Alexandra saß am Mahagonitisch im eleganten Esszimmer in der Wohnung ihrer Eltern in der östlichen 79th Street und aß genussvoll das Tomatenomelett, das ihre Mutter ihr gerade zubereitet hatte. Es war wirklich köstlich, dachte sie. Bei ihr wurde daraus immer eine flüssige Pampe, obwohl ihre Mutter es ihr doch beigebracht hatte.
»Es schmeckt toll, Mom«, sagte sie nach einer Weile. »Danke, dass du dir Zeit für mich genommen hast. Ich weiß, dass du die Samstage gerne für dich hast.«
»Sei nicht albern, ich freue mich doch, dass du da bist«, erwiderte Diane Gordon lächelnd. »Als du heute früh angerufen hast, wollte ich auch gerade zum Hörer greifen und dich fragen, wie es dir geht.«
Alexa erwiderte das Lächeln ihrer Mutter und fragte: »Wann kommt Dad eigentlich aus Los Angeles zurück?«
»Dienstag, hat er gesagt, aber es könnte auch Freitag werden. Du weißt ja, wie es beim Fernsehen ist.
»Vermutlich trifft sich Dad auch mit Tim«, mutmaßte Alexa.
»Ja, sie essen heute Abend zusammen. Dad geht mit ihm zu Morton’s.«
»Das wird Tim gefallen, das ist doch sein Lieblingslokal. Ich glaube sowieso, er wird ganz dableiben. Als ich letzte Woche mit ihm telefoniert habe, war er völlig begeistert von Los Angeles und seinem neuen Job und von NeverLand Productions. Er meint, er ist der geborene Filmemacher.«
Diane lachte. »Ja, da hat er wohl Recht. Er wollte ja als Kind schon immer mit seinem Vater ins Fernsehstudio gehen. Und Großvater Gordon war schließlich auch Theaterregisseur. Show-Business steckt Tim höchstwahrscheinlich im Blut.« Diane trank einen Schluck Wasser und fragte ihre Tochter: »Möchtest du ein Glas Wein, Liebling?«
»Nein, danke, Mom, nicht tagsüber. Ich werde dann immer ganz schläfrig. Außerdem macht es dick ... Ich nehme lieber meine Kalorien in Form von Brot zu mir.« Sie griff nach einem Stück Baguette, das ihre Mutter aufgeschnitten und in einem silbernen Brotkorb angerichtet hatte. Großzügig bestrich sie es mit Butter und biss davon ab.
»Du musst dir ganz sicher keine Gedanken über dein Gewicht machen. Du siehst fantastisch aus«, bemerkte Diane, wobei sie dachte, wie jung Alexandra für ihr Alter wirkte. Und dabei würde sie noch diesen Sommer einunddreißig. Ihr kam es so vor, als sei sie erst gestern auf dem Fußboden gekrabbelt. Mein Gott, als ich in ihrem Alter war, da hatte ich zwei Kinder, dachte Diane, einen Mann, um den ich mich kümmern musste, und ich war berufstätig. Einunddreißig, sinnierte sie, und im Mai werde ich achtundfünfzig. Wie doch die Zeit verfliegt. Wohin sind nur all die Jahre gegangen? David wird im Juni neunundfünfzig. Und noch unglaublicher ist, dass wir schon so lange verheiratet sind und uns immer noch lieben. Auch eine Art Rekord?
»Mom, worüber denkst du nach? Du machst so ein seltsames Gesicht. Ist alles in Ordnung?«, hakte Alexa nach.
»Natürlich. Ich habe nur gerade über deinen Vater nachgedacht. Es ist doch erstaunlich, dass wir schon seit dreiunddreißig Jahren verheiratet sind. Die Jahre sind im Nu verflogen. Einfach so.« Sie schnipste mit den Fingern und schüttelte nachdenklich den Kopf.
»Ihr beiden habt Glück gehabt, dass ihr euch gefunden habt«, murmelte Alexa.
»Ja, das stimmt.«
»Du und Dad, ihr seid wie füreinander geschaffen. Wart ihr euch von Anfang an so ähnlich? Das habe ich mich oft gefragt, Mom.« Sie legte den Kopf schräg und betrachtete ihre Mutter, wobei sie dachte, dass sie eine der schönsten Frauen war, die sie je gesehen hatte, mit ihrem Pfirsichteint, ihren blassgoldenen Haaren und den außergewöhnlich großen blauen Augen.
