dresdner Frauenvereine, dessen Vorstand sie nun angehört. Mitgegründet hat Julie Salinger in der Umbruchzeit auch die liberal, national und sozial orientierte Deutsche Demokratische Partei, die dem Bildungsbürgertum nahesteht. In der Volkskammer wird sie im Rechenschafts- und im Prüfungsausschuss mitarbeiten.
Die zweite weibliche Abgeordnete ist 1919 die Chemnitzer Sozialdemokratin Helene Wagner. Sie ist debattenfreudig, bodenständig und kümmert sich um die Versorgung mit Lebensmitteln. Sie kritisiert die Missstände in der Heimindustrie und fordert Gesetze, welche die Heimarbeit schützen soll. Auskunftsfähig ist die Chemnitzerin zum Volksschulwesen und zum Wohlfahrtspflegegesetz. 1920 wird sie im Prüfungsausschuss sitzen, sich um die wirtschaftlichen Verhältnisse von Hebammen kümmern und unentgeltliche Geburtshilfen fordern. Auch Helene Wagner achtet darauf, dass Frauenthemen im Abgeordnetenhaus nicht mehr unter den Tisch fallen.
Für die USPD zieht die Leipziger Hausfrau und Sekretärin Anna Geyer in die Volkskammer ein. Ihr persönliches und politisches Leben ist eng mit dem des Journalisten Curt Geyers verknüpft, einem Redakteur der »Leipziger Volkszeitung« – dem faktischen Zentralorgan der sächsischen USPD. Seit die beiden 1917 geheiratet haben, ist die junge Frau aus Leipzig stets an der Seite ihres Mannes, den die Novemberrevolution über Nacht ins politische Rampenlicht gespült hat: Der Journalist gehört nun dem engeren Ausschuss des Leipziger Arbeiter- und Soldatenrates an, ebenso dem Vorstand der USPD und ist schon bald ein führender Sprecher der Rätebewegung. Dem Ehepaar Geyer ist die traditionelle parlamentarische Politik zu zahm: Eine Diktatur des Proletariats muss her – und zwar radikal verwirklicht in einem Rätesystem, möglichst in Union mit Moskau! Curt Geyer forciert die Eingliederung der USPD in die Kommunistische Partei und unterhält bereits enge Kontakte zu Paul Levi, dem aktuellen Vorsitzenden der Kommunistischen Partei – auch er ein linker Radikaler. In ihrer ersten Rede in der Sächsischen Volkskammer, in der es Anna Geyer um die Errungenschaften der Revolution geht, beschwört sie den großen Kampf der Arbeiterschaft – gegen das Bürgertum, das eben diese Errungenschaften der Novemberrevolution mit allen Mitteln zu unterdrücken versuche. Ihre Anwesenheit im Dresdner Parlament wird über die Sommermonate unregelmäßiger, und im Oktober 1919 gibt Anna Geyer ihr Mandat ganz auf, um an der Seite ihres Mannes zu sein. Dessen hauptsächliche Aktivitäten haben sich von Leipzig nach Berlin und mehr noch nach Hamburg verlagert, wo Curt Geyer inzwischen für die ultraradikale »Hamburger Volkszeitung« schreibt.
Ein dickes Bündel von Problemen gilt es zu lösen, und keineswegs alle sind auf den ersten Blick Frauenthemen: Die Kriegsgesellschaft muss auf Friedensverhältnisse umgestellt werden. Ein Demobilmachungsgesetz ist zu erlassen. Die Heimkehrer sind in Arbeit zu bringen. Mit der Wirtschaft sieht es schlecht aus. Viele Männer sind von der Front zurückgekehrt, deren Arbeitsplätze von Kriegsgefangenen und Frauen besetzt wurden. Gerade die Männer aber sollen sich vom Soldaten wieder zum Ernährer der Familie wandeln. Reibungslos verläuft das nicht, denn keineswegs alle Arbeitgeber wollen die erschöpften Krieger gegen frischere Kräfte eintauschen. Auch weigern sich viele Frauen, ihre Arbeitsplätze in der Industrie freiwillig zu räumen und dafür in häusliche Dienste oder die typischen Frauenbranchen zurückzukehren. Ohnehin können Textil- und Bekleidungsindustrie aufgrund des Kohle- und Rohstoffmangels derzeit kaum Arbeitskräfte aufnehmen.
