Januar 1920:
Männliche Anmaßung

Ein Jahr, nachdem die Frauen Deutschlands das Stimmrecht errungen haben, werden sie harsch kritisiert. Zunächst sind in der 83. Sitzung der Sächsischen Volkskammer am 22. Januar 1920 eine Reihe von Petitionen abzuarbeiten, gefolgt vom aktuellen Finanzbericht. Der Schwerpunkt dieses Donnerstags ist – angesichts des noch immer vorhandenen, weit gefächerten Elends in der Bevölkerung – die Wohlfahrtspflege. Ein Wohlfahrtspflegegesetz muss her, darin sind sich alle Abgeordneten einig: Die Tuberkulosebekämpfung ist über das Jahr 1919 nicht recht in Gang gekommen, auch die Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten nicht, die Krüppelfürsorge, der Mutterschutz, der Frauenschutz, der Arbeiterinnenschutz, die Säuglingsfürsorge, der Kinderschutz, die Jugendfürsorge, die Wohnungsfürsorge, die Gewerbehygiene und etliches mehr. Es hakt an allen Enden.

In diesem Zusammenhang folgt nun laut Sitzungsprotokoll eine harsche Kritik an den Frauen und deren mangelnden Aktivitäten in der Gesellschaft. Das Wort ergreift Julius Fräßdorf, Präsident der Sächsischen Volkskammer und langjähriger Streiter für die Rechte von Arbeitern; Fräßdorf saß für seine Aktivitäten zu Zeiten der Monarchie im Gefängnis. Nun also liest er dem anderen Geschlecht die Leviten, begleitet von heiteren männlichen Zwischenrufen. Gemeint sind damit nicht die momentan nur noch zwei verbliebenen, äußerst tatkräftigen weiblichen Abgeordneten Julie Salinger von der Deutschen Demokratischen Partei und Helene Wagner von den Sozialdemokraten. Gemeint ist die Mehrheit der sächsischen Frauen:

»Nun hat Frau Abgeordnete Salinger ausgeführt, die Gleichberechtigung der Frau sei noch lange nicht durchgeführt. Ganz richtig, aber daran werden die Frauen nun gefälligst selbst mitarbeiten müssen und von den Männern nicht alles erwarten dürfen.

(Sehr gut!)

Sie sind jetzt politisch Gleichberechtigte und nun sollten sie sich auch entsprechend betätigen. Wie haben wir Arbeiter ringen müssen, um unsere politische Gleichberechtigung zu erzwingen. Den Frauen ist die politische Gleichberechtigung gewissermaßen in den Schoß gefallen. Es ist ihnen eigentlich – ich möchte natürlich nicht rückwärts revidieren – zu leicht geworden, und deshalb schätzen sie die politische Gleichberechtigung nicht in dem Maße, wie sie geschätzt werden sollte. Bei den Nationalwahlen gingen die Frauen noch, wenn ich so sagen darf, ins Zeug. Bei der Volkskammerwahl war schon bei einem Teile das Interesse geschwunden, und bei den Gemeindewahlen schwand es noch weiter. ›Was ist denn die Wahl weiter?‹ hieß es. Sie hatten sich darunter etwas ganz anderes, etwas Pikanteres vorgestellt.

(Heitere Zustimmung)

Ich sage also, die Frauen müssen nur selbst tätig sein und von ihren Rechten auch Gebrauch machen. Daß sie das nicht tun, habe ich in langjähriger Tätigkeit bei den Ortskrankenkassen erfahren. Auf dem Gebiet der Krankenversicherung hatten die Frauen von jeher die Gleichberechtigung. Sie haben davon außerordentlich wenig Gebrauch gemacht. Sie sollten es viel mehr tun; dazu möchte ich hierbei anregen.

Es kann aber in alle Wege nicht gehen, tüchtige, interessierte Männer etwa von Stellen zu entfernen und dafür uninteressierte Frauen zu setzen, nur damit Frauen dort sitzen. Darauf kommt es nicht an, sondern es kommt darauf an, daß an den Stellen, wo freiwillige Arbeit notwendig ist, diejenigen sitzen, die das größte Interesse und Verständnis haben. Ich wünsche nichts sehnlicher, als daß die Frauen ganz besonders in der Wohlfahrtspflege tätig werden.«

Darauf antwortet zunächst die SPD-Abgeordnete Helene Wagner aus Chemnitz. Danach erteilt Vizepräsident Richard Lipinski (USPD der Abgeordneten Julie Salinger das Wort:

»Meine Herren und Damen! Gestatten Sie mir, daß ich zunächst die wirklich erfreuliche Übereinstimmung des ganzen Hauses inbezug auf die Notwendigkeit der Wohlfahrtspflege und der Ausgestaltung des Wohlfahrtspflegegesetzes feststellen kann.