»Starr mich nicht so an, Alexa! Dann siehst du bloß meine ganzen Falten!«
»Oh, Mom, du hast nicht eine einzige Falte. Kein Witz, wie Dad immer sagt.«
Diane lachte und murmelte: »Und du, mein Mädchen, siehst nicht einen Tag älter als fünfundzwanzig aus. Mir fällt es schwer zu glauben, dass du im August schon einunddreißig wirst.«
»Das liegt an der neuen Frisur. Die kurzen Haare machen mich um Jahre jünger.«
»Ja, wahrscheinlich. Die meisten Frauen sehen mit kurzen Haaren jünger und frecher aus. Und der Schnitt ist sehr chic.«
»Du hast mir einmal gesagt, keine Frau könne elegant sein, wenn ihr die Haare bis auf die Schultern fallen. Nur mit kurzen Haaren hat man Stil. Und du musst es ja wissen, schließlich giltst du als eine der elegantesten Frauen in New York, wenn nicht sogar als die eleganteste.«
»Oh, das stimmt nicht, aber danke für das Kompliment.«
»Sogar die Presse bezeichnet dich als Mode-Ikone, als lebende Legende. Und deine Boutiquen gehören schon seit Jahren zu den ersten Adressen der Stadt.«
»Dazu haben wir alle mit harter Arbeit beigetragen, nicht nur ich, Alexa. Aber was ist mit dir, Liebling? Bist du mit diesen Winterbildern fertig?«
Alexas Miene hellte sich auf. »Ich bin am Dienstag fertig geworden. Gestern habe ich die Vergrößerungen im Fotostudio gesehen. Sie sind toll geworden, Mom, auch wenn ich mich damit selber lobe.«
»Es ist nichts Falsches daran, wenn man seine Arbeit gut findet. Du bist sehr talentiert, und ich war von einigen Bildern geradezu überwältigt.« Diane blickte ihre Tochter aus ihren ausdrucksvollen hellblauen Augen nachdenklich an. Nach einer Weile fragte sie: »Und ... was steht als Nächstes bei dir auf dem Programm?«
»Ich muss nur noch ein kleines Bühnenbild für dieses Stück machen.« Mit einem hohlen Auflachen fügte Alexa hinzu: »Danach habe ich erst mal keine Arbeit mehr.«
»Das wird nicht lange dauern«, erwiderte Diane und musterte ihre Tochter voller Stolz. »Nicht bei dir.«
»Eigentlich mache ich mir auch keine Sorgen. Irgendwas wird schon kommen – das war bisher immer so.«
Diane nickte und kniff die Augen zusammen. »Du hast am Telefon gesagt, du wolltest mit mir reden. Was ...«
»Können wir das auf später, beim Kaffee, verschieben?«, warf Alexa rasch ein.
»Ja, aber stimmt etwas nicht? Du hast am Telefon so besorgt geklungen.«
»Nein, ehrlich, es ist alles in Ordnung. Ich brauche nur ... jemanden, der wirklich gut zuhören kann.«
»Geht es um Jack?«
»Nein, und jetzt hörst du dich an wie die typische Mutter, was Gott sei Dank nicht so häufig vorkommt. Nein, es geht nicht um Jack.«
»Sei nicht so ungeduldig mit mir, Alexa. Jack Wilton ist übrigens sehr nett.«
»Ich weiß, und er findet dich und Dad auch unheimlich nett.«
»Das freut mich. Und was empfindet er für dich? Das ist doch viel wichtiger.«
»Ich bedeute ihm viel.«
»Dein Vater und ich finden, er gäbe einen guten – einen sehr netten Schwiegersohn ab.«
Alexa schwieg.
Eine halbe Stunde später saß Alexandra ihrer Mutter im Wohnzimmer gegenüber und sah zu, wie sie Kaffee in die zarten Porzellantassen einschenkte. So objektiv, wie es ihr möglich war, betrachtete sie sie, und ihr kam auf einmal in den Sinn, was sie doch für eine einzigartige Person war, eine kluge, erfolgreiche und hochintelligente Frau. Sie hatte Verständnis für menschliche Schwächen und Fehler, weil sie mitfühlend war und viel Einsicht besaß. Aber würde sie auch ihr Dilemma mit zwei Männern verstehen?
