»Lord Byron erwachte eines Morgens und fand, daß er berühmt sei; die Dresdner erwachten am Morgen des 9. November 1918 und fanden, daß sie, die sich in einem Königreiche schlafen gelegt, nun in einer Republik lebten«,
resümiert zum ersten Revolutionsjubiläum der Dresdner Philosophieprofessor Dr. Friedrich Purlitz und steigt tiefer in die Geschichte hinein:
»Eins der gewaltigsten Ereignisse der Geschichte, das man sich sonst nur als von Guillotine und Jakobinermützen begleitet vorstellen konnte, die Ersetzung des Königtums durch die Republik, war über Nacht vor sich gegangen, und zwar, wie Fritz Reuter sagt, ›allens mit Orndlichkeit‹, nur das Offizierskasino des 2. Grenadierregiments Nr. 101 hatte daran glauben müssen; es war der Zerstörungswut einer Anzahl Soldaten anheim gefallen. Auch die Hoflieferantenwappen an den Geschäften verschwanden bereits in wenigen Tagen.«
Wie war das vor einem Jahr? An die friedliche Neuordnung erinnert Friedrich Purlitz noch einmal, an das fast harmonische Ersetzen einiger aus der königlichen Verwaltungslaufbahn hervorgegangenen Minister durch sozialdemokratische Parlamentarier – doch wirklich zunächst nur einige: Statt eines blutigen Umsturzes, einer unablässig herabsausenden Guillotine oder den Lenin-Trotzki’schen Massenerschießungen haben sich die neuen sächsischen Politiker vor allem der Mehrheitssozialisten dafür entschieden, auch das Wissen und die Fähigkeiten ihrer Vorgänger mit in die neue Zeit zu nehmen. In gegenseitigem Respekt empfing also der königliche Innenminister Graf Vitzthum von Eckstädt bereits im Oktober 1918 die sozialdemokratischen Landtagsabgeordneten Fräßdorf und Sindermann. Es gab mehrere von gegenseitigem Respekt getragene Gespräche zur Reform der beiden Kammern, ein bisschen diskutierte auch der König mit. Und als am Ende die Sozis mitteilten, die Fraktion hege starke Bedenken gegen die derzeitigen Inhaber der Ministerposten, mit Ausnahme des erst seit dem 1. Juli 1918 amtierenden Justizministers Dr. Heinze, zeigten die nun ausrangierten Minister durchaus Verständnis. Die Schärfe kam ja vor allem von den Unabhängigen Sozialdemokraten, der USPD. So wurden Hindernisse aus dem Weg geräumt und Zugeständnisse gemacht:
»(…) auf der Bahn zu Reformen im liberalen Sinne. Am 5. November entwickelte Minister Dr. Heinze in der Zweiten Kammer das Programm der neuen Regierung und wiederholte seine Darlegungen am folgenden Tage in der Ersten Kammer. Es war die letzte Sitzung des sächsischen Oberhauses. Die Zweite Kammer hielt noch am 7. und 8. November kurze Sitzungen ab, dann gehörte der sächsische Landtag nach 87jährigem Bestehen der Vergangenheit an.
Die rasch vollzogene Parlamentarisierung der Regierung konnte nämlich nicht verhindern, daß die revolutionäre Bewegung, die sich seit dem 3. November von den deutschen Hafenstädten aus über das Reich zu ergießen begann, auch Sachsen ergriff. Am 8. November abends brach die Revolution im Anschluß an eine erst harmlos scheinende Kundgebung unzufriedener Verwundeter auf dem Altmarkt in Dresden aus; es bildete sich ein vorläufiger Arbeiter- und Soldatenrat, der in der Nacht zum 9. November die Leitung der gesamten Geschäfte der Garnison Dresden in seine Hände nahm. Die königliche Familie verließ noch in derselben Nacht Dresden.
