Nach dem missglückten rechtsradikalen Putsch normalisiert sich auch in Sachsen das Leben. Lediglich im Vogtland hält der Linksradikale Max Hoelz mit seinen bewaffneten Anhängern die Menschen noch einige Wochen in Atem. Mit einem Gesetz vom Juni 1920 werden alle Arbeiterräte in Sachsen aufgelöst, die staatlichen und kommunalen Behörden übernehmen wieder allein die öffentliche Gewalt.
Am 14. November 1920 wird auf Grundlage der Verfassung des Freistaates Sachsen der Sächsische Landtag gewählt – in allgemeinen, gleichen, freien und geheimen Wahlen, wie schon in der Volkskammer im Jahr zuvor. Doch das Bild zeigt sich zerfaserter: Von nun an werden sieben Parteien im Parlament vertreten sein: Von den 96 Abgeordneten gehören nun 27 der SPD an, 20 der Deutsch-Nationalen Volkspartei, 18 der Deutschen Volkspartei, 13 der USPD, 9 der Kommunistischen Partei Deutschlands, 8 der Deutschen Demokratischen Partei und ein Abgeordneter der katholischen Zentrumspartei. Die Wahlergebnisse spiegeln die Unruhe, auch in den folgenden Landtagswahlen kann keine der Parteien die absolute Mehrheit mehr erringen, kommt es zu Zerwürfnissen, einer SPD-Minderheitsregierung und Misstrauensvoten. Nach der Landtagswahl 1929 werden bereits fünf Abgeordnete der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei im Sächsischen Parlament Platz nehmen.
Auf Reichsebene sieht es noch bedenklicher aus: Die ersten regulären Wahlen zum Deutschen Reichstag am 6. Juni 1920 zeigen bereits ein mentales Unbehagen gegenüber der neuen Republik. Hatten die drei großen demokratisch orientierten Parteien bei den Wahlen zur Nationalversammlung vom Januar 1919 noch eine klare Mehrheit von 76 Prozent der Stimmen für die »Weimarer Koalition« erringen können, so rutschen SPD, katholisches Zentrum und Deutsche Demokratische Partei anderthalb Jahre später in eine Minderheit von 43 Prozent. Gegen Ende der Weimarer Demokratie, im Sommer 1932, werden die extremistischen Parteien – Hitlers NSDAP, die KPD und die Deutschnationale Volkspartei – im Reichstag über eine Mehrheit verfügen, die offen antidemokratisch ist und auf die Überwindung der Weimarer Republik zielt.
Noch ist es nicht soweit, doch welcher Demokrat fühlt sich hier sicher? Die Reichswehr, durch den Versailler Vertrag auf 100 000 Mann reduziert, bildet eine Art Staat im Staate – die neue, demokratische Idee eines Staatsbürgers in Uniform greift bei den Militärs nicht; sie rüsten erst einmal auf, und sei es, um ein neues Selbstbewusstsein zu entwickeln.
Und verhielten sich die politischen Kräfte der alten obrigkeitsstaatlichen Ordnung zunächst abwartend, so treten sie nun wieder lautstark und aggressiv auf. Georg Escherich, Chef der bayrischen Heimwehr, dreht 1920 die Geschichte:
»Das Erbe bodenständiger Staatsüberlieferung wird in den Schmutz gezogen, während der Staatsgedanke der Defätisten und Deserteure, denen wir doch in der Hauptsache den Zustand völliger Ohnmacht verdanken, als unser Retter hingestellt wird.«
Die Dolchstoßlegende blüht, die Jagd ist eröffnet: 1921 wird im Schwarzwald Matthias Erzberger von der katholischen Zentrumspartei, der Unterzeichner des Waffenstillstandes, getötet. Die Morde durch aktive junge Reichswehroffiziere und Freikorpsleute aus der deutschvölkischen Szene nehmen zu. Ihre Opfer sind Kommunisten, Sozialdemokraten, liberale und katholische Demokraten.
Im Juni 1922 trifft es den Kasseler Oberbürgermeister und ersten Ministerpräsidenten der Republik, den Sozialdemokraten Philipp Scheidemann – er entgeht nur knapp einem Blausäureattentat. Doch nur wenige Wochen später wird der jüdische Außenminister Walter Rathenau von der Deutschen Demokratischen Partei, der soeben den Vertrag von Rapallo zwischen Deutschland und Russland unterzeichnet hat, in Berlin erschossen. Die Täter, wie schon bei Erzberger, gehören zur rechtsextremen Organisation Consul.