Soweit Alexa wusste, hatte es im Leben ihrer Mutter immer nur einen Mann gegeben, und das war ihr Vater. Diane Carlson hatte ihn mit vierundzwanzig kennen gelernt, und innerhalb eines Jahres waren sie verheiratet gewesen. Aber sie wird mich schon verstehen, beruhigte Alexandra sich. Sie ist ja nicht prüde oder engstirnig, und sie urteilt auch nicht vorschnell über andere. Nur, wie soll ich ihr die Geschichte erzählen? Wo soll ich anfangen?
Als ob Diane die Gedanken ihrer Tochter lesen könnte, verkündete sie: »So, Alexa, ich bin ganz Ohr. Worum es auch geht, ich werde versuchen, dir gute Ratschläge zu geben.«
»Das weiß ich, Mom«, erwiderte Alexa. »Danke«, fügte sie hinzu, als ihre Mutter ihr die Kaffeetasse reichte. Sie stellte sie auf den kleinen antiken Tisch zwischen ihnen und lehnte sich in die Samtkissen des cremefarbenen Sofas zurück. Dann sagte sie: »Ich habe eine Einladung zu einem Fest in Paris bekommen. Anja feiert ihren fünfundachtzigsten Geburtstag.«
Lächelnd rief Diane aus: »Du meine Güte, ich fasse es nicht, diese Frau ist ein Phänomen!«
»Ja, das ist sie. Sie sieht nicht nur viel jünger aus, als sie ist, sondern sie sprüht auch vor Energie und Vitalität. Erst letzten Monat hat sie mir erzählt, sie wolle schon wieder ein Buch schreiben, dieses Mal über Art déco. Sie ist wirklich erstaunlich.«
»Das wird eine schöne Reise für dich werden. Wann ist denn das Fest?«
»Am zweiten Juni, im Ledoyen. Eine Dinnerparty mit Tanz.«
»Wunderbar. Wir müssen dir etwas Hübsches zum Anziehen aussuchen. Brauchst du ein Abendkleid?«
»Ja, aber ich weiß noch nicht, ob ich überhaupt hinfahren soll, Mom.«
Verblüfft runzelte Diane die Stirn. »Warum denn nicht? Du stehst Anja so nahe, und du warst immer eine ihrer Lieblingsschülerinnen. Mehr als die anderen ...« Diane brach abrupt ab und starrte ihre Tochter an. »Ach so, natürlich. Das ist der Grund. Du möchtest nicht hinfahren, weil du die anderen drei nicht sehen willst. Na ja, das kann ich verstehen.«
Alexandra zuckte zusammen, als ihr plötzlich auffiel, dass sie an ihre früheren besten Freundinnen, die dann zu ihren Feindinnen geworden waren, nicht einen Gedanken verschwendet hatte. Sie hatte nur an Tom Conners gedacht. Aber ihre Mutter hatte ganz Recht, die drei Frauen waren wirklich ein guter Grund, nicht nach Paris zu fahren. Sie würden bestimmt auch auf dem Fest sein ... Anja hatte sie sicher ebenfalls eingeladen ... schließlich waren die vier Mädchen im Abschlussjahr damals ihr größter Stolz gewesen ... ihre Starschülerinnen. Natürlich würden sie da sein ...
»Du hast Recht, Mom, ich habe keine Lust, sie zu sehen«, sagte Alexa. »Aber das ist nicht der Grund, warum ich nicht nach Paris fahren möchte. Eigentlich geht es um jemand anders.«
»Und um wen?«
»Sein Name ist Tom Conners.«
Einen Moment lang war Diane perplex. Der Name kam ihr bekannt vor, aber sie wusste nicht, woher. Mit zusammengekniffenen Augen beugte sie sich vor. »Tom Conners. Kenne ich ihn? Ach ja, jetzt fällt es mir wieder ein. Ist das nicht der Franzose, den du uns vor ein paar Jahren vorgestellt hast?«
»Genau, aber Tom ist halb Franzose, halb Amerikaner. Ich habe dir damals von seiner Familie erzählt. Sein Vater ist Amerikaner, er ist Anfang der fünfziger Jahre nach Paris gekommen, hat eine Französin geheiratet und ist dort geblieben. Tom ist in Paris aufgewachsen, er hat sein ganzes Leben in Frankreich verbracht.«
»Ja, jetzt erinnere ich mich, Liebling. Er ist Anwalt, nicht wahr, und sieht sehr gut aus. Aber ich habe damals gar nicht gemerkt, dass das zwischen euch beiden etwas Ernstes ist. Ich dachte, er sei nur eine Zufallsbekanntschaft, ein kurzer Flirt.«
»Wir waren fast zwei Jahre zusammen.«
»Ich verstehe.« Diane lehnte sich zurück. Wie hatte ihr diese Beziehung nur entgehen können? Andererseits hatte Alexa damals in Paris gelebt und mit Anjas beiden Neffen für Film und Theater gearbeitet. Und sie hatte nie ein Wort über Tom Conners verlauten lassen. Das war wirklich seltsam, dachte Diane jetzt. Langsam sagte sie: »Du fühlst dich also immer noch an Tom Conners gebunden. Meinst du das?«
»Nein ... ja ... nein ... Weißt du, Mom, wir haben uns nie mehr gesehen, und ich höre auch nichts mehr von ihm, er hat sich nie mehr gemeldet, aber irgendwie ist er da ... in mir, in meinen Gedanken ...« Sie vollendete den Satz nicht und warf ihrer Mutter einen hilflosen Blick zu.