Die drei weiblichen Abgeordneten bringen sich im Frühjahr 1919 unter anderem bei den Themen Abänderung der Ärzteordnung aus dem Jahr 1904 ein (Salinger), Aufhebung der See-Blockade Englands (Wagner und Salinger), Interpellation zur Unterbindung des Eisenbahnverkehrs nach Leipzig (Geyer), Missstände in der Heimindustrie (Salinger und Wagner), die »Schlußberatung über den Nachtrag zum ordentlichen Staatshaushaltsplan auf die Jahre 1918 und 1919«, und zwar zu Landwirtschaft, Handel und Gewerbe im allgemeinen, Gewerbe- und Dampfkesselaufsicht, allgemeine und unvorhergesehene Ausgaben im Geschäftsbereich des Ministeriums des Innern (alle drei). Die Abgeordnete Anna Geyer trägt eine Petition der »Studentinnen der Rechte an der Universität Leipzig um Zulassung zu den juristischen Staatsprüfungen und Ermöglichung der Ausübung der juristischen Berufe betreffend« vor. Und immer wieder geht es auch um Bildung und Erziehung: um ein Gesetz zur Gemeinschaftserziehung von Jungen und Mädchen an höheren Schulen, um die Nutzbarmachung des Kinowesens für Volkserziehung und Volksbelehrung sowie eine Beratung über die Entschließung der »Arbeitsgruppe der kämpfenden Jugend Leipzigs gegen den Schmutz und Schund in Wort und Bild«.
Die drei weiblichen Abgeordneten haben voll zu tun.
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Am Ende des Februars kann man staunen, wie schnell die Dresdner Kultur, wie schnell das Vergnügungswesen wieder erblüht sind. In nur zwei Tagen, den 23. und 24. Februar 1919 wird im »Dresdner Anzeiger« zum Kino, zum Tanz, ins Theater oder zum Weintrinken aufgerufen:
Die Vaterland Lichtspiele am Freiberger Platz zeigen täglich bis Donnerstag 4 bis 5 Uhr »Die letzten Tage von Pompeji«, den kolossalen Kulturfilm in sechs Akten. Dazu spielt eine Künstlerkapelle, gibt es eine gute Rezitation. Das Ganze zu 60 Pfg. für Erwachsene und zu 40 Pfg. für Kinder.
Die Lichtspiele in der Moritzstraße zeigen ab morgen täglich 3 Uhr den großen Kultur- und Aufklärungsfilm gegen den Mädchenhandel »Der Weg, der zur Verdammnis führt, II. Teil – Die Sühne der Anne Wolter«. Der Stummfilm in fünf Akten läuft unter dem Protektorat des Deutschen Nationalkomitees zur internationalen Bekämpfung des Mädchenhandels.
Die Fata Morgana Lichtspiele bringen »Das Buch des Todes«, ebenfalls mit Künstlerkapelle, die Voranzeige kündigt schon mal den großen Film »Opium« an.
Der Zirkus Sarrasani ist wieder frei für Zirkusveranstaltungen, zudem gastiert hier das Trocadero-Kabarett.
Die Theaterpläne für die Dresdner Bühnen stehen. Das Konservatorium lädt für den Freitag zum öffentlichen Prüfungskonzert ein.
Den Stegreifdichter Oskar Burger, den die Direktion Buntes Theater im Tivoli-Palast für einen Hochstapler hält, lädt sie ein, gegen Deutschlands besten Schnelldichter Herrn Neubert anzutreten. Herr Neubert wiederum ist bereit, die Dichterschlacht auszukämpfen – die Direktion setzt eine Prämie von 1000 Mark für den Sieger aus.
Der Neue Sachsenpalast am Neumarkt gibt bei erstklassiger Küche ein Künstlerkonzert, der Kaiser-Palast ein Kaffee-Konzert mit Gesangssolisten, bei freiem Eintritt.
Und erst das Tanzen – das Angebot liest sich, also wolle Dresden sich sonntags das Kriegstrauma aus Leib und Seele tanzen: Das Dampfschiff-Hotel Blasewitz wiederholt seinen Wiener Walzer- u. Operettenabend mit Tanz, das Eldorado annonciert einen Öffentlichen Ball. Im Carolagarten ist am Sonntag Eröffnungsball. Der Paradiesgarten in Dresden-Zschertnitz gibt zweimal pro Woche ein Großes Ballfest, auch das Kurhaus Klotzsche gibt am Sonntagnachmittag einen Großen Ball. Der Tanzpalast Odeum veranstaltet einen »Feinen Kavalier-Ball«.