Die prekäre wirtschaftliche Lage zu Anfang der Zwanzigerjahre verschärft die Unzufriedenheit vor allem unter den Arbeitern. Im mitteldeutschen Industriegebiet, in dem der Braunkohlebergbau und die chemische Industrie dominieren, kommt es in den frühen Zwanzigerjahren fortwährend zu Streiks, zu Zusammenstößen zwischen Arbeitern und der Polizei sowie zu Diebstählen in den Fabriken und landwirtschaftlichen Betrieben. Hier haben die Linksparteien ihre Hochburg – im Kreis Halle-Merseburg ist die KPD mit fast 30 Prozent stärkste Kraft.
Zuständig für das mitteldeutsche Gebiet ist die preußische Landesregierung – die aber weiß, dass sich hier seit den Märzaufständen 1920 noch zahlreiche Waffen in den Händen der Arbeiter befinden. Sie irrt sich nicht.
Und nun kommt wieder Max Hoelz, der Linksradikale mit Hang zur Anarchie, ins Spiel: Er schafft es, eine Streikbewegung in der Gegend um Mansfeld-Eisleben in einen gewaltsamen Aufstand zu verwandeln – mit bewaffneten Übergriffen auf Polizeibeamte, Brandstiftungen, Plünderungen, Bankraub, Sprengstoffattentate auf Eisenbahnstrecken und entgleisten Zügen. Angesichts dieser Gewalt entgleitet sogar der KPD-Führung in Halle zeitweilig das Heft des Handelns.
Der Aufstand droht auf den Freistaat Sachsen überzugreifen, doch schlagen die Bombenattentate gegen Justizgebäude in Dresden, Leipzig und Freiberg fehl. Allerdings kommt es nun in Hamburg zu blutigen Zusammenstößen zwischen Arbeitern und Polizei, sodass der Senat den Ausnahmezustand über die Elbestadt verhängen muss. Das ist noch nicht das Ende der Eskalation: Als Reichspräsident Friedrich Ebert am 24. März 1921 den nichtmilitärischen Ausnahmezustand für Hamburg und Mitteldeutschland erklärt, ruft die KPD den Generalstreik im ganzen Reich aus, um die Republik zu stürzen. Der Aufruf wird kaum befolgt, doch kommen bei diesen Märzkämpfen mehr als hundert Menschen ums Leben, werden 3000 Aufständische festgenommen.
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Diese gewaltsame Destabilisierung übersteht Sachsen glimpflich. Das Parlament versucht, die Bälle flach zu halten, aus eigener, unguter Erfahrung. Mit der Verfassung des Freistaates Sachsen vom Oktober 1920 hat sich dieser fest in die Weimarer Republik eingebunden, dabei jedoch einiges an Selbständigkeit verloren, wie die Finanz- und Eisenbahnhoheit. Die Internationale Elbekommission nimmt 1921 in Dresden ihre Beratung zur Regelung der Elbeschifffahrt auf. In Leipzig wird der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich eröffnet. Ihm wird sich 1922 Wolfgang Kapp nach zweijährigem schwedischen Exil stellen, um seine Motivation für den Putsch darzulegen. Kapp stirbt noch in der Untersuchungshaft an Krebs.
Das Ringen mit Argumenten statt mit Waffen, einhundert Jahre später schon vertrauter politischer Vorgang in Europa, fällt nicht nur den Militärs schwer und hat sich ab 1933 ohnehin wieder erledigt. Ein sozialdemokratischer deutscher Beamtenbund wird 1922 in Leipzig gegründet. Im selben Jahr lehnt der sächsische Landtag den Regierungsantrag ab, den 1. Mai und den 9. November zu gesetzlichen Feiertagen zu erklären.
Die Stunde der Nationalsozialisten ist noch nicht gekommen: Zwar gründet sich in Zwickau 1921 die erste außerbayerische NSDAP-Gruppe, setzt von hier aus die Expansion der Partei Richtung Dresden, Chemnitz, Leipzig ein – doch wird die NSDAP Ende 1922 in Sachsen zunächst verboten.
Schmerzhaft sind die Nadelstiche gegenüber der Kirche: Ein Gesetz verfügte bereits 1921 die Trennung des Kirchen- und Schuldienstes für Volksschullehrer. Nun wird durch eine Verordnung des sächsischen Kultusministers Lehrern und Schülern für religiöse Veranstaltungen an nichtgesetzlichen Feiertagen keine Befreiung vom Unterricht mehr erteilt.