»Warum hast du dich von ihm getrennt, Alexa?«, fragte Diane neugierig.
»Er hat sich von mir getrennt. Vor drei Jahren.«
»Aber warum denn?«, forschte ihre Mutter.
»Weil ich heiraten wollte, und er konnte mich nicht heiraten.«
»Ist er denn schon verheiratet?«
»Nein. Damals nicht und heute auch nicht.«
»Ich verstehe das nicht. Wo liegt denn dann das Problem?«, murmelte Diane verblüfft.
Zögernd überlegte Alexa, wie sie ihrer Mutter Toms Geschichte erzählen sollte. Sie war so schmerzlich, so quälend. Sie würde ganz von vorne anfangen müssen, damit Diane alles verstehen konnte.
Leise begann sie: »Tom hat sehr jung seine Sandkastenliebe Juliette geheiratet. Sie sind zusammen aufgewachsen, und ihre Eltern waren befreundet. Tom und Juliette hatten ein kleines Mädchen, Marie-Laure, und nach dem, was er mir erzählt hat, müssen sie sehr glücklich gewesen sein ... ein richtiges Bilderbuchpaar. Und dann ist etwas passiert ...«
Alexa schwieg, holte tief Luft und fuhr fort: »Im Juli 1985 fuhren sie nach Athen in Urlaub. Aber Tom musste sich auch mit einem Klienten aus Paris treffen, der dort ein Sommerhaus besaß. Also vereinbarte er für den Vormittag einen Termin mit diesem Klienten. Zum Mittagessen wollte er sich mit Juliette und Marie-Laure wieder in ihrem Lieblingscafé treffen, aber Tom wurde aufgehalten und kam ein bisschen später dort an. Auf dem Platz herrschte ein wirres Durcheinander. Polizeiautos und Krankenwagen standen dort, überall war Blut, Leichen und Sterbende lagen herum, als ob ein Massaker stattgefunden hätte. Die Polizei erklärte Tom, dass kurz vor seiner Ankunft eine Bombe explodiert sei, höchstwahrscheinlich von Terroristen gezündet; sie hatte einem der großen Reisebusse mit amerikanischen Touristen gegolten. Die sechzig Passagiere waren sofort tot.
Der Bus war direkt vor dem Café, wo Juliette und Marie-Laure auf Tom gewartet hatten, explodiert. Die Gäste vor dem Café wurden von der gewaltigen Druckwelle von ihren Stühlen gehoben, viele starben und die anderen waren schwer verletzt ...« Alexa brach ab und konnte erst nach einer Weile weitersprechen.
Schließlich fuhr sie fort: »Tom konnte Juliette und Marie-Laure nirgends finden, und wie du dir vorstellen kannst, war er außer sich vor Sorge und Panik. Schließlich fand er sie unter den Trümmern des Cafés ... die Decke war über ihnen eingestürzt, sie waren beide tot.« Blinzelnd fügte Alexa so leise hinzu, dass Diane sie kaum verstehen konnte: »Von diesem ... diesem ... Albtraum hat er sich nie wieder erholt.«
Diane starrte Alexandra entsetzt an. Tränen traten ihr in die Augen. »Wie grauenhaft! Was für eine schreckliche Tragödie«, murmelte sie. Als sie aufblickte, sah sie, dass ihre Tochter wie erstarrt da saß und leichenblass war.