Nun überstürzten sich die Ereignisse, ohne daß es jedoch zu Blutvergießen kam. Die unabhängige Sozialdemokratie bildete am 9. November einen Exekutivausschuß, der sich ebenfalls Arbeiter- und Soldatenrat nannte und die tatsächliche Gewalt von dem in der vorhergehenden Nacht gebildeten Arbeiter-und Soldatenrat übernahm, ehe noch der Bürgerschaft der abermalige Wechsel der Regierung zum Bewußtsein kam. Größere Trupps der Unabhängigen besetzten das Generalkommando, das Telegraphenamt, das Postamt, das Polizeipräsidium und das Rathaus. Spätabends kam dann zwischen beiden sozialistischen Gruppen eine Einigung dahin zustande, daß ein vereinigter revolutionärer Arbeiter- und Soldatenrat geschaffen wurde, worin sich die Angehörigen beider sozialdemokratischer Parteien zu gemeinsamer Arbeit zusammenfanden. In der Nacht zum 10. November machten sie durch einen Aufruf an das sächsische Volk bekannt, daß der König seines Thrones entsetzt sei und die Dynastie Wettin aufgehört habe zu existieren. Die erste Kammer wurde aufgelöst, für die künftige, auf dem Einkammersystem beruhende Volksvertretung wurden Neuwahlen auf der Grundlage des allgemeinen, gleichen, unmittelbaren und geheimen Wahlrechts für alle über 20 Jahre alten Männer und Frauen angeordnet.«
Soweit die Rückschau im Jahr darauf. Und wenigstens in Dresden kann man von einer friedlichen Revolution sprechen – ein Begriffspaar, das fast im gesamten 20. Jahrhundert noch die europäische Ausnahme bleiben wird. Wie aber sieht es um den 9. November 1919 herum draußen aus, welche Informationen dringen in die sächsische Hauptstadt?
Die »Dresdner Neueste Nachrichten«, eine »Unabhängige Tageszeitung mit Handels- und Industrie-Zeitung«, bietet ihren Lesern in der Wochenendausgabe »Sonnabend, 8. November 1919« auf der Titelseite die Übersicht über das aktuelle Geschehen außerhalb Sachsens. Zunächst geht es in die Reichshauptstadt, die kaum zur Ruhe kommt:
»Keine Generalstreikneigung: Ein Schlag ins Wasser (Eigener Drahtbericht); Berlin, 7. November
Der Generalstreik, der von den kommunistischen und unabhängigen Hetzern zum Jahrestag der russischen und deutschen Revolution in Szene gesetzt werden sollte, um den zweiten Umsturz herbeizuführen, hat sich dank der rechtzeitigen Gegenmaßnahmen der Regierung als ein vollkommener Schlag ins Wasser erwiesen. Der Metallarbeiterstreik, der schon seit Wochen nicht leben und nicht sterben konnte, kann schon jetzt als gescheitert gelten. Die verzweifelten Versuche, die Arbeiterschaft aufs Neue aufzupeitschen und zur Fortsetzung des aussichtslosen Unternehmens aufzustacheln, können darüber nicht hinwegtäuschen. Im Laufe des Donnerstags sind bei einer Reihe Berliner Firmen die Arbeiten, wenn auch in beschränktem Umfange, wieder aufgenommen worden. Die Zahl der Arbeitswilligen vermehrt sich von Tag zu Tag. (…)
Auch die Hilfsaktion der Straßenbahner, die allmählich die Öffentlichkeit davon überzeugt haben, daß, wo es gilt, unser Wirtschaftsleben lahmzulegen, sie beileibe nicht fehlen dürfen, ist im ganzen Umfange steckengeblieben. Nur ein Fünftel der gesamten Angestellten der Straßenbahn blieb am Donnerstag morgen zwar den Betrieben fern. Ihre Resistenz vermochte aber nicht, den Straßenbahnverkehr lahmzulegen. Wenn die elektrischen Bahnen in den ersten Morgenstunden des Donnerstags noch nicht mit derselben Vollzähligkeit und Pünktlichkeit verkehrten – eine Erscheinung, die übrigens vor allem die Arbeiter als berufsmäßige Frühaufsteher auszubaden hatten – so war doch bereits um die Mittagsstunde der Groß-Berliner Straßenbahnverkehr völlig wieder im Lot. Als die Ausständigen nämlich merkten, daß ihr Beispiel bei der überwiegenden Mehrheit der Kollegen keine Nachahmung fand, stellten sie sich nach und nach im Laufe des Tages alle wieder zur Aufnahme der Arbeit ein und der ganze Betrieb konnte dann fast ungestört vor sich gehen, so daß Berlin vor dem in trüber Erinnerung stehenden bekannten Verkehrselend bewahrt blieb.«
***
»Ratifikation im November
Tondern, 7. November