1923 besetzt Frankreich das Ruhrgebiet, zudem rast eine Inflation durch Deutschland, die auch Teile des Bürgertums in die Armut stürzt. Die Republik scheint ihrem Ende nahe. Im Oktober 1923 schreibt der Schriftsteller Alfred Döblin, die Menschen »haben jetzt Millionen, Milliarden und versuchen vergeblich, dafür einzukaufen«. Erst Ende 1923 kann die Währungskatastrophe durch eine Ersatzwährung, die Rentenmark, abgefangen werden.
Und schleppten sich die ersten Weimarer Regierungen von Krise zu Krise, so geht es unter Gustav Stresemann nun für ein paar Jahre bergauf. Stresemann, der Vorsitzende der Deutschen Volkspartei, wird im Krisenjahr 1923 kurzzeitig Reichskanzler und danach bis zu seinem Tod Reichsminister des Auswärtigen. Unter ihm, der aus der Wirtschaftspraxis kommt, tritt eine gewisse Stabilisierung ein, die bis zum Ausbruch der Weltwirtschaftskrise 1929 und darüber hinaus anhält. Gustav Stresemann trägt zur Verbesserung der Beziehungen mit Frankreich bei, sein Ziel: Beendigung der außenpolitischen Isolation Deutschlands sowie eine friedliche Revision des Versailler Vertrages. Er vermag es, seinen französischen Amtskollegen Aristide Briand mit seiner Idee anzustecken. 1926 erhalten beide gemeinsam den Friedensnobelpreis, was im selben Jahr die Aufnahme des Deutschen Reiches in den Völkerbund zur Folge hat.
Der Mythos von den Goldenen Zwanzigern mag sich vor allem aus diesen mittleren Weimarer Jahren speisen. Denn zwischen hoher Politik und nach wie vor stattfindenden rechts- und linksradikalen Attacken geschieht ja auch Erfreuliches: In Berlin-Tempelhof wird ein Flughafen eröffnet. Der erste Zeppelin überquert von Friedrichshafen aus den Atlantik. Die gesundende Rentenmark wird 1925 in Reichsmark umbenannt. Im selben Jahr sind im Deutschen Reich bereits 200 000 PKW und 100 000 Motorräder zugelassen. Frankreich beginnt das Ruhrgebiet zu räumen. Mit der Entwicklung des Tonfilmes geht es rapide voran, und Max Schmeling wird 1927 Europameister im Halbschwergewicht. Elektrische Schnellzüge nehmen ihren Betrieb auf …
Mit der Weltwirtschaftskrise 1929 geht es dann steil bergab. Massiv wird die repräsentative Demokratie nun wieder von Nationalsozialisten und Kommunisten angefeindet, obwohl beide gern das Parlament als Bühne für ihre Agitation nutzen. Das vorläufige Ende des demokratischen Parlamentarismus kommt mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, auch in Sachsen: Nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Reichskanzler geworden ist und seine Koalition aus rechtsextremen Parteien bei den Reichstagswahlen vom 5. März 1933 die Mehrheit erreicht hat (NSDAP 43,9 Prozent, Kampffront Schwarz-Weiß-Rot 8,0 Prozent), verordnet der nationalsozialistische Reichskommissar für Sachsen, Manfred v. Killinger, am 4. April 1933 die Gleichschaltung des Landesparlaments. Die Fraktionen des Sächsischen Landtags werden nach dem Stimmenanteil bei der letzten Reichstagswahl umgebildet. KPD und SPD wird selbst das nicht mehr gestattet. Das von der NSDAP kontrollierte Restparlament bleibt ohne jeden politischen Einfluss. Formell existiert es noch bis zum 30. Januar 1934.
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Unvorstellbares geschieht jetzt mit jenen, die sich so vehement für die Errichtung und den Ausbau der Demokratie eingesetzt haben, mit allen Gegnern des Nationalsozialismus und den Deutschen jüdischer Herkunft.
Ex-Ministerpräsident Georg Gradnauer, der von 1921 bis 1932 die Sächsische Gesandtschaft in Berlin leitete, wird 1933 durch das NS-Regime in »Schutzhaft« genommen. 1944 erfolgt eine zweite Verhaftung – Gradnauer wird jetzt ins KZ Theresienstadt verschleppt und dort der Gruppe jüdischer »Prominenter« zugeordnet. In Theresienstadt erlebt er auch das Kriegsende.