Sie setzte sich neben sie aufs Sofa und nahm sie in den Arm. »Oh, mein Liebling, du liebst ihn immer noch ...«
»Meinst du? Ich weiß nicht, Mutter, aber er beschäftigt mich sehr, das stimmt schon. Er ist immer in meinen Gedanken. Aber ich weiß, dass es für mich keine Zukunft mit Tom gibt. Er wird mich nie heiraten, und er kann keine dauerhafte Beziehung zu mir aufbauen. Weißt du, er wird einfach nicht damit fertig.«
»Es kann auch sein, dass er es nur nicht zulässt«, erwiderte Diane leise.
»Ja, vielleicht. Ich glaube, Tom hat schreckliche Schuldgefühle, weil er noch lebt, und deshalb darf niemand in seinem Leben eine wichtige Rolle spielen, sonst käme es ihm so vor, als hätte er Juliette und Marie-Laure vergessen. Du hast mich zu einem vernünftigen, praktischen Menschen erzogen, und das bin ich wohl auch. Nachdem wir uns getrennt hatten, habe ich mein Leben weitergelebt ... Ich wusste, dass ich nicht ständig hinter ihm herjammern durfte, dass das nicht die Zukunft war.«
Diane nickte. »Das war auch richtig, und du hast dich beruflich fantastisch entwickelt. Ich bin stolz auf dich, Alexa, du hast dich von deinen persönlichen Problemen nicht unterkriegen lassen. Alle Achtung!«
»Du hast mir vor Jahren einmal gesagt, ich dürfe meine Begabung nicht vergeuden, und ich habe auf dich gehört, Mom. Außerdem wollte ich mir selber meinen Lebensunterhalt verdienen, ich wollte Dad und dir nicht länger auf der Tasche liegen, nachdem ihr mich auf so viele teure Schulen geschickt hattet.«
Wieder nickte Diane. »Wie alt ist er eigentlich? Tom, meine ich.«
»Er ist zweiundvierzig.«
Diane musterte ihre Tochter prüfend, dann fragte sie:
»Liebst du Jack Wilton wenigstens ein bisschen?«
»Ja. Auf gewisse Weise liebe ich ihn.«
»Aber nicht so, wie du Tom liebst?«
»Nein.«
»Du könntest dir aber ein Leben mit Jack vorstellen?«
Alexandra nickte. »Ich glaube schon. Es spricht vieles für ihn. Er ist sehr attraktiv und charmant, und wir verstehen uns gut. Wir passen gut zusammen, er bringt mich zum Lachen und wir haben die gleichen Ansichten. Wir bewundern und respektieren einander.« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Er liebt mich wirklich, weißt du. Er möchte mich heiraten.«
»Würdest du ihn denn heiraten?«, fragte Diane ruhig.
Alexa schmiegte sich an ihre Mutter und seufzte tief auf. Plötzlich traten ihr Tränen in die Augen, aber sie fasste sich schnell wieder. »Ich habe es geglaubt, Mom. Aber jetzt weiß ich es nicht mehr. Seit die Einladung gekommen ist, bin ich völlig durcheinander.«
»Du wirst Tom wiedersehen, wenn du nach Paris fährst. Wolltest du darüber mit mir reden?«
»Ja.«
»Aber du bist doch stark ... du bist immer schon stark gewesen, selbst als kleines Mädchen.«
Alexa schwieg.