Überhaupt fein – der Zusatz scheint wichtig, und hundert Jahre später kann man überlegen, ob das die Kleidung und damit den Preis für die Getränke meint, oder ob die Herren hier feiner mit Damen umgehen. Vielleicht auch beides. So gibt das Kurhaus Bühlau einen Feinen Ball mit einer Tonkünstlerkapelle, der Gasthof Weißig eine Feine Öffentliche Ballmusik. Im Rittersaal des Gasthof Roßthal erwartet die Gäste ein Feiner Ball, im Erbgericht Niederpoyritz ebenfalls. Im Burgberg Loschwitz und im Ratskeller Plauen wird zur Abwechslung mal für ein Künstlerkonzert geworben. Doch schon in der Goldenen Krone Strehlen und im Erbgericht Niederpoyritz lockt die Dresdner wieder ein Feiner Ball. Am Wilden Mann gibt es jeden Sonntag einen Feinen Ball, jeden Mittwoch aber nur: Ball! Der Feine Ball im Schusterhaus und die Ballmusik in Donaths Neue Welt lassen vermuten, dass wenigstens die Nachkriegsmusiker ein gutes Auskommen hatten. Die Saloppe in Loschwitz bietet neben einem Tanzabend einen Skat- und Billardklub. Zum »Liebesreigen« im Tivoli-Palast kommen hoffentlich viele, denn die Zahl der Kinder muss endlich wieder nach oben! Das Schusterhaus auf der Hamburger Straße feiert schon mal den kommenden Faschingsdienstag an …
Den Kriegsversehrten, die kein Tanzbein mehr schwingen können, bleiben die Weinstuben, insofern sie sich Wein leisten können: Die Weinstuben Zum Niersteiner auf der Grunaer Straße locken mit erstklassigen Weinen, die Weinstube Zum Vater Rhein auf der Bautzner Straße bietet musikalische Unterhaltung zum Schoppen. Auch das Weinrestaurant Hotel Reichspost auf der Großen Zwingerstraße wartet mit einem Künstler-Konzert auf.
Das Hotel-Restaurant Goethe-Garten hat ab 1. März eine neue Bewirtung, und das Konzerthaus auf der Reitbahnstraße am Hauptbahnhof erweist sich nicht als Musik-Tempel, sondern als »Vornehmste Grossstaedtische Einkehrstaette« …
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Der Romanist Victor Klemperer ist mit seiner Frau Eva inzwischen von Leipzig nach München gewechselt. Es gibt dort für ihn Hoffnung auf eine Professur im Laufe des Jahres. Zunächst aber wird er an der Münchner Universität Kurse im »Kriegnotsemester« unterrichten, das jungen Kriegsteilnehmern ein schnelles Nachholen des Abiturs ermöglicht.
Zugleich wird er Zeitungsschreiber, quasi inkognito. Denn zu seinem Leipziger Freundeskreis gehört ein Redakteur der nationalkonservativen »Leipziger Neueste Nachrichten«, der Klemperer Anfang 1919 spontan als Korrespondenten anheuert: »Wenn Sie in München sind, sollten Sie uns Berichte schreiben.« Das ist ideal für den leidenschaftlichen Tagebuch-Verfasser – und es winkt ein Zubrot. Für seine Leipzig-Beiträge wählt er das Kürzel »A.B.« Ausgeschrieben heißt das »Antibavaricus«, und der Name ist Programm: Victor Klemperer mag Bayern nicht sonderlich. Er kennt München aus seiner Studienzeit und betrachtete die Stadt stets etwas belustigt, spöttisch, polemisch. Das gilt nun auch für das, was in München als Revolution firmiert. Er kann es nicht ganz ernst nehmen: »Es war eine Gaudi, ein politischer Fasching«, wird er notieren.
Doch derzeit brodelt es mächtig in München: Bereits am 8. November 1918 hatten Arbeiter- und Soldatenräte Kurt Eisner ins Amt des Bayrischen Ministerpräsidenten katapultiert – ausgerechnet einen ehemaligen »Vorwärts«-Redakteur und auch noch einen »saupreußischen«, wie mancher bayrische Revoluzzer mäkelte. Doch als Anführer der Novemberrevolution und nach dem Sturz des letzten Bayrischen Königs Ludwig III. rief Eisner die junge Bayrische Republik als »Freistaat Bayern« aus – ein Anstoß, den durchaus auch der sächsische Arbeiter- und Soldatenrat aufgriff.
Das wuselt und schwärmt sich seitdem in München dahin. Auch der Schriftsteller Ernst Toller ist geistig angekommen: Zwar kommt er nicht mehr zum Schreiben, doch ist er jetzt sozialistischer Revolutionär und der Zweite Vorsitzende des Zentralrats der Bayrischen Arbeiter-, Bauern- und Soldatenräte. Das frisst Zeit.