(…)

Aber ich muß nun Herrn Abgeordneten Fräßdorf auch noch darauf antworten, wenn er meint, daß die Frauen nun selbst etwas dazu tun müßten, um die Gleichberechtigung zu erlangen, daß sie es nicht den Männern überlassen sollten, ihnen dazu zu verhelfen.

Ja, meine Herren und Damen, meine Interpellation war mit ein Anstoß dazu, darauf hinzuweisen, daß die Frauen diese Gleichberechtigung auch bei Staatsanstellungen haben sollten. Erkämpfen brauchen sie sie nicht mehr. Sie ist bereits in der Reichsverfassung festgelegt, und wir haben ein volles Recht, zu verlangen, daß darauf Rücksicht genommen wird. Wenn außerdem Herr Abgeordneter Fräßdorf meint, daß kein tüchtiger Mann durch eine uninteressierte Frau verdrängt werden soll, dann muß es eben die tüchtigste, die bestorientierteste und die bestgeschulteste sein; denn nur dann hat sie ein Recht, an diese Stelle zu kommen, genau so wie auch nur der beste, tüchtigste Mann an seiner Stelle stehen soll (…)«

***

Erste belastbare Zahlen der sächsischen Toten des Weltkrieges werden veröffentlicht: 123 728 Soldaten und Offiziere sind gefallen und gestorben zwischen 1914 und 1918, etliche folgten noch im Jahr 1919. Die Gefallenenzahlen haben die Standesämter des letzten Wohnortes der Soldaten geliefert sowie 628 im Laufe des Krieges ausgegebene Verlustlisten der sächsischen Armee. Wer noch nachgemeldet wird, zählt von nun an als ziviler Toter. Als vermisst gelten noch immer 17 899 sächsische Soldaten und Offiziere.

Der September 1914 galt als der verlustreichste Monat des Krieges überhaupt, auch für das sächsische Offizierskorps. Allein im ersten Gefecht der Sachsen, einem unbedeutenden Erkundungsgefecht bei Dinant, verloren die beiden sächsischen Jägerbataillone zusammen sechs Offiziere. Das Kgl. Sächs. Schützenregiment »Prinz Georg« Nr. 108 war mit 76 Offizieren in den Krieg gezogen, am 30. September 1914 verfügte es noch über fünfzehn. Leutnant Oltscher von der Etappenstation Cambrai wurden allein am 16. November 1914 neunzehn Koffer gefallener Offiziere des Kgl. Sächs. Reserve-Infanterieregiments Nr. 241 gebracht … Das scheint lange zurück und ist doch nicht verarbeitet. Für alle Soldaten und Offiziere sind Kriegerdenkmale errichtet – in Hochschulen, auf öffentlichen Plätzen.

Nun, im Jahr 1920, kommt ein neues Reichsversorgungsgesetz für die Kriegsbeschädigten heraus:

»Der Beschädigte hat Anspruch auf Rente, solange seine Erwerbsfähigkeit um wenigstens 15 vom Hundert gemindert oder seine körperliche Unversehrtheit schwer beeinträchtigt ist.«

Dazu setzt die Verordnung folgende Sätze fest:

»Verlust eines Beines oder eines Armes: 50 vom Hundert

Verlust eines Unterschenkels oder eines Unterarmes: 40 vom Hundert

Verlust eines Fußes: 30 vom Hundert

Verlust von drei oder mehr Fingern einer Hand einschließlich des Daumens: 30 vom Hundert

ausschließlich des Daumens: 20 vom Hundert

Verlust des Daumens allein: 20 vom Hundert

Verlust der ganzen Kopfhaut: 20 vom Hundert

Verlust eines Auges: 20 vom Hundert

falls kein künstliches getragen werden kann: 30 vom Hundert

Halbseitenblindheit: 40 vom Hundert

Verlust eines Kiefers oder seines größeren Teils: 30 vom Hundert

Verlust des Gaumens: 20 vom Hundert

Verlust aller Zähne: 20 vom Hundert

Verlust beider Ohrmuscheln: 20 vom Hundert

Erheblicher Gewebeverlust der Zunge mit schwerer Sprachstörung: 30 vom Hundert

Verlust des Kehlkopfes: 50 vom Hundert

Völliger Verlust der Nase: 50 vom Hundert

Stinknase: 30 vom Hundert

Abstoßend wirkende Entstellungen des Gesichts: 20–50 vom Hundert

Verlust beider Hoden, des männlichen Gliedes oder der Gebärmutter: 30 vom Hundert