Marie Juchacz, jene Abgeordnete der SPD, die 1919 als erste Frau im demokratisch gewählten Reichstag eine Rede hielt und im gleichen Jahr die Arbeiterwohlfahrt gründete, emigriert mit dem Machtantritt der Nationalsozialisten zunächst ins Saargebiet; als die Bevölkerung des Saarlandes für den Anschluss ans Deutsche Reich votiert, flieht sie weiter durch Frankreich und 1941 schließlich über Martinique nach New York. Dort wird sie 1945 die Arbeiterwohlfahrt USA – Hilfe für die Opfer des Nationalsozialismus gründen.
Und die ersten Frauen des Sächsischen Landtags, was wird nun aus ihnen? Die am meisten respektierte unter ihnen, die gebürtige Ostpreußin Julie Salinger, ist nach der NS-Machtübernahme kaum noch in der Dresdner Öffentlichkeit zu sehen. Es geht ihr schlecht: Ihr Mann, der Rechtsanwalt Julius Salinger, starb bereits 1921. Nun kommt auch ihr Sohn Paul 1933 auf ungeklärte Weise zu Tode. Ihre Wirkungsfelder – die Deutsche Demokratische Partei und die demokratische Frauenbewegung – sind verboten und haben sich aufzulösen. Doch das ist nur der Anfang. Julie Salinger muss die stufenweise Entrechtung und Misshandlung von Mitgliedern ihrer jüdischen Gemeinde erleben und 1938 den Synagogenbrand. Zwei Jahre später wird die bekannteste sächsische Abgeordnete gezwungen, aus ihrer Wohnung auszuziehen, gemeinsam mit ihrer Schwester Minna wird sie in das Judenhaus Bautzner Straße 20 eingewiesen. Beide Frauen werden 1942 von den Nazis enteignet und noch im selben Jahr ins Konzentrationslager Theresienstadt deportiert. Dort sterben Julie und ihre Schwester nach kurzer Zeit infolge der unmenschlichen Haftbedingungen.
Die USPD-Abgeordnete Anna Geyer aus Leipzig, die nur ein halbes Jahr lang ihr Mandat in der Volkskammer wahrnahm und dann ihrem Mann nach Hamburg und Berlin folgte, hat sich während der Zwanzigerjahre wieder der SPD zugewandt. Nun erleidet auch sie ein Emigrationsschicksal: Getrennt von ihrem Mann flieht Anna Geyer mit ihrer Tochter über Tschechien, Frankreich und Portugal in die USA, wo sie sich den deutschen Emigranten zuordnet: Sie verfasst Artikel für Emigrantenzeitungen und wirkt im German-American Council for the Liberation of Germany from Nazism mit.
Von der Chemnitzer Sozialdemokratin Helene Wagner, die 1919 mit Julie Salinger und Anna Geyer als erstes Frauen-Trio in die Sächsische Volkskammer einzog und im Landtag bis 1926 Abgeordnete blieb, verliert sich von 1933 an die Spur. Auch Tag und Ort ihres Todes sind nicht bekannt.
Das Ende der Demokratie und all das damit verbundene Grauen muss Marie Stritt nicht mehr miterleben, sie stirbt 1928 mit 73 Jahren an einem Herzleiden. In zahlreichen Nachrufen werden ihr Engagement, ihre Intelligenz und rednerische Begabung gewürdigt, unter anderem im Journal »Die Frau« der Nr. 36/1928:
»Das Beste und Höchste, was von einem Menschen gesagt werden kann, ist, daß seine formende Hand in der Gestaltung seines Wirkungsfeldes der geschichtlichen Rückschau unauslöschlich erkennbar bleibt. Es sind nicht viele Frauen, die in diesem höchsten Sinne Führerinnen waren. Marie Stritt gehörte zu ihnen!«
Drei Totenfeiern gibt es für die Verstorbene: Zunächst nimmt auf dem Tolkewitzer Friedhof in Dresden ein kleiner Kreis Abschied von Marie Stritt. Dem Wunsch der Verstorbenen entsprechend spricht Else Ulich-Beil die Worte des Abschieds, sehr persönlich und auf die lebenslange Verbundenheit Marie Stritts mit Siebenbürgen verweisend. Im Oktober 1928 gedenkt die deutsche und internationale Frauenbewegung ihrer programmatischen Führerin in einer großen Trauerfeier in der Aula der Dresdner Kreuzschule. Die Urne der Schauspielerin und Frauenrechtlerin wird schließlich nach Schäßburg in Siebenbürgen überführt. An der dortigen Totenfeier nimmt eine große Trauergemeinde teil, zu der neben Maries Familie, ihren Kindern und Enkeln auch zahlreich angereiste Vertreterinnen regionaler Frauenvereine zählen. In der NS-Zeit wird Marie Stritt totgeschwiegen, auch in der DDR gibt es keinerlei Erinnerung an die Nicht-Kommunistin.
