Deutschland kommt nicht zur Ruhe: Einer Anweisung der alliierten Militärkontrollkommission folgend, löst Reichswehrminister Gustav Noske Ende Februar 1920 die in der Armee hochgeachtete, rund 5000 Mann starke Marinebrigade des Korvettenkapitäns Hermann Ehrhardt sowie das Freikorps Loewenfeld auf. Dem widersetzt sich der ranghöchste General der sogenannten Vorläufigen Reichswehr, Walther von Lüttwitz, dem auch noch die Kommandogewalt über zwei Reichswehrdivisionen in Berlin und Dresden entzogen wurde.
Kapp-Putsch in Berlin, Besetzung des Regierungsviertels, Absperrung am Potsdamer Platz
Am Tag zuvor hat er sich mit dem ostpreußischen Bankdirektor und Reichstagsabgeordneten Wolfgang Kapp getroffen, der schon seit 1918 in rechtsradikalen Zirkeln von einer Gegenrevolution zur Abschaffung der Republik träumt. Nun scheint die Stunde gekommen: Am Morgen des 13. März marschieren 5000 Marinebrigadisten ins Berliner Regierungsviertel ein, um die sozialdemokratisch geführte Reichsregierung zu stürzen. Einige der Truppen haben bereits das Hakenkreuz am Stahlhelm. Kapp und von Lüttwitz erklären sich zur »Regierung der Ordnung, der Freiheit und der Tat«, Wolfgang Kapp ernennt sich zum neuen Reichskanzler. Freiwilligenverbände und demokratiefeindliche Einwohnerwehren unterstützen ihn, dazu Teile der Reichswehr. Auf der anderen Seite bilden sich Arbeiterräte und Aktionsausschüsse, die den Widerstand gegen die Putschisten organisieren. Gewerkschaften rufen zum Generalstreik auf, Linksradikale zum bewaffneten Kampf.
Nur knapp zuvor hat die vorgewarnte Reichsregierung Berlin verlassen und ist in die sächsische Hauptstadt geflohen.
Am 14. März 1920 meldet der »Dresdner Anzeiger«:
»Die Reichsregierung in Dresden
Dresden, 13. März. Folgendes Telegramm ist an die Regierungen sämtlicher Länder gerichtet worden:
Putschversuch gewissenloser Abenteurer, hinter denen kein ernsthafter Politiker steht, hat die Regierung veranlaßt, zwecks Vermeidung von Blutvergießen Berlin zu verlassen. Die verfassungsmäßige Regierung hat ihren Sitz in Dresden und ist die einzige, die das Chaos verhindern kann. Wir ersuchen, den dienstlichen Verkehr mit uns aufrechtzuerhalten und alle Beziehungen zu den Staatsstreichlern in Berlin abzulehnen.
Der Reichspräsident: Ebert.
Die Reichsregierung: Bauer, Müller, Giesberts, Noske, Koch, Geßler«
Doch die militärische Lage in Dresden ist ihnen zu unsicher: Zwei Tage später flieht die Ebert-Regierung weiter Richtung Süden, nach Stuttgart. Inzwischen legt der von den Gewerkschaften ausgerufene Generalstreik Betriebe und Verkehr in ganz Deutschland lahm, in Berlin hocken die Putschisten bei Kerzenlicht in der Reichskanzlei.
In Dresden kommt es am 15. März zunächst zu Massenkundgebungen gegen den Militärputsch, zu denen die SPD und die USPD aufrufen, doch bald schon zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen: Geschossen wird im Zwinger, am Theaterplatz, unter der Brühlschen Terrasse, am Postplatz.
Und die Künstler?
Wegen des lärmenden Jahrmarktes unter der Brühlschen Terrasse – es ist Ostern – hat sich Otto Dix zum Landschaftsstudium in die Sächsische Schweiz abgesetzt. Doch sein Freund Otto Griebel greift ins Geschehen ein:
»Am 15. März 1920 hielt man eben den Osterjahrmarkt in unserer Stadt ab. Als ich mit einem Bücherbrett für mein Atelier unter dem Arm die Budenreihen der Hauptstraße durchschritt, tauchte plötzlich ein Panzerwagen auf, der in Richtung Altstadt weiterfuhr. Nichts Gutes ahnend, folgte ich dem Gefährt und erreichte gerade noch den Platz vor der Sophienkirche, als der Panzerwagen in die dort versammelte Menge feuerte und die ersten Getroffenen aufs Pflaster fielen.
