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Kay

Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich mitten in diesem Zimmer unter dem Kronleuchter mit ihm getanzt habe, dachte sie und trat in den Raum.

Mit ausgestreckten Armen, als hielte sie einen Mann umschlungen, wirbelte Kay Lenox zu den Klängen eines altmodischen Walzers, der nur in ihrem Kopf erklang, herum. Leise vor sich hin summend drehte sie sich anmutig im Takt, und einen Moment lang wirkte ihr fein gezeichnetes Gesicht völlig verzückt.

Erinnerungen überfluteten sie.

Erinnerungen an einen Mann, der sie geliebt und verehrt hatte, ein hinreißender Liebhaber und Ehemann, ein Mann, mit dem sie immer noch verheiratet war, der aber nicht mehr derselbe zu sein schien. Er hatte sich verändert, obwohl die Veränderung nur minimal war und schwer zu fassen.

Er stritt ab, dass er sich ihr gegenüber anders verhielt, und erklärte, das bilde sie sich nur ein, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Er war kühler ihr gegenüber, so als ob er sie nicht mehr so liebte wie am Anfang.

Er wirkte jetzt oft zerstreut und manchmal sogar achtlos, wenn er vergaß, ihr Bescheid zu sagen, dass er länger arbeiten oder an einem Geschäftsessen teilnehmen musste. Oft rief er erst in der letzten Minute an, ohne sich darum zu kümmern, ob sie für den Abend etwas vorgehabt hatte. Obwohl sie innerlich vor Wut kochte, sagte sie nie etwas, sondern war immer geduldig, verständnisvoll und liebevoll.

Kay hätte es nie für möglich gehalten, dass ein Mann wie Ian Andrews sie heiraten würde. Aber er hatte es getan. Die ersten zweieinhalb Jahre ihrer Ehe waren idyllisch gewesen. Sie war sich vorgekommen wie im Märchen.

Diese Erinnerungen hielten sie gefangen, während sie durch das Zimmer wirbelte. Er war so lebendig in ihrem Kopf und ihrem Herzen, als tanzte sie mit ihm. Sie dachte daran, wie jungenhaft er war, wie sehr er das Leben liebte, wie galant und charmant er war. Schon einen Monat nach ihrer ersten Begegnung hatte er sie gefragt, ob sie ihn heiraten wolle, und sie war so hingerissen und überwältigt von ihm, dass sie keine Einwände hatte. Sie war genauso wahnsinnig in ihn verliebt wie er in sie. Außerdem war es ihr nur recht, dass sie so schnell heirateten – sie hatte so viel zu verbergen.

Ein diskretes Hüsteln unterbrach sie und holte sie aus ihrer Träumerei. Verlegen blickte sie zur Tür und schenkte Hazel, der Köchin, ein nervöses Lächeln.

»Es tut mir Leid, dass ich hier so hereinplatze, Lady Andrews, aber ich habe mich gefragt, ob heute Abend ...« Die Köchin zögerte, fuhr aber dann beherzt fort: »Ist Seine Lordschaft heute Abend zu Hause?«

»Ja, Hazel«, antwortete Kay mit fester Stimme. »Danke, Hazel. Oh, und übrigens, haben Sie meinen Menüvorschlag für heute Abend gesehen?«

»Ja, Lady Andrews.« Die Köchin neigte den Kopf und verschwand.

Ob er wohl wirklich hier sein wird?, fragte sich Kay, trat ans Fenster und blickte über die weiten Rasenflächen und die Bäume bis zu den Hügeln am Horizont. Nach dem Frühstück hatte er verkündet, er führe nach Edinburgh, um ein Geburtstagsgeschenk für seine Zwillingsschwester Fiona zu kaufen; sie hatten morgen Geburtstag und wollten miteinander zu Mittag essen. Allerdings fragte Kay sich die ganze Zeit, warum er sie nicht gebeten hatte, etwas für Fiona zu kaufen, da sie doch drei Tage in der Woche in ihr Studio in der Stadt fuhr. Andererseits standen er und Fiona sich ungewöhnlich nahe, und vielleicht hatte er ja auch das Bedürfnis, selber etwas für sie auszusuchen.