Der Schriftsteller Erich Kästner geht 1921 mit seiner Dresdner Freundin Ilse Julius, die ihr Chemiestudium begonnen hat, für ein Semester an die Universität Rostock. Diese hat jedoch keinen guten Ruf in Kästners Hauptfach, der Germanistik. So wechselt er anschließend für ein Semester nach Berlin, das ihn stark prägt, bevor er an die Universität Leipzig zurückkehrt. Ilse Julius setzt ihr Chemiestudium an der TH Dresden fort. In Leipzig promoviert Erich Kästner 1925 an der philosophischen Fakultät. Sein Studium finanziert er mittlerweile durch Nebentätigkeiten mit. Diese bestehen vor allem in journalistischen Arbeiten, der Dresdner geht voll darin auf. Er schreibt für das »Leipziger Tageblatt« und die »Neue Leipziger Zeitung«, dies all neben seinem regulären Studium. In letzterem Blatt begegnet er dem Karikaturisten und Comic-Zeichner Erich Ohser, der an der Staatlichen Akademie für Graphik und Buchgewerbe studiert und die berühmten Geschichten von »Vater und Sohn« kreiert hat. Die beiden werden Freunde; sie liegen, was den Humor betrifft, auf einer Wellenlänge – Erich Ohser illustriert schon bald die Gedichtbände seines Freundes Erich Kästner. Als jedoch Kästners Gedicht »Nachtgesang des Kammervirtuosen« 1927 in der »Neuen Leipziger Zeitung« erscheint, köstlich illustriert von Erich Ohser, fliegen die beiden dort raus – sie sind der Zeitung inzwischen zu frivol. Nun hält Erich Kästner nichts mehr in Leipzig, er wechselt nach Berlin. Dort bleibt er während der gesamten NS-Diktatur. Seine Bücher landen als »undeutsch« auf dem Scheiterhaufen der Nazis. Doch im Ausland werden seine Bücher veröffentlicht; damit hält er sich über Wasser sowie mit einigen unter Pseudonym verfassten Drehbucharbeiten für Ufa-Komödien.
Sein Freund, der Comic-Zeichner Erich Ohser, überlebt die Nationalsozialisten nicht: Da er vor deren Machtübernahme bissige Karikaturen von Hitler und Goebbels veröffentlicht hatte, kann auch er nur noch unter Pseudonym arbeiten. Da er seine Abneigung gegen den NSDAP-Staat nicht für sich behalten kann, wird Erich Ohser 1944 denunziert und verhaftet. In der Nacht vor dem Prozessbeginn an Freislers »Volksgerichtshof« erhängt er sich in seiner Zelle.
Der Arzt und Schriftsteller Friedrich Wolf geht 1920 als Stadtarzt nach Remscheid, nimmt dort an den Ruhrkämpfen gegen den Kapp-Putsch teil. 1921 trennt er sich von seiner Frau Käthe, die als Heilgymnastin mit den gemeinsamen Kindern Johanna und Lukas in Dresden bleibt. 1922 heiratet Wolf erneut und wird in den Jahren darauf Vater der Söhne Markus und Konrad. 1928 tritt Friedrich Wolf in die KPD ein und wird schon 1931 vom »Völkischen Beobachter« der NSDAP als »einer der gemeingefährlichsten Vertreter des ostjüdischen Bolschewismus« ausgemacht. Denn Wolfs Theaterstücke haben den expressionistischen Aufbruch längst hinter sich gelassen und orientieren sich im Stil am sozialistischen Klassenkampf. Im medizinischen Bereich ist weniger Ideologie zu spüren. Und so erscheinen 1928 zugleich seine Streitschrift »Kunst ist Waffe« und sein naturheilkundliches Volksbuch »Die Natur als Arzt und Helfer«. 1933 emigriert Friedrich Wolf mit seiner neuen Familie über Frankreich in die Sowjetunion.