Zunächst mußte ich abwarten, bis der Panzerwagen zum Postplatz abschwenkte. Dort hatten Genossen bereits das Telegrafenamt besetzt, auf das vom Palasthotel Weber her Zeitfreiwillige der Reaktion aus den Fenstern herüberschossen. Auch der Panzerwagen feuerte unablässig. Schon lagen überall Tote und Verwundete umher.
Nun begannen auch wir uns mit Waffen kräftigst zu wehren. Einige besonders entschlossene Genossen griffen einen der Panzerwagen durch Schüsse und Handgranaten an, der plötzlich vor dem Stadtwaldschlößchen an einem Baum festrammte und stehenblieb. Das Gefährt war erledigt; aus seinem Innern sickerte Blut.«
Ein Postbeamter berichtet am 16. März im »Dresdner Anzeiger«, wie sich der Kampf vom Postplatz in den Zwinger verlagerte, in dem die Gemäldegalerie Alter Meister beheimatet ist:
»Nach 3 Uhr kam ich vom Schloßplatz mit den demonstrierenden Postbeamten, die ein Hoch auf die Ebert-Regierung ausgebracht hatten, nach dem Postplatz. Dort war eine große Menschenmenge versammelt; ich wußte nicht, was sich dort abspielen würde. Vor dem Haupteingang des Telegraphenamtes wogte eine Menschenmenge unter Geschrei und mit geballten Fäusten auf und ab. Dann wieder rannten alle auseinander. 5 Minuten vor 4 Uhr erschien das Panzerauto. Wer darin saß, ist mir unbekannt, ebenso, wer das Postgebäude besetzt hatte. Mit der Überschrift: ›Straße frei, es wird scharf geschossen!‹ rollte es ungefähr viermal um den Postplatz herum. Dann bog es links nach dem Droschkenhalteplatz ein; es fuhr zu kurz und riß einen ungefähr 50 bis 60 Jahre alten Mann um, dem es den Oberschenkel auffuhr, so daß der Knochen frei lag. Seine Gattin stand dahinter und wurde ohnmächtig.
Da sprang ein ungefähr 18-jähriger junger Mensch gegen das Auto, riß das Maschinengewehr in die Höhe und kam mit dem Kopf vor das Fenster. Daraus schoß ihm ein Reichswehrsoldat mit dem Revolver in die Schläfe, sodaß er tot niederstürzte. Das war der erste Tote.
Als das Auto den Mann umgerissen hatte, fuhr es nach der Haltestelle der Linie 23. Da hatte ein Zivilist eine scharfe Handgranate nach dem Auto geworfen. Allerdings traf sie das Auto nicht, sondern erst einen Meter dahinter. Daraufhin wurde von den Fenstern des Telegraphenamtes auf das Auto geschossen, das das Feuer sofort erwiderte, allerdings nur blind schoß.
Die Leute stoben auseinander. Rücksichtslos strebte alles in die Seitenstraßen. Ein Kriegsverletzter, ein Krüppel, wurde umgerissen, die Leute über ihn weg, die Krücken zerbrachen, es fand sich keine helfende Hand. Drei- oder viermal kreiste das Auto noch um den Postplatz, bis es plötzlich verschwand und Reichswehrsoldaten von der Sophienstraße aus mit roten Flaggen winkten und riefen: ›Straße frei, es kommt ein Sturmangriff!‹
Nun stürzten wir alle vom Stadtwaldschlößchen in die Zwingeranlagen, verbargen uns im Gebüsch und mußten dann fliehen und kamen auf die Zwingerhöhe. Dort fühlten wir uns sicher. Nach 5 Minuten kamen auch dorthin die Schüsse. Von den Dächern schossen die Maschinengewehre, die wir nicht gesehen hatten. Nun flohen wir wieder über das Gehege hinab, den Berg hinunter nach dem Zwingerteich (…)«
Als die Kämpfe abgeflaut sind, bleiben im Stadtzentrum 59 Tote und 200 Verwundete zurück.
Doch auch die Kunst kommt nicht ungeschoren davon: Im Zwinger hat eine verirrte Kugel das Fenster der Gemäldegalerie durchschlagen und sich Rubens’ »Bathseba im Bade« in den Kopf gebohrt!