Auf einem Festessen, das zu Ehren des Reichskanzlers stattfand, führte der Reichskanzler u.a. aus: ›Wir haben jetzt die Pflicht, uns mit den Bestimmungen des Friedensvertrages so gut als möglich abzufinden und ich lebe der Hoffnung, daß dieser Friedensvertrag nicht unveränderlich ist, sondern daß es uns gelingen wird, im Laufe der Jahre wesentliche Veränderungen herbeizuführen. Alles das, was uns hier auferlegt ist, ist einfach unerfüllbar. Was Nordschleswig betrifft, so können wir von den Grundsätzen der Gerechtigkeit der Demokratie und des nationalen Selbstbestimmungsrechts nichts dagegen haben, wenn, was dänisch ist, dänisch wird. Aber wir müssen auch verlangen, daß, was deutsch ist, deutsch bleibt. Wir wissen nicht, wann der Zeitpunkt der Abstimmung kommen wird, aber wir wissen doch mit einer bestimmten Gewißheit, daß der Friedensvertrag im Laufe des November von der Entente ratifiziert werden wird und daß dann auch der Zeitpunkt der Abstimmung nicht allzu fern sein wird. Wir werden die Möglichkeit haben, mit der dänischen Regierung zu einer Verständigung zu gelangen.‹
›Es ist nicht richtig‹, erklärte der Kanzler weiter, ›daß Deutschland vor dem Staatsbankrott steht. Wir können in kurzer Zeit unsre Ausfuhr in einer Weise steigern, wie wir es gar nicht für möglich halten, wenn wir Kohlen und Rohstoffe haben. Die Fähigkeit des deutschen Volkes wird uns vorwärts bringen, wenn einmal die geistige Verwirrung überwunden sein wird, und es sprechen alle Anzeichen dafür, daß wir sie überwinden werden.‹«
Das klingt ein bisschen wie das Pfeifen im Walde. Auch heißt der Reichskanzler schon seit Monaten nicht mehr Friedrich Ebert, auch nicht mehr Philipp Scheidemann. Der neue, auch er von der SPD, heißt Gustav Bauer. Wie lange wird er das Amt ausüben?
Erste Anzeichen von Inflation ziehen sich durch die deutsche Gesellschaft. Und nicht nur die Links- auch die Rechtsradikalen sammeln sich. Normalität ist noch nirgendwo zu sehen – von allen Stimmungen in der deutschen Bevölkerung gibt es entweder zu viel oder zu wenig.
Und doch, da ist auch das zarte Pflänzchen Verständnis für das besiegte Land und ein Denken über Europa, das endlich zum Frieden zusammengefügt werden sollte.
***
Rechtsaußen und Linksaußen sind auch Ende 1919 in permanenter Frontstellung. Auf der Rechten tummeln sich seit Anfang 1919 vornehmlich junge Männer in Freikorps- und Freiwilligenverbänden sowie in kommunalen Einwohnerwehren, die sich in ihrer Ablehnung der neuen Ordnung einig sind und sich längst in Geheimbünden gegen die verhassten »Novemberverbrecher« zusammengeschlossen haben. Das Zentrum der sächsischen Linksradikalen wiederum war und ist noch immer Leipzig und der dort verankerte, gewaltbereite Flügel der USPD: Seine Führer planten schon zu Beginn des Jahres eine zweite Revolution gegen die Dresdner SPD-Landesregierung. Sie hatten Ende Februar mit einem Generalstreik-Ausruf eine Eskalation heraufbeschworen, die fast das gesamte öffentliche Leben der Messestadt lahmlegte. Es wurde handgreiflich: Eine Gruppe von USPD-Funktionären samt Anhang hatte Anfang März mit geladenen Gewehren das Leipziger Rathaus gestürmt und vom nationalliberalen Oberbürgermeister 400 000 Mark erpresst. Und kurz darauf wurden aus den Heeresbeständen eines Leipziger Armeekorps Waffen an die Streikenden verteilt.
Die Dresdner Regierung unter Ministerpräsident Georg Gradnauer versuchte zunächst, der Krise auf dem Verhandlungsweg Herr zu werden. Doch dann folgte vier Wochen später in Dresden die Ermordung von Minister Gustav Neuring – und nun wurde der Belagerungszustand über ganz Sachsen verhängt, in Leipzig besetzten die Truppen des ehemaligen kaiserlichen Offiziers Maercker die Stadt: Verfassungsmäßige Zustände sind wieder herzustellen! Alle Versuche, eine Diktatur von rechts oder links zu errichten, sind energisch abzuweisen! Im Fall von Leipzig waren es die KPD und USPD, deren Zeitungen vorübergehend verboten wurden und unter deren Polit-Aktivisten es zu Verhaftungen kam.