Kay wandte sich von dem großen Fenster ab und trat über die Terrakottafliesen auf den riesigen steinernen Kamin zu. Sie stellte sich mit dem Rücken ans Feuer und betrachtete wieder einmal gedankenverloren das Zimmer. Es war ein seltsamer Raum, aber trotzdem war er sehr eindrucksvoll. Oder vielleicht gerade deswegen.

Es war ein Wintergarten, den Ians Ururgroßmutter in viktorianischer Zeit an das Haupthaus von Lochcraigie hatte anbauen lassen. Wegen seiner zahlreichen Fenster war er hell und luftig, wirkte jedoch auch gemütlich durch den großen Steinkamin, der für einen Wintergarten zwar ungewöhnlich, wegen der Härte der schottischen Winter aber nötig war. Auch im Sommer war der Raum durch die hohen Fenster und den kühlen Steinboden angenehm. Pflanzenkübel und dunkelbraun gestrichene Korbmöbel gaben ihm seine Gartenatmosphäre und ein paar ausgewählte Antiquitäten verliehen ihm Charme und Beständigkeit. Der venezianische Kronleuchter, der von der Balkendecke hing, gab dem Ganzen eine raffinierte Note.

Kay biss sich auf die Lippe. Sie machte sich schon seit geraumer Zeit Sorgen um ihre Beziehung zu Ian. Sie wusste, warum er sich von ihr abgewandt hatte – es lag daran, dass sie bis jetzt noch nicht schwanger geworden war. Er wollte unbedingt ein Kind, einen Erben für seinen Besitz, auf dem seine Familie schon so viele Jahre lebte. Aber bis jetzt hatte sie ihm noch keinen Sohn schenken können.

Meine Schuld, flüsterte sie, als sie an die Zeit in Glasgow und an das, was ihr als Teenager passiert war, dachte. Ein Schauer durchrann ihre schlanke Gestalt, und sie drehte sich zum Feuer, um sich die kalten Hände zu wärmen.

Traurig ließ sie sich auf dem lederbezogenen Hocker nieder und starrte in die Flammen. Sie war unbestreitbar schön, mit ihrem Elfenbeinteint, den blauen Augen und den rotblonden Haaren, die im Feuerschein golden schimmerten. Sie war eine echte Keltin. Kay Lenox Andrews jedoch dachte nicht an ihre Schönheit und auch nicht an ihre große Begabung, mit der sie es schon in jungen Jahren zu etwas gebracht hatte. Sie dachte nur an ihre hässliche Vergangenheit.

Sie war in den Gorbals, den Slums von Glasgow, aufgewachsen. Manchmal fragte sich Kay, ob sie wohl anders geworden wäre, wenn sie nicht in einer so schwierigen und rauen Umgebung groß geworden wäre. Aber das konnte niemand sagen.

Natürlich vertraten manche Menschen die Ansicht, dass die Umgebung den Charakter prägte. Sie selbst glaubte eher, dass man vollkommen intakt zur Welt kam und nur das Schicksal den Weg bestimmte, den man letztendlich einschlug.

Ihr Weg führte zum Erfolg; zumindest hatte sie sich das immer wieder gesagt, als sie sich daranmachte, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Und ihre positive Einstellung und ihre Entschlossenheit hatten regelrechte Wunder bewirkt.