Oskar Kokoschka ist fassungslos. Wutschnaubend läuft der sonst so sanfte Professor am darauffolgenden Tag durch die Gänge der Akademie. Er verfasst ein Plakat, das er mit seinen studentischen Anhängern druckt. Darin richtet er sich – bezugnehmend auf die durchbohrte Bathseba:
»(…) an alle, die hier in Zukunft vorhaben, ihre politischen Theorien, gleichviel ob links-, rechts- oder mittelradikale, mit dem Schießprügel zu argumentieren, die flehendlichste Bitte, solche geplanten kriegerischen Übungen nicht mehr vor der Gemäldegalerie des Zwingers, sondern etwa auf den Schießplätzen der Heide abhalten zu wollen, wo menschliche Kultur nicht in Gefahr kommt.«
Noch in der Nacht kann man Oskar Kokoschka und seine Studenten in der Stadt Plakate kleben sehen. Der Text des Plakates findet sich kurz darauf in etwa vierzig Zeitungen, deutschlandweit. Doch jetzt kommt die Sache erst richtig in Fahrt, denn nun schlägt der Berliner George Grosz mehr bösartig als dadaistisch zu; ihm zur Seite der kommunistische Künstler John Heartfield. Unter dem Titel »Der Kunstlump« drucken sie einen Hass-Artikel gegen Kokoschka, den »Schöpfer psychologischer Spießerportraits«, und würzen ihn mit ihren Klassenkampf-Parolen:
»Kokoschkas Äußerungen sind ein typischer Ausdruck der Gesinnung des gesamten Bürgertums. Das Bürgertum stellt seine Kultur und seine Kunst höher als das Leben der Arbeiterklasse. Auch hier ergibt sich wiederum die Folgerung, daß es keine Versöhnung geben kann zwischen der Bourgeoisie, ihrer Lebenseinstellung und Kultur, und dem Proletariat. Wir begrüßen mit Freude, daß die Kugeln in Galerien und Paläste, in die Meisterbilder der Rubens sausen statt in die Häuser der Armen in den Arbeitervierteln!
Es gibt nur eine Aufgabe: Mit allen Mitteln, mit aller Intelligenz und Konsequenz den Zerfall dieser Ausbeuterkultur zu beschleunigen.
Jede Indifferenz ist konterrevolutionär!
Wir fordern alle auf, Stellung zu nehmen gegen die masochistische Ehrfurcht vor historischen Werten, gegen Kultur und Kunst!
Insbesondere bitten wir um Übermittlung von Stellungnahmen gegen den Aufruf Kokoschkas! Wir wollen die Stimmen gegen solche Lumpen und die hinter ihnen Versteckten sammeln und nach Möglichkeit der Öffentlichkeit übergeben.
Von Euch, Arbeiter, wissen wir, daß Ihr Eure Arbeiterkultur ganz allein schaffen werdet, ebenso wie Ihr Eure Klassenkampforganisationen aus eigener Kraft geschaffen habt.«
Oskar Kokoschka
Die nunmehr politischen Gegner Kokoschkas kleben die vergrößerte Polemik von Grosz und Heartfield für Passanten sichtbar an die Türen der Kunstakademie. Für sie ist er von nun an ein Reaktionär. Oskar Kokoschka ist tief verletzt. Deutschland beginnt, ihm zu misshagen, es drängt ihn raus hier, nicht nur aus Dresden.
***
Am 17. März 1920 geben in Berlin Kapp und Lüttwitz auf, Kapp setzt sich nach Schweden ab. Die Brigade Ehrhardt tötet am 18. März vor dem Brandenburger Tor noch zwölf Demonstranten, zieht sich dann aber zurück. Die Regierung von Friedrich Ebert kommt wieder nach Berlin.
Der Offizier Arnold Vieth von Golßenau, der 1918 als gewählter Bataillonsführer nach Dresden zurückgekehrt war und seitdem Hundertschaftsführer der sozialdemokratisch ausgerichteten Sicherheitspolizei war, weigerte sich während des Kapp-Putsches, auf Riesaer Arbeiter schießen zu lassen. Er lässt sich zum Hauptmann degradieren und scheidet noch im Frühjahr aus dem Militär aus. Einige Jahre später veröffentlicht er als Ludwig Renn sein erstes, in 39 Sprachen übersetztes Buch »Krieg«.
Am 22. April 1920 wird Georg Gradnauer als Ministerpräsident Sachsens vom linken Flügel seiner Partei zum Rücktritt genötigt, gehört aber weiterhin der Weimarer Nationalversammlung an. Die Kluft zwischen ihm und den vor allem in Chemnitz und Leipzig angesiedelten Linken der SPD hatte begonnen, als er im Herbst 1919 eine Koalition mit der bürgerlichen, linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei eingegangen war, statt die Wiederannäherung an die USPD zu suchen. Nun, während des Kapp-Putsches, hatte sich gezeigt, dass die von Gradnauer mehrfach mit Dank überhäuften Maercker-Truppen sich plötzlich für »neutral« erklärten und damit kein ausreichender Schutz für die nach Dresden geflüchtete Reichsregierung garantiert war. Auch hatten Zeitfreiwilligenkontingente das sozialdemokratische Leipziger Volkshaus zusammengeschossen.