Verlust der Milz oder einer Niere: 20 vom Hundert

Widernatürlicher After; Urin- oder Darmfistel: 20 vom Hundert

Verlust des Afterschließmuskels; starker Mastdarmvorfall: 30 vom Hundert

Andere Schäden, die den hier aufgezählten gleichzuachten sind, sind entsprechend zu berücksichtigen. Ein Vertreter des Reichsarbeitsministeriums erklärt auf Anfragen von Journalisten, daß die Sätze nach dem Gutachten der ärztlichen Sachverständigen abgestuft sind.«

***

Wie nach jedem gesellschaftlichem Umsturz wird unter den Straßennamen des vorherigen Regimes aufgeräumt. Auch in Dresden ist das so. In verschiedenen Zeitungen fallen die Vorschläge und Einwände je nach politischer Couleur auch verschieden aus. In der »Dresdner Volkszeitung« folgt eine kreativ-sozialdemokratische Variante:

»Wir sind nicht Fanatiker genug, ältere Namen wie Moritz-, Friedrich-, Amalien-, Theresien-, Marien- und Annenstraße (Wer waren diese Leute?, werden die meisten Dresdner fragen) sofort umbenennen zu wollen, wenn auch eine der beiden letzteren gut und gerne Poststraße heißen könnte, die kein Vernünftiger in Löbtau suchen wird. Jedoch daß die Wettinerstraße ihren Namen behalten müsse, sehen wir nicht ein. Sie könnte Briesnitzer Straße benannt werden, besonders, weil die Zeit abzusehen ist, wo der Name des uralten Ortes Briesnitz infolge von Einverleibung des Ortes in Dresden von der Landkarte verschwunden sein wird.

Daß man dem Bismarck- und dem Moltkeplatz ihre alten Namen Prager- und Räcknitzplatz wiedergibt, halten wir für selbstverständlich; die Reichsstraße, die von ersterem ausgeht und so kurz ist wie das kapitalistische ›Reich‹ selbst, das jetzt wirklich zu einem ›Arm‹ geworden ist, mag wohl zum Andenken bestehen bleiben; für die Lindenau- und andre nach älteren Politikern benannte Straßen mögen unsre Kinder passende Namen aussuchen, jedoch die Sedanstraße muß auf alle Fälle verschwinden und auch die nach dem Ultrareaktionär Ackermann benannte Straße verlangt eine Umbenennung. Gerade sie zeigt uns, daß der frühere nationalliberal-reaktionäre Rat in Verbindung mit der Regierung nicht die geringste Rücksicht auf die Volksgefühle genommen hat, und so können wir es nicht unbillig finden, wenn endlich auch Marx, Engels, Lassalle, Bebel und Wilhelm Liebknecht in unserm Stadtplane Berücksichtigung finden; letztere haben ja auch im Sächsischen Landtag durch jahrelange Tätigkeit den revolutionären Umschwung vorbereiten helfen.

In der Neustadt hat der alte, richtungsweisende Bautzner Platz die nichtssagende Bezeichnung ›Albertplatz‹ erhalten; jener ist wieder herzustellen. Die Bautzner Straße geht von ihm ab und man könnte ihr auch gleich wieder ihre Fortsetzung, die einst zu ihr gerechnet wurde, jetzt aber Schillerstraße heißt, angliedern. Schiller paßt in diese Gegend gar nicht; er gehört zu Goethe – die jetzige Beuststraße wäre sehr passend nach ihm zu benennen.

Vom jetzigen Albertplatz führt die Königstraße nach dem früheren Palais-, jetzt Kaiser-Wilhelm-Platz – ein Name so nichtssagend wie der andre. Da im Japanischen Palais sich jetzt die Landesbibliothek befindet, wären Büchereiplatz und Büchereistraße wirklich bezeichnende Namen. Wenn man die in der Nähe liegende Kaiserstraße – kurz, wie die neue deutsche Kaiserherrlichkeit – nicht wieder zur Leipziger Straße, wozu sie früher gerechnet wurde, schlagen will, so mag man sie immerhin Japanische Straße nennen – als ›Feinde‹ haben sich die Japaner im Weltkriege zur Schande der weißen Rasse jedenfalls am korrektesten benommen.«

Bald wird es eine Diktatur mit Hitler-Straßen geben, danach eine Diktatur mit Lenin-Straßen, und hundert Jahre später wird der Albertplatz wieder Albertplatz heißen und die Königstraße wieder Königstraße.