Als Teenager war sie von dem Wunsch getrieben, die Gorbals zu verlassen. Glücklicherweise verspürte auch ihre Mutter, Alice Smith, dieses Bedürfnis, und sie hatte sie dabei unterstützt, weiterzukommen und in die Welt hinaus zu gehen. »In eine viel bessere Welt als hier, Kay«, hatte ihre Mutter ihr oft gesagt und immer hinzugefügt: »Ich möchte, dass du ein besseres Leben hast als ich. Du siehst gut aus, hast Verstand und bist wirklich begabt. Dich kann nichts aufhalten ... Ich hoffe so sehr, dass du Erfolg hast, mein Mädchen.«

Ihre Mutter hatte Pläne gemacht, geknausert und gespart, und einmal hatte sie sogar zu Erpressung gegriffen, um Kay zu schützen. Alice hatte unglaubliche Ambitionen für ihre Tochter. Nichts und niemand konnte sie aufhalten, und schließlich hatten sich alle Opfer ausgezahlt. Ihre geliebte Tochter wurde mit einer neuen Identität ausgestattet ... eine junge Frau aus guter Familie, die zudem noch schön und so außergewöhnlich talentiert war, dass sie eine gefragte Modeschöpferin wurde.

Ohne Mam wäre ich nie das geworden, was ich heute bin, dachte Kay.

Kay trat aus dem Wintergarten und ging in die Empfangshalle. Es war ein riesiger offener Raum mit einer hohen Gewölbedecke und einer doppelten Treppe mit geschnitzten Balustraden, die bis zur oberen Halle liefen. Das beherrschende Element war ein Buntglasfenster, das die Halle in vielfarbiges Licht tauchte, beinahe wie ein ewiger Regenbogen.

Sie lief die linke Treppe hinauf, die in den zweiten Stock in ihr Atelier führte. Es befand sich in den Räumen, die ursprünglich als Kinderzimmer gedacht waren.

Kay war froh über das Feuer im Kamin, das Maude, die Haushälterin, entfacht hatte, als sie an diesem bitterkalten Februarmorgen ihr Atelier betrat. Es war ein weitläufiger Raum mit hoher Decke und sechs großen Fenstern, durchflutet von dem kühlen Nordlicht, das sie liebte und das für ihre Arbeit perfekt war. In diesem kristallinen Licht waren die Farben durch und durch echt, was ihr beim Entwerfen sehr zuhilfe kam.

Sie trat an den alten jakobinischen Refektoriumstisch, der ihr als Schreibtisch diente, und griff zum Hörer, als das Telefon klingelte. »Lochcraigie House«, sagte sie, wobei sie um den Tisch herum zu ihrem hochlehnigen Stuhl ging und sich hinsetzte.

»Ich bin es, Kay«, sagte ihre Assistentin.

»Hallo, Sophie. Ist irgendetwas nicht in Ordnung?«

»Nein, wieso? Ach, weil ich dich am Samstag anrufe. Nein, soweit ich weiß, ist alles in Ordnung, zumindest bei mir.«

Kay lächelte. Sophie war ein Schatz, voller Energie und Leben, und es war eine Freude, mit ihr zu arbeiten. Mit ihren dreiundzwanzig Jahren barst sie förmlich vor Talent, Enthusiasmus und Ideen. »Fein«, erwiderte Kay, wobei sie wünschte, in ihrer kleinen Welt wäre auch alles in Ordnung. »Ich bin gerade ins Atelier gekommen, als du angerufen hast, und ich schaue direkt auf den zinnoberroten Stoff, der gestern aus der Spinnerei gekommen ist – die Farbe ist toll, Sophie. Sie ist ganz anders als die Farben, die ich im vergangenen Jahr verwendet habe.«

»Ja, das finde ich auch. Das Rot leuchtet richtig, aber es ist auch ... kussig.«

»Wie meinst du das?«

»Na, kussig eben, wie Küssen.«

Kay brach in Gelächter aus.

Sophies Stimme wurde leiser und sie sagte vertraulich: »Ich rufe an, weil ich jetzt endlich etwas rausgekriegt habe.«

»Rausgekriegt?«

»Über den Mann, von dem meine Schwester gehört hat ... du weißt schon, wir haben neulich darüber geredet.«

»Oh, ja, natürlich. Entschuldige, Sophie, ich bin heute ein bisschen langsam.« Erwartungsvoll umfasste sie den Hörer fester.