Noch in der zweiten Jahreshälfte flackern bürgerkriegsähnliche Zustände auf, auch in Sachsen. So werden am 8. August 1919 bei blutigen Straßenkämpfen und Plünderungen in Chemnitz 29 Menschen getötet und einige hundert verletzt. Am Chemnitzer Hauptbahnhof metzeln Spartakisten eine Reichswehrtruppe grausam nieder. Daraufhin verfassen die Bürgerräte verschiedener sächsischer Städte, darunter der Dresdner Bürgerrat, ähnlich lautende Flugblätter mit dem Titel »Was will Spartakus?«:
»Unser Kampf geht nicht um einige Gramm Butter, um ein Pfund Mehl oder mehr. Wir wollen die politische Macht. Wir wollen die ganze Welt erobern. Was erreicht Spartakus?
Ein Augenzeuge aus Chemnitz: ›Eine an sich harmlose, aber in sich vielleicht berechtigte Lebensmittel-Demonstration der Frauen ist von den Spartakisten und Kommunisten unter Benutzung des von auswärts zugereisten Gesindels zu einem verbrecherischen Putsch benutzt worden. Die Folge davon war wilde Schießerei und bestialische Ermordung von Soldaten der in Chemnitz auf dem Bahnhof eingefahrenen Reichswehr. Die von der Reichswehr mitgeführten Vorräte, Ausrüstungsgegenstände, Gewehre, Maschinengewehre, Minenwerfer wurden von der Menge geplündert und verschleppt. Der ganze Stadtmob befand sich in einem wahren Blutrausch! Verwundete wurden von der Bahre herabgestürzt und zu Tode geschlagen und getrampelt; ein Wort des Mitleids oder des Bedauerns genügte, um die Menge sofort auf den zu hetzen, von dem es geäußert war. Die auf dem Bahndamm fliehenden Soldaten wurden mit Knüppeln totgeschlagen. Die Zahl der Opfer ist bei weitem größer als bisher angegeben.‹
Und der Bürger? Schläft er weiter?
Erkennt die Gefahr! Schützt Euch! Organisiert Euch!
Dresdner Bürgerrat
Mitglied des Reichsbürgerrats und des Landesbürgerrats Sachsen«
Ein Abschnitt ist dem Flugblatt beigefügt, mit dem man dem Bürgerrat beitreten kann.
Der Reichsbürgerrat wurde am 5. Januar 1919 in Berlin ins Leben gerufen – als Spitzenorganisation zahlreicher Bürgerräte, die im Zuge der Novemberrevolution ein bürgerliches Gegengewicht zu den Arbeiter- und Soldatenräten schufen. Denn gerade die bürgerlichen Politiker und Stadtgremien, auch viele kirchlichen, sahen sich durch die rasanten Novemberereignisse von einer linken Mehrheit an den Rand gedrängt.
Eine überparteiliche Sammlungsbewegung ist entstanden, in der Politiker und Intellektuelle von der Deutschen Demokratischen Partei DDP bis hin zur Deutschnationalen Volkspartei DNVP zusammenarbeiten. Übereinstimmung gibt es da nicht unbedingt, vor allem nicht hinsichtlich der Frage, ob man die SPD bekämpfen oder mit ihr zusammenarbeiten solle. Vereinzelte linksliberale Stimmen verwerfen die Novemberrevolution nicht in Bausch und Bogen und erkennen sie als tief in ihren eigenen Verhältnissen angelegt, während die Mehrheit auch ein Jahr nach der Novemberrevolution in ihr eine » sinnlose Kopie der russischen Vorgänge« sieht.
Das Überparteiliche rückt mehr und mehr in Richtung der DNVP, deren Politiker und Wählerschaft Deutsch-Konservative und Frei-Konservative umfasst, Christlich-Soziale und Deutsch-Völkische, dazu große Teile des kirchlichen Protestantismus, besonders des Luthertums. Man wird sehen, wie sich die Bürgerräte im Frühjahr 1920 positionieren …
Die noch im Entstehen begriffene parlamentarische Demokratie von Weimar stößt jedoch nicht nur in Teilen des Bürgertums auf Ablehnung, auch in weiten Kreisen des Militärs, der Industrie und der Banken, in Adelskreisen.