Victor Klemperer notiert am
»Donnerstag Abend, 6.II.19
Um vorläufig dem schrecklichen Hôtelzustand ein Ende zu machen, habe ich heute zwei Zimmer mit voller Pension in der Schellingstr. 1 gemietet, nach vielem Handeln für etwa 600 M. im Monat. (…)
Immerhin, bis ins Frühjahr geht das, u. bis dahin läßt sich doch wohl ein billigerer Unterschlupf finden (…) Was sollten wir sonst tun?
(…)
Heute Abend war ich mit Eva im Odeonssaal zu einer Liebknechtfeier. Gustav Landauer sprach, die angekündigte Musik fiel aus. Das soll, zusammen mit einer Feier für die Kriegsteilnehmer, die in der Univ. am Sonnabend stattfindet, ein Feuilleton für Mack ergeben. Landauer ein winziges, schmales, schwarzberocktes Männchen, schwarze Mähne, schwarzer Vollbart. Predigtton + Berliner Jargon. Religiöse Klänge + Sowjetradicalismus. Religiös verstiegen: Unsterblichkeit des schaffenden Geistes in uns. Das Göttliche des Menschen. Liebknecht ein Vorbild. – Zur Arbeit auf dem Arbeitssaal kam ich heute gar nicht.«
Am nächsten Vormittag gibt es noch einen Nachtrag zum 6. Februar:
»Gestern klebten Zettel an den Telegrammtafeln der N.N.: ›Die Demonstration unterbleibt, da die Verhandlungen für die Erwerbslosen einen günstigen Verlauf nehmen.‹
Es muß Großes geplant gewesen sein; denn als wir Abends schadenfroh auf dem Bahnhof nachsehen sollten, wieviel Verspätung der Berliner D-Zug diesmal gehabt (starker Schneefall!) – es war aber nicht mehr festzustellen – stand in der Außenhalle ein mächtiges Maschinengewehr aufgefahren u. ein Plakat klebte: ›Um 10 Uhr verlassen alle Nichtreisende den Bahnhof.‹«
Das Paar findet eine Wohnung in Universitäts-Nähe. Dr. Klemperer gibt seine erste Vorlesung über französische Literatur – mit Lampenfieber, doch erfolgreich. Dass er noch Soldat ist, ändert sich am Montag, dem 10. Februar 1919, allerdings:
»In München war meine erste Sorge die Entlassung vom Heer. Sie ging sehr rasch, alles erledigte sich in ein paar Stunden. Ich brauchte kein Kleidungsstück abzugeben, erhielt freilich auch kein Bekleidungsgeld, sondern nur 50 M. zur Entlassung. In Sachsen ist das anders. Man wird ärztlich auf ansteckende Krankheiten untersucht. Ich fürchtete lange Procedur u. sagte dem Arzt, Georg habe mich vor wenigen Tagen gesund gefunden. ›Einen Augenblick‹, erwiderte er. ›Um der Form Genüge zu tun, tun’s Ihren Geschlechtsteil heraus!‹ – ›Bitte!‹ – Ohne hinzusehen, gleichzeitig: ›So, danke, hier ist die Unterschrift.‹
Ich traf einen Kameraden vom Felde, Unteroffizier, der Gendarm werden will. Er klagte verzweifelt, er habe eben die Wache zusammenstellen sollen, es gehe aber nicht, denn die Leute hätten keine Lust gehabt. Ich aß noch einmal in der Uoff.-Kantine.«
Die Geschlechtsteile entlassener Soldaten zu inspizieren, ist keineswegs eine Vorliebe des Münchner Arztes: Mit der Rückkehr der Überlebenden aus dem Feld sind in ganz Deutschland auf dramatische Weise die Geschlechtskrankheiten angestiegen, sind bereits unzählige Ehefrauen und erwartungsvolle Freundinnen infiziert.
Kurt Eisners USPD musste bei der bayrischen Landtagswahl Ende Januar 1919 eine schwere Niederlange hinnehmen. Damit naht das Ende jener Phase des politischen Experiments, das von pazifistischen und anarchistischen, im Grunde genommen gutwilligen Intellektuellen geprägt war. Am Morgen des 21. Februar 1919, unmittelbar vor seiner geplanten Rücktrittserklärung, fällt in München Kurt Eisner dem Mordanschlag eines völkischen Korpsstudenten zum Opfer. Ernst Toller wird sofort nach dem Tod Kurt Eisners dessen Nachfolger als Vorsitzender der bayrischen USPD. Der Versuch, eine sozialistische Republik nach rätedemokratischem Muster durchzusetzen, findet immer weniger Anhänger in der Mitte der Gesellschaft, doch mehren sich jetzt eruptiv die radikalen Auswüchse von rechts und von links.