***
Victor und Eva Klemperer sind auf dem Weg nach Dresden, wo Klemperer an der Technischen Hochschule als Ordinarius für Romanistik erwartet wird. Am Tag zuvor in Leipzig, am 15.April 1920, notiert er in sein Tagebuch:
»Nach Dresden gehe ich mit weniger Freude als Sorge: das Geld, der Antisemitismus, die Kollegen, die technische Vorlesung, die Wohnung. Zugleich aber gehe ich auch mit einigem Stolz u. einer gewissen Wurstigkeit hin. Schließlich: ich bin Ordinarius u. ›mir kann keiner.‹ Nun sind noch letzte Reisevorbereitungen u. Gänge hier, und um 12. 27 Abfahrt.
Freitag, 16 April 1920. Abends 1/2 10
»Der Zug ging über Döbeln u. Meißen. Die ganze Landschaft weißblühend. Obstplantagen. Felsige Partieen. Die Albrechtsburg am Fluß. Um 1/2 5 in Dresden. In ein Café am Altmarkt. Telephoniert an verschiedene Pensionen. Schlechte Aussichten. Wanderung begonnen. Fehlschlag um Fehlschlag. Eine Wirtin hielt uns für Ungarn u. wollte nur Deutsche nehmen, eine schauspielerte wie eine alte Schmierentragoedin, eine war sehr schwer von Begriffen. Alle waren sehr teuer. Eva mit eiserner Energie schleppte mich weiter u. weiter. Ins südliche Villenviertel hinter dem Bahnhof. Schließlich heißt es hier: morgen würden 2 Zimmer frei. Mit voller Pension 38 M., dazu für Wäsche, Licht, Bedienung noch rund 2 M. täglich.
Wir behielten uns Entscheidung vor, schleppten uns zum Bahnhof zurück, aßen, gingen in ein gegenüberliegendes Hôtel. (›Monopol‹)
Ein winziges Zimmerchen für 20 M. ohne Steuer etc. (Die Morgenrechnung betrug 33 M.) Mir war auf mürrische Verzweiflung Fatalismus gefolgt.
Heute ausgeschlafen – Eva jetzt mehr entzwei als ich – u. sofort telephonisch die Zimmer gemietet. Nach langem Frühstück – aber vorher war ich lange in der Techn. Hochschule – schleppte uns ein Dienstmann die beiden Koffer her. Die Zimmer ganz entzückend. Das Haus liegt hoch in einem blühenden Garten, in einer Villenstr. Am Schlafzimmer ist ein Balkon, von dem sieht man auf die Stadt hinab mit ihren Türmen u. darüber hinweg auf die Uferhügel. Abends Lichter, auch auf einen Turm, auch hoch u. fern, Loschwitz. Und die blühende Straße. Und der blühende Garten. Ostbäume, Rhododendren, Azaleen. Vor allem weiß, aber auch Farben, doch Weiß in unglaublicher Fülle, Üppigkeit, Reinheit. (…)
Sonnabend Nachm ½ 4 Dresden 17/4 20
Gestern Vorm. u. vor dem Frühstück also war ich zum ersten Mal in der Hochschule am Bismarckplatz, einem ziemlich alten u. nicht übermäßig pompösen Kasten, an einem schönen Schmuckplatz gelegen. Dort standen bemützte Studenten, u. im Treppenaufgang hingen schleifenreiche Kränze neben Photographieen u. Gedenktafeln. Ich erfuhr auch gleich, daß man der Zeitfreiwilligen halber erst am 3. Mai beginnt. Man ist also nationalistisch hier, woran ich nicht gezweifelt habe ... Ich ließ mir das romanische Seminar aufschließen.«
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Oskar Kokoschka, der einen 7-Jahresvertrag von 1919–1926 als Professor an der Kunstakademie abgeschlossen hat, ist seit der vernichtenden Attacke seines Malerkollegen George Grosz (an die dieser später nicht mehr erinnert werden will), seelisch angeschlagen, er hält es nicht mehr aus – in Dresden, in Deutschland. Mitte Juni 1920 nimmt er Urlaub und fährt zu seinen betagten Eltern nach Wien.