Schließlich fuhr Diane langsam fort: »Ich will dir sagen, was ich darüber denke. Du musst Tom vergessen. Du musst ihn dir ein für allemal aus dem Kopf schlagen. Meiner Meinung nach ist er weder für dich noch für irgendeine andere Frau bestimmt, Alexa. Was seiner Frau und seinem Kind zugestoßen ist, war sehr, sehr tragisch, aber es ist Jahre her. Sechzehn Jahre, um genau zu sein. Und wenn er es immer noch nicht überwunden hat ...«
»Vor drei Jahren war er noch nicht darüber hinweg, aber vielleicht ...«
»... dann wird er nie darüber hinwegkommen«, beendete Diane ihren Satz mit fester Stimme. »Dein Platz ist hier in New York, nicht in Paris. Du hast deine Arbeit hier, und du kannst mit Jack ein wundervolles Leben führen ...« Diane brach ab, dann zog sie ihre Tochter an sich. »Es gibt viele Arten von Liebe, weißt du. Und manchmal ist die große Liebe nicht auf Dauer angelegt ... vielleicht wird ja gerade deshalb die große Liebe daraus, weil sie zu Ende geht.« Diane seufzte, fuhr aber gleich fort: »Ich weiß, wie schwer es ist, jemanden aufzugeben. Aber schließlich hat sich Tom Conners von dir getrennt, Alexa, und nicht umgekehrt. Fahr nicht nach Paris. Sonst gerätst du nur in Versuchung, Tom wiederzusehen, und reißt alte Wunden auf.«
»Du hast wahrscheinlich Recht, Mom. Aber Anja wird sehr enttäuscht sein, wenn ich nicht auf ihr Fest komme.«
»Das glaube ich allerdings auch.« Diane schwieg. »Aber es gibt eine Alternative. Du könntest mit Jack zusammen nach Paris fahren. Wenn du mit einem anderen Mann dort bist, kannst du dich nicht auf die Suche nach Tom machen.«
Was wollen wir wetten?, dachte Alexandra. Laut jedoch sagte sie: »Die Einladung gilt nur für mich. Anja hat nur ehemalige Schüler und ihre Familie eingeladen.«
»Aber sie würde es dir doch nicht abschlagen ... nicht, wenn du ihr erklärst, dass du mit ... deinem Verlobten nach Paris kommst.«
»Ich weiß nicht, wie sie reagieren würde. Ich muss darüber nachdenken, Mom.«
Die Einladung stand auf dem Kaminsims neben der Uhr, und als Alexandra nach Hause kam, nahm sie sie zur Hand und las sie noch einmal.
Unten in der linken Ecke stand unter den Buchstaben RSVP als Datum der erste April. In der rechten Ecke stand Smoking und darunter Abendkleid. Der Einladung beigefügt war eine kleine Antwortkarte mit einem Umschlag, adressiert an Madame Suzette Laugen, 158 Boulevard St. Germain, Paris.
Also hatte sie noch den restlichen Februar und fast den ganzen März Zeit, um sich zu überlegen, was sie tun sollte.
Tief im Innern wollte sie hinfahren und den Geburtstag mit Anja feiern. Diese außergewöhnliche Frau hatte gewaltigen Einfluss auf ihr Leben gehabt. Aber Tom Conners war ein Problem und auch ihre ehemaligen Freundinnen ... Jessica, Kay und Maria. Die Frauen, die ihr früher einmal so nahegestanden hatten. Sie waren unzertrennlich gewesen, und jetzt waren sie völlig zerstritten.
Erster April, dachte sie. Ein denkwürdiger Jahrestag, weil sie Tom Conners am ersten April kennen gelernt hatte. Damals war sie fünfundzwanzig gewesen und er siebenunddreißig.
Aprilscherz, dachte sie spöttisch. Aber sie war sich nicht sicher, ob sie sich meinte oder ihn.
Sie stellte die Einladung wieder zurück und hockte sich vor den Kamin. Mit einem Streichholz entzündete sie das zerknüllte Papier und die Späne, die auf dem Rost aufgeschichtet waren. Innerhalb von Minuten fingen auch die Holzscheite Feuer, und die Flammen züngelten auf.
Alexandra knipste die Stehlampe an. Ihr warmer Schein und das Feuer im Kamin verbreiteten eine gemütliche Atmosphäre im Wohnzimmer, das im trüben Licht des winterlichen Nachmittags bereits dunkel gewesen war. Sie war müde, weil sie von ihrer Mutter aus von der 79th bis zur 39th Street die Park Avenue entlanggegangen war. Vierzig Blocks waren ein gutes Training, aber schließlich hatte sie doch aufgegeben und sich ein Taxi zu ihrer Wohnung genommen.
Alexa trat ans Fenster und blickte auf die Lichter von Manhattan, die langsam angingen. Dann setzte sie sich auf das Sofa vor den Kamin und blickte in die tanzenden Flammen. Ihr ging vieles durch den Kopf, aber fast alle ihre Gedanken hatten mit Tom zu tun.
Nicky Sedgwick hatte sie einander vorgestellt, als Tom zu den Studios in Billancourt herausgekommen war, um sich mit seinem Klienten Jacques Durand, einem Filmproduzenten, zu treffen. Es ging um eine französisch-amerikanische Koproduktion, sehr aufwändig und kostspielig. Nicky und sein Bruder Larry waren für die Drehorte und die gesamte Ausstattung des Films zuständig gewesen, und auf Anjas Vorschlag hin hatten sie Alexa als Assistentin eingestellt. Sie hatten sie jedoch so mit Arbeit und Verantwortung überhäuft, dass sie eher zum Partner wurde.