Antisemitische Töne, für einige Parteien und Gruppierungen seit Jahrzehnten Alltag, greifen zunehmend in öffentlichen Räumen und sie werden denunziatorischer. Ende November 1919 melden sich die »Deutschvölkischen Blätter« aus Hamburg zu Wort – unter dem Titel »Das verjudete Landestheater« sollen die Leser einen speziellen Blick auf das Dresdner Theater werfen:
»Jüdische Schauspieler am Landestheater zu Dresden (ehemals Königl. Opern- und Schauspielhaus). Seit Ausbruch der Revolution haben sich die besten Kräfte der ehemals weltberühmten Dresdner Oper nach und nach zurückgezogen. Neue Sänger sind an deren Stelle getreten, darunter auffallend viele Juden. Die bekannteste Persönlichkeit ist wohl Gertrud Streczelewitz, die auch an den Veranstaltungen der Dresdner Spartakisten ihre Kunst in den Dienst der kommunistischen Sache stellt. So sang die Streczelewitz bei einer von den Spartakisten und den unabhängigen Sozialdemokraten veranstalteten Trauerfeier der Genossin Luxemburg eine Rache-Arie. (Soll wohl bildlich gemeint sein, denn Gertrud Streczelewitz ist Schauspielerin). Und der sächsische Staat besoldet eine solche ›Künstlerin‹ auf Kosten der Steuerzahler, statt ihr den Laufpaß zu geben.«
Noch nicht ahnend, dass dieser Judenhass in nicht allzu langer Zeit eine tödliche Dimension bekommen wird, kommentiert dazu ein Redakteur des »Pirnaer Tageblatts« ironisch:
»Um es den Deutschvölkischen Blättern recht zu machen, müßte das Dresdner Schauspielhaus also seine Künstler vor dem Engagement genau auf Rassereinheit und deutschvölkische Glaubenstüchtigkeit untersuchen. Das Können wäre demnach Nebensache. Aber die Sache ist zu komisch, als daß es sich lohnte, ernsthaft darauf einzugehen. Die Dresdner Künstler werden sich hoffentlich durch diese alberne Fanatisme des orthodoxen Germanistenblättchens nicht irritieren lassen und trotz allem deutsch-völkischen Haßgeschrei festhalten an dem Freiheitsgesetz der Kunst.«
Physische Gewalt nimmt bereits im Nachkriegsjahr ein Ausmaß an, das schon die beginnende Weimarer Zeit deutlich von der Kaiserzeit abhebt. Zwischen beidem liegen unvorstellbar brutale Kriegsjahre, welche die moralischen Parameter um Kontinente verschoben haben. »Du sollst nicht töten«? Klingt weltfremd, irgendwie.
Als äußerst brutal gelten die Mitglieder der Freikorps. Obschon selbst meist bürgerlicher Herkunft, steht ihre Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft der der Spartakisten an Schärfe in nichts nach. Auch hier herrscht oft wilder Hass auf die junge Demokratie, besonders in den Reihen der irregulären Freikorps und der nationalradikalen Bünde. Ausschlaggebend ist bei den meisten die Angst vor dem Bolschewismus, der von Heimkehrern aus russischer Kriegsgefangenschaft befeuert wird.
Neben Offizieren und Unteroffizieren sind Studenten in den Freikorps stark vertreten, auch Gymnasiasten. Appelle richten sich an Schüler und Studenten, selbst Behörden appellieren an die Jugend. So veröffentlicht der Preußische Minister für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung bereits im März 1919 einen »Aufruf an die akademische Jugend Preußens«:
»Noch einmal heißt es: Freiwillige vor! Heute winken keine Siegeskränze, heute trägt euch nicht der Aufschwung eines in ernster Kriegsnot geeinten Volkes (…) Die deutsche Wehrmacht liegt in Trümmern, die Flut des Bolschewismus droht unsern Grenzwall im Osten zu durchbrechen, die Hydra der Anarchie und des Bürgerkrieges erhebt im Innern ihr Haupt. Rette Dein Vaterland, deutsche Jugend!«
Dasselbe Ministerium gibt einen Monat später einen Erlass heraus, wonach Schüler, die das 17. Lebensjahr vollendet haben, in den Einheiten für den Grenzschutz oder im Freiwilligen Landesjägerkorps dienen können. Ihnen wird versichert, dass sie in die nächste Klasse versetzt würden, wenn sie ihren Dienst geleistet hätten. In manchen Gebieten errichten Freikorpsführer Schulen, in denen junge Soldaten weiterhin Gymnasialunterricht erhalten.