Als am 26. Februar der Trauerzug mit dem Sarg Kurt Eisners durch München zieht, begleitet ihn auch der Gefreite Adolf Hitler. Er gehört seit kurzem zu den Vertrauensmännern seines Regiments und arbeitet dadurch mit der Propaganda-Abteilung der neuen bayrischen Regierung zusammen: Adolf Hitler soll seine Kameraden in Demokratie schulen. In solcher Funktion nahm er am 16. Februar 1919 mit seinem Regiment auch an einer Demonstration des »Revolutionären Arbeiterrates« in München teil. Wirklich nichts weist zu dieser Zeit auf seine verheerende Rolle für die Welt hin. Und nichts weist auf das spätere Schicksal des Juden Victor Klemperer hin, der in München fast täglich notiert, was um ihn herum passiert, auch am 24. Februar 1919:
»Montag Abend gegen 10 Uhr.
Über der Universität die rote Fahne; geschlossen bis zum Donnerstag. Ständige Unklarheit der Lage: Räterepublik proklamiert? Nicht proklamiert? Bürgerliche Blätter sind unterdrückt, die sozialistischen drücken sich unklar aus. –
Gestern Nachm. schwerer Zusammenstoß mit Hans M., der ganz proletarisiert, ganz unter dem Einfluß des fanatischen Wekerle steht. Danach in der Stadt; Absperrungen in der Nähe des Promenadenplatzes, wo an der Eisner-Mordstelle ein Kranz hing. Ein biederer Landser mit Gewehr, Stahlhelm, Handgranate: ›Geht weiter Leut, hier müssen wir freies Schußfeld haben.‹ Dabei war keine Gefahr zu sehen. Gegen Abend kamen Lerchs zu uns; sie hatten den Dr. Levien am Schillerdenkmal sprechen hören. Bevor er anfing, richtete man aus einem Auto Gewehre gegen alle offenen Fenster, bis sie geschlossen wurden. Er forderte 10 000 Geiseln u. Bewaffnung des Proletariats.«
»Mittwoch Abend 26./II. 19
Der Wahnsinn hier geht weiter. Man controlliert jetzt Briefe auf ›falsche‹ Nachrichten ins ›Ausland‹ – so wird wohl mein Feuilleton angehalten worden sein (…) Heute Vormittag Glockenläuten, schwarze u. rote Fahnen u. regelloses (Gaudi-)Schießen zu Eisners Begräbnis. Hans M. – nach Tisch bei ihm – strahlt über den Sieg des Proletariats und belächelt meine Empörung über all diesen Unsinn u. die Vergewaltigung (Geiseln!). Wekerle mit fanatischem Gesichtsausdruck, ständig um ihn. Ich ginge nicht mehr hin, wäre es nicht aus vielfachem Egoismus (um Nachrichten u. Lebensmittel zu erhalten, den Pelz zu verkaufen, im schlimmsten Fall eine Rückendeckung zu haben). Er ist mir ganz fremd geworden.«
Nach Eisners Ermordung radikalisiert sich die politische Lage in Bayern. Im April 1919 werden hintereinander zwei bayrische Räterepubliken ausgerufen – die erste von Idealisten wie Gustav Landauer, Erich Mühsam und Ernst Toller. Schon eine Woche später übernehmen KPD-Kader wie Max Levien und Eugen Leviné die führenden politischen Posten: Sie schaffen militärische Strukturen und beginnen mit dem Aufbau einer »Roten Armee«. Ernst Toller steigt jetzt noch einmal auf: Er wird stellvertretender Stadtkommandant von München und Abschnittskommandant der »Roten Armee« im Münchner Westen, wo es den ihm unterstellten Einheiten noch kurzfristig gelingt, die gegen die Räterepublik mobilisierten und bereits nach Dachau vorgedrungenen Freikorpsverbände zurückzuschlagen.
Nach der militärischen Niederschlagung der Räterepublik Anfang Mai 1919 durch Freikorps- und Reichswehrtruppen taucht Toller unter, wird jedoch gefasst und wegen Hochverrats zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt. Er hat noch Glück. Der sanftmütige Gustav Landauer nicht, er wird nach seiner Verhaftung schwer misshandelt und dann erschossen. So wie ihm ergeht es vielen Räterevolutionären.