Der Romanist und Schriftsteller Victor Klemperer, der freiwillig für Deutschland in den Ersten Weltkrieg gezogen war, ist nach 1933 hochgefährdet. Er verliert 1935, im Zuge der Nürnberger Rassengesetze, seinen Lehrstuhl an der Technischen Hochschule Dresden. Und er verliert seine Wertschätzung als Deutscher; Klemperer wird zum Juden, der er nie sein wollte. In seinem Tagebuch notiert er:
»Alles, was ich für undeutsch gehalten habe, Brutalität, Ungerechtigkeit, Heuchelei, Massensuggestion bis zur Besoffenheit, alles floriert hier.«
Er erlebt Demütigungen im Alltag, die er nie für möglich gehalten hatte, und wird von der Gestapo schikaniert. Jahre später müssen er und seine Frau Eva Klemperer auch aus ihrem Haus raus, sie werden in ein Judenhaus eingewiesen:
»Etwa eine Stunde später Sturmklingeln bei uns. Ich öffnete und erhielt sofort eine klatschende Ohrfeige, weil ich zu spät geöffnet hatte. Mein Herz setzte aus, ich litt an schwerer Atemnot und Schmerzen. Ich sah, wie der eine der beiden Kerle nach Eva im Wohnzimmer spuckte.«
Allmählich verzweifelnd, notiert er im Mai 1942:
»Den schwersten Kampf um mein Deutschtum kämpfe ich jetzt. Ich muß daran festhalten: Ich bin deutsch, die anderen sind undeutsch; ich muß daran festhalten: Der Geist entscheidet, nicht das Blut. Ich muß daran festhalten: Komödie wäre von meiner Seite der Zionismus – die Taufe ist nicht Komödie gewesen.«
Victor Klemperer überlebt die NS-Zeit mit Mühe: Zunächst wegen seiner Verdienste im Ersten Weltkrieg und weil seine Frau als »arisch« gilt, er damit in einer sogenannten »Mischehe« lebt. Doch die Einweisung in ein Judenhaus ist die Vorstufe zur Deportation. Der entgeht er, weil das große Inferno am 13. Februar 1945, die Tausende von Spreng- und Brandbomben, die über der Stadt Dresden ausgeklinkt werden, auch die Unterlagen der Gestapo vernichten. Sicherheitshalber setzen sich Victor und Eva Klemperer nach Bayern ab, kehren aber nach Kriegsende und Ende des Nazi-Regimes nach Dresden zurück.
Und wie ergeht es den Malern, die so hoffnungsvoll in eine neue Zeit aufbrachen – die Weimarer Republik? Otto Dix wird 1927 zum Professor an der Dresdner Kunstakademie berufen, und auch er wird ein äußerst beliebter Lehrer. Er malt sein großes Triptychon »Der Krieg«, das heute zu den erschütterndsten Zeugnissen des Ersten Weltkrieges zählt. Er wünscht sich Oskar Kokoschka an die Akademie zurück. Als die Nationalsozialisten an die Macht kommen, stellt sich die Frage nicht mehr, durch Dresdens Straßen marschieren nun, wie durch ganz Deutschland, braune Horden. Professor Dix ist einer der ersten, die aus dem Amt gejagt werden. Er zieht sich an den Bodensee zurück, geht in die innere Emigration. Vorwiegend malt er jetzt altmeisterliche Landschaftsbilder, in die er bevorzugt zeitkritische Symbolik einfügt. 1937 wird Otto Dix offiziell zum »entarteten Künstler« erklärt – etwa 260 Werke werden beschlagnahmt, aus Galerien und Museen entfernt, zum Teil sogar vernichtet. Auch der Zweite Weltkrieg geht nicht an dem Maler aus Gera vorbei: Noch 1945 wird er zum »Volkssturm« eingezogen und gerät im Elsass in Gefangenschaft. Doch er überlebt die NS-Diktatur.
Otto Griebel wendet sich als Maler dem neusachlichen Verismus zu. 1921 wird er Leuna-Kurier im Mitteldeutschen Aufstand und widmet sich der Pressearbeit für die KPD. Er muss sich einem Prozess wegen Beleidigung der Reichswehr vor dem Landgericht Dresden unterziehen. Beteiligt ist er an der Internationalen Kunstausstellung in Dresden und an einer Ausstellung in der Sowjetunion. 1929 gründet Otto Griebel neben Hans und Lea Grundig sowie einigen anderen KPD-nahen Malern die Dresdner Gruppe der kurz zuvor in Berlin gegründeten Assoziation revolutionärer bildender Künstler (ASSO) mit, die im Dienste der KPD Plakate, Flugblätter und Spruchbänder für politische Aktionen konzipiert und produziert. Im Jahr darauf wird er Mitbegründer der »Neuen Dresdner Sezession 1931«. 1933 verhaftet die Gestapo Otto Griebel und stuft ihn als »entarteten Künstler« ein, einige seiner Bilder werden beschlagnahmt. Für zwei Jahre wird er künstlerischer Mitarbeiter am Dresdner Hygienemuseum, später Ausstellungsgestalter in Krakau, im besetzten polnischen Generalgouvernement. Beim Luftangriff auf Dresden am 13. Februar 1945 wird Otto Griebels Wohnung zerstört, sein Atelier und der Großteil seines Werkes. Im Juni 1945 kehrt der Maler nach Dresden zurück und arbeitet für die Sowjetische Militäradministration.