»Sein Name ist François Boujon, und er lebt jetzt wieder in Frankreich.«

»Und wo da?«

»In der Nähe von Paris, in Barbizon. Ich habe die Adresse. Soll ich sie dir jetzt gleich geben?«

»Am Montag reicht. Ich werde so gegen zehn im Atelier sein, und dann können wir ja darüber reden. Weißt du, ob es schwierig ist, bei ihm einen Termin zu bekommen?«

»Ja, leider schon. Aber Gillian wird dir helfen.«

»Kann sie das überhaupt?«

»Oh ja, bestimmt ... ihre Freundin Mercedes hat die besten Beziehungen.«

»Wunderbar. Ich danke dir sehr, Sophie. Danke für deine Mühe.«

»Ich freue mich, wenn ich dir helfen konnte. Dann also bis Montag.«

»Ja. Schönes Wochenende, Sophie!«

»Danke, dir auch.«

»Ich tue mein Bestes«, erwiderte Kay und legte den Hörer auf. Sie lehnte den Kopf an den verschlissenen roten Samtbezug des Stuhles und ließ ihre Gedanken schweifen. Plötzlich jedoch fiel ihr der Brief ein, der gestern mit FedEx gekommen war, und sie griff nach der dekorativen Holzschachtel, die auf dem Schreibtisch stand. Sie holte den Umschlag mit der schön geschriebenen Adresse heraus und öffnete ihn.

Noch einmal las sie die Einladung sorgfältig durch.

Anjas Fest war am zweiten Juni, in vier Monaten. Nachdenklich überlegte sie, ob sie bis dahin wohl einen Termin bei François Boujon kriegen könnte.

Das wäre günstig, denn Ian war ohnehin nicht eingeladen, und so könnte sie allein nach Paris fahren, ohne eine Ausrede erfinden zu müssen. Ich könnte zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen, dachte sie, aber dann runzelte sie die Stirn. Ihre lebhaften blauen Augen umwölkten sich, und ihr Gesichtsausdruck wurde auf einmal grimmig.

Sie würden auch da sein, und sie würden sich unvermeidlich begegnen. Und nicht nur flüchtig, das war sicher. Nein, dazu hatte sie überhaupt keine Lust.

Alexandra Gordon, der Snob aus New York. Sie hatte immer die Nase so hoch getragen.

Jessica Pierce, die Schönheitskönigin aus den Südstaaten, mit ihrem weiblichen Aussehen. Jessica hatte immer gnadenlos gegen sie gestichelt.

Maria Franconi, auch ein Snob, mit ihren rabenschwarzen Haaren, ihren blitzenden schwarzen Augen und ihrem südländischen Temperament. Sie stammte aus einer unendlich reichen Mailänder Textildynastie und hatte sie immer wie ein Dienstmädchen behandelt.

Nein, es geht nicht, sagte Kay sich noch einmal. Ich kann nicht auf Anjas Fest fahren. Dort sind auch diese drei Ziegen ... Sie haben mir das Leben damals zur Hölle gemacht.

Sie wusste, was sie tun musste. Sie würde so schnell wie möglich nach Paris fahren, um zu diesem François Boujon zu gehen. Hoffentlich bekam sie möglichst rasch einen Termin. Gleich am Montag würde sie alle Hebel in Bewegung setzen. Und es war ganz egal, wie viel diese Reise kostete.

Sie steckte die Einladung wieder in den Umschlag, legte ihn zurück in die Holzschachtel und schloss sie ab. Dann lehnte sie sich wieder in ihrem Stuhl zurück, und ihre Augen wurden weich und verträumt, als sie an Ian dachte. Der Mann, den sie liebte. Ihr Ehemann ..., der um jeden Preis auch ihr Ehemann bleiben musste.