Der Film war eine Herausforderung gewesen, und sie hatte viel gelernt. Es war ein historisches Drama über Napoleon und Josephine in den Anfängen ihrer Beziehung, und Nicky nahm es äußerst genau mit den historischen Details. Sie zuckte heute noch zusammen, wenn sie an die endlosen Stunden dachte, die sie in Malmaison verbracht hatte. Sie hatte sich zahllose Notizen gemacht, das Haus förmlich auswendig gelernt und sich oft gefragt, wie das berühmte Paar dort überhaupt hatte leben können. Vermutlich lag es an dem Park und an der Nähe zu Paris. Nicky war begeistert von ihrem Einsatz, ihren Vorschlägen und vor allem von ihren Entwürfen gewesen. Im Großen und Ganzen war es eine positive Erfahrung gewesen, und danach hatte sie immer wieder für die beiden Brüder gearbeitet, bis sie Paris verlassen hatte.
An dem Tag, als Tom Conners in die Studios kam, liefen die Dreharbeiten gut, und Jacques Durand hatte gute Laune gehabt. Er und Tom hatten die Sedgwicks zum Abendessen eingeladen, als sie gerade zusammenpackten, und da sie dabei war, galt die Einladung auch für sie, da Anjas Neffen sie in gewisser Weise adoptiert hatten.
Sie war fasziniert gewesen von Toms außergewöhnlich gutem Aussehen, seinem Charme und seiner Weltgewandtheit. In seiner Gegenwart kam sie sich fast wie ein Schulmädchen vor. Aber er hatte sie wie eine Erwachsene behandelt, galant und freundlich, und noch bevor das Abendessen vorüber war, hatte sie sich in ihn verliebt. Er brachte sie nach Hause, und schon in seinem Auto lag sie in seinen Armen; zwei Tage später hatte sie dann in seinem Bett gelegen.
»Spontanzündung«, hatte er es zuerst genannt, aber kurz darauf bezeichnete er es nur noch als coup de foudre, als Blitzschlag, als Liebe auf den ersten Blick. Und das war es auch gewesen.
Hinter seinem Charme und seiner Anmut verbarg sich ein schwieriger, launischer Mann, den der sinnlose Tod seiner Frau und seines Kindes niederdrückte, obwohl er versuchte, seinen Kummer vor der Außenwelt zu verbergen.
Nicky hatte sie manchmal mit Tom geneckt und einmal hatte er gesagt: »Vermutlich finden Frauen seine düsteren Byronschen Launen sexy.« Sie wusste, worauf er anspielte, aber Tom schauspielerte nicht. Manchmal empfand er wirkliche körperliche Schmerzen. Larry hatte sie ganz offen gewarnt: »Er bringt eine Menge Seelenballast mit. Pass auf und schütz dich. Er ist ein gefährlicher Mann.«
Alexa griff nach der Wolldecke auf der Sofalehne und deckte sich damit zu. In Gedanken war sie immer noch bei Tom und ihrer gemeinsamen Zeit in Paris. Trotz seiner düsteren Stimmungen, seinen furchtbaren Anfällen von Traurigkeit, war ihre Beziehung immer gut gewesen, sogar ekstatisch, wenn er die Schatten der Vergangenheit einmal hinter sich lassen konnte. Und sie war nur zu Ende gegangen, weil sie dauerhaft mit ihm zusammen sein wollte. Sie hatte Ehe und Kinder gewollt.
Sie dachte oft an ihn, fragte sich, wie sein Leben verlief, was er machte. Vermutlich litt er immer noch. Das Ausmaß seines Leids hatte sie ihrer Mutter nicht vermitteln können.
Er war jetzt zweiundvierzig und immer noch unverheiratet, da war sie sich sicher. Was für eine Verschwendung, dachte sie und schloss die Augen. Auf einmal war sie todmüde. Und sie wollte vergessen ... Tom und ihre Gefühle für ihn vergessen, die Zeit in Paris vergessen ... sie würde nie wieder dorthin zurückgehen. Noch nicht einmal zu Anja Sedgwicks fünfundachtzigstem Geburtstag.