Kaum, dass er Dresden verlassen hat, wird Oskar Kokoschka wieder von den Erinnerungen an Alma Mahler eingeholt: 1921 inszeniert der Schauspieler Heinrich George, der eine Zeitlang mit Kokoschka und Hasenclever in der Dresdner Pension »Felsenburg« gewohnt hatte, in Frankfurt am Main das frühe Drama »Orpheus und Eurydike« von Oskar Kokoschka. Der hatte es 1916/17 noch schwer verwundet im Lazarett begonnen und erst 1918 beendet. Nun, in Frankfurt, führt Heinrich George nicht nur Regie, sondern spielt selbst auch den Orpheus. Der Autor Kokoschka sitzt während der Proben in der ersten Reihe des Parketts und weint still, aber unaufhörlich. Heinrich Georges Assistent Albrecht Joseph, der später die Tochter von Alma und Gustav Mahler heiraten wird, erinnert sich:
»Immer wenn ich aus dem Parkett über die kleine Notbrücke auf die Bühne steigen mußte, um etwas mit Heinrich George zu besprechen, sah ich unvermeidlich auf meinem Weg zurück Tränen über Kokoschkas Gesicht fließen. Ich wunderte mich, denn ich wußte nicht, daß Orpheus Kokoschka selbst war, Euridike war Alma, Psyche ihre Tochter Anna und Pluto war Gustav Mahler. Ich ahnte nicht, daß für einige Jahre nach Mahlers Tod Alma und Kokoschka eine leidenschaftliche, wilde Liebesbeziehung miteinander hatten, die damit endete, daß Alma ihren Geliebten drängte, als Freiwilliger in den Krieg auszuziehen, obwohl er durchaus nicht zum Soldaten geschaffen war. Er kam schwer verwundet von der Front heim, und Anna sagt, ihre Mutter habe sich geweigert, ihn im Spital zu besuchen oder ihn später überhaupt wiederzusehen. Er war als Soldat kein Erfolg gewesen, und das konnte sie nicht verzeihen.«
Ende der Zwanzigerjahre möchte die Kunstakademie Oskar Kokoschka als Lehrer wiedergewinnen. Der lässt eine Entscheidung offen, beteiligt sich aber 1932 bereits wieder an einer Dresdner Ausstellung. 1934 weicht der Künstler von Wien nach Prag aus, wo er seine spätere Frau, die Jura-Studentin Olda Palkovska kennenlernt. Er bekommt die tschechische Staatsbürgerschaft verliehen. 1937 diffamieren die Nazis auch ihn als »entarteten Künstler« und beschlagnahmen 417 seiner Werke aus deutschen Museen. Durch Beziehungen ihrer großbürgerlichen Eltern bekommt Olda 1938 Einsicht in die Listen der Nationalsozialisten, wer nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei »sicherzustellen« sei. Auf einer dieser Listen steht auch Oskar Kokoschka. Die beiden fliehen sofort nach England, dort ist der bedrohte österreichische Maler in Sicherheit.