Studenten und Schüler genießen den Ruf, im Gefecht ein überdurchschnittliches Maß an Härte an den Tag zu legen. Vor allem aus dieser Altersstufe wird sich später der Kern der politischen Aktivisten rekrutieren, die nach 1920 ihren eigenen Krieg gegen die Spartakisten fortführen werden, gegen die »Erfüllungspolitiker« und die französischen Besatzungstruppen an der Ruhr. Doch auch ehemalige Angestellte, die mit Kriegsende in die Arbeitslosigkeit gespült wurden, sind in den Freikorps vertreten; Bauern, die durch den doch beträchtlich hohen Sold von etwa zehn Mark pro Tag und die Aussicht auf Siedlungsland in den deutschen Ostgebieten angezogen werden. Auch sind die Freikorps ein Unterschlupf für kriminelles Gelichter aus allen Schichten.
Dennoch, im Auftreten der Freikorps in Sachsen zeigt sich ein gewisser Unterschied zu anderen Regionen: Zu massiven Kämpfen wie in Berlin, München oder dem Ruhrgebiet kommt es nicht und auch nicht zu Gräueltaten vergleichbaren Ausmaßes. Bei den Streiks und beim Aufruhr wird meist das Maerckersche Landesjägerkorps eingesetzt, das quantitativ größte und einer traditionellen Heereseinheit ähnlichste Freikorps. Zu Schusswechseln mit Toten und Verletzten kommt es in Halle, doch verhalten sich Maerckers Soldaten im Ganzen korrekt und diszipliniert.
***
Bereits im Oktober 1919 hat sich der landesweite Deutsche Reichsverband für Frauenstimmrecht in Erfurt aufgelöst. Es war ein angemessener Schritt, denn der Zweck seiner Gründung vor drei Jahren ist erfüllt – den Frauen das allgemeine und gleiche Wahlrecht zu erkämpfen!
»Nach der allgemeinen politischen Umwälzung durch die Novemberrevolution hat sich unser Verband« – wie Marie Stritt als Vorsitzende noch immer staunend zusammenfasst – »urplötzlich vor die völlig überraschende, bei normaler Entwicklung erst in Jahrzehnten zu erwartende Tatsache der restlosen Erfüllung seiner Forderungen gestellt gesehen.«
Bereits die dritte Generation deutscher Frauen kämpft nun für ihre Rechte. Und es wird weitergehen, nur die Schwerpunkte ändern sich. Bereits im Dezember 1918 begannen die Diskussionen darüber, wie nun weiter mit dem Reichsverband zu verfahren sei: Umbenennen? Auflösen? Die Organisation bestand im Januar 1919 aus zehn Landesvereinen, elf Provinzialvereinen und 86 Ortsgruppen mit insgesamt etwa 10 000 Mitgliedern. Nun, da den Frauen das Wahlrecht zugestanden wurde und juristisch für die Zukunft verankert ist, häufen sich die Austritte.
Der Vorstand entscheidet sich nach mehrstündiger Debatte deshalb für seine Auflösung und damit gegen ein langsames Dahinsiechen, welches die großen Leistungen bei der Durchsetzung des Frauenstimmrechts vor dem November 1918 entwerten würde. Das publizistische Organ des Reichsverbandes, »Die Staatsbürgerin«, vermeldet in einem von Marie Stritt verfassten Leitartikel mit dem Titel »Zum Abschluß« nüchtern: »Am 5. Oktober des Jahres hat sich der Reichsverband für Frauenstimmrecht in seiner zweiten Hauptversammlung in Erfurt aufgelöst, nachdem er als einheitliche Organisation dreieinhalb Jahre bestanden hatte.« Die Verfasserin betont auch, dass der Verband durch den erzielten Erfolg überflüssig geworden sei.
Viele Aufgaben entfallen jetzt. Die Kontakte zur internationalen Stimmrechtsbewegung aber – die weiterarbeiten wird, bis auch in anderen Ländern das Frauenwahlrecht durchgesetzt ist – kann die wohl prominenteste deutsche Vertreterin Marie Stritt insofern aufrechterhalten, als der Weltbund für 1920 einen Kongress nach Genf einberufen hat und die Berliner Reichsregierung Marie Stritt die Delegation zu diesem internationalen Kongress überträgt, an dem sich Deutschland erstmals nach dem Kriege wieder offiziell beteiligt.
Auch darüber hinaus wird die nunmehr 65-jährige Frauenrechtlerin aus Dresden nicht die Hände in den Schoß legen. Sie hat durchaus noch »Kraft und Mut und Freudigkeit«, weiter an der Umgestaltung der Welt mitzuwirken. Und sie empfiehlt ihren Mitstreiterinnen einen Goethe-Spruch, den sie immer wieder für sich entdeckt: » Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag!«