Elfriede Wächtler kann nicht ahnen, was mit der NS-Diktatur auf sie zukommt. Nach ihrer Heirat 1921 mit dem Malerkollegen und Sänger Kurt Lohse heißt sie Elfriede Lohse-Wächtler. Ein Jahr lang lebt das Paar in der Sächsischen Schweiz, danach geht es nach Görlitz, wo Kurt Lohse als Sänger engagiert wird. Als er im Jahr darauf ans Theater Neustrelitz weiterzieht, kehrt die junge Malerin nach Dresden zurück, wo sich ihr ein Traum erfüllt: Sie kann an der Kunstakademie zeitweilig ein eigenes Atelier mit Elbblick nutzen. Ihr Mann Kurt Lohse wird ans Opernhaus Hamburg verpflichtet, als zweiter Bass, seine Frau Elfriede folgt ihm elbabwärts. Und abwärts geht es von nun an rapide: Kurt Lohse macht einer Freundin drei Kinder und verlässt seine Frau, als die ganz unten ist. Abtreibungen und eine Fehlgeburt, chronische Armut und Hypernervosität sind Elfriedes Begleiterscheinungen während der späten Zwanzigerjahre. In ihren wuchtigen, düsteren Hafen- und Hurenszenen hält sie die Erinnerung an Menschen wach, die normalerweise hochgradiger Achtlosigkeit ausgesetzt sind. Sie selbst zeigt Symptome einer psychischen Erkrankung und wird in die Staatskrankenanstalt Hamburg-Friedrichsberg eingewiesen. Hier schafft Elfriede Lohse-Wächtler mit den »Friedrichsberger Köpfen« eindrucksvolle Portraits erkrankter Menschen, die 1929 gleich auf mehreren Hamburger Ausstellungen zu sehen sind. Zwei Jahre später kehrt die Malerin nach Dresden zurück, wohnt bei ihren Eltern in Blasewitz und wird aufgrund einer Verschlechterung ihrer Krankheit im Jahr darauf in die Landesanstalt Arnsdorf bei Dresden eingewiesen, eine Psychiatrie. Auch hier schafft die begabte Malerin noch Zeichnungen von beeindruckender Sensibilität. Doch die Machtübernahme der Nationalsozialisten legt sich 1933 wie ein schwarzer Schatten auf Menschen, die plötzlich als »unwertes Leben« klassifiziert werden: 1935 – Kurt Lohse lässt sich jetzt endgültig scheiden – werden in Deutschland Patientinnen der Psychiatrie zwangssterilisiert. Als »chronisch krank« Geltende erhalten von nun an nur noch eingeschränkte Nahrung. Als 1940 im Deutschen Reich die Massenmordaktion an psychisch kranken und geistig behinderten Menschen anläuft, wird Elfriede Lohse-Wächtler, zusammen mit 52 Frauen und 33 Männern aus der Landesanstalt Arnsdorf, nach Pirna-Sonnenstein deportiert. Dort führt man jeweils zwanzig bis dreißig Opfer in die als Duschraum mit mehreren Brauseköpfen getarnte Gaskammer. Zur Täuschung liegen im Vorraum auf Holzbänken Seife, Waschlappen und Handtücher. Nach Schließung der Tür dreht ein Arzt im Nachbarraum die Ventile der Kohlenmonoxidflaschen auf. Der qualvolle Todeskampf dauert zehn bis fünfzehn Minuten. Als Elfriede Lohse-Wächtler hier ermordet wird, ist die Dresdner Malerin vierzig Jahre alt.
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Unfassbar ist, dass nach dem Horror des Ersten Weltkrieges so viele Deutsche sich für eine nationalsozialistische Diktatur entscheiden. Alle Gründe des Scheiterns der Weimarer Republik sind vielfach und überzeugend untersucht – der Schandfrieden von Versailles, das Festbeißen von Rechtsradikalen und Linksradikalen an Fehlern der ad hoc eingesetzten ersten demokratischen Regierung … Und doch bleiben Massenwahn und Holocaust und ein Zweiter Weltkrieg noch immer unfassbar. Auch wenn Historiker alle Gründe dafür aufbereitet haben, bleibt die Frage: Wieso fallen so viele Menschen, und dies weltweit, auch im 21. Jahrhundert noch auf Demagogen herein, lassen sich auf Kommando auf fremde und auch nahe Mitmenschen hetzen?
1981 findet der französische Bauer Ferdinand Boulanger auf dem Dachboden seines lothringischen Bauernhofes in Fiquelmont eine kleine, verstaubte Schnapsflasche mit einer rätselhaften Botschaft darin. Unter kuriosen Umständen gelangt der seltsame Zettel in die Hände von Spezialisten der französischen Luftwaffe. Ihnen gelingt es, den Text zu entziffern: Zum Vorschein kommt eines der berührendsten Friedenszeugnisse des Ersten Weltkrieges! Verfasst wurde es am 17. Juli 1916 von sechs Soldaten des 2. deutschen Husarenregiments der Reserve, die hier einquartiert waren. Die Schlachtfelder von Verdun liegen nur wenige Kilometer von Fiquelmont entfernt.
In einem dramatischen Appell rufen die sechs Einquartierten die kommenden Generationen zum Frieden auf: Frieden durch ein geeintes Europa! Die Unterzeichner sind einfache Soldaten und sie kommen aus allen Teilen Deutschlands. Mehr als ein halbes Jahrhundert wird es dauern, bis ihr dramatischer Appell auf fruchtbaren Boden fällt.
Fine