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Schon als Kind in den Slums von Glasgow hatte Kay die Gabe besessen, der Realität zu entfliehen, indem sie sich in sich selbst zurückzog. Wenn die vollgestopfte kleine Wohnung, in der sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Sandy lebte, sie erdrückte, fand sie so immer einen Winkel, in dem sie träumen und die Armut und Hässlichkeit um sich herum vergessen konnte.

Sie träumte immer von Schönheit ... von Gärten voller Blumen, malerischen Landhäusern mit Strohdächern, grünen Wiesen und großen Parks mit uralten Bäumen. Manchmal träumte sie auch von schönen Kleidern, Bändern für ihre Haare oder festen schwarzen Schnürstiefeln für Sandy und einem wunderschönen Seidenkleid für ihre Mutter ... ein blassblaues Kleid, das zu ihren Augen passte.

Als Kay älter wurde, wurden ihre Träume zielgerichteter und konzentrierter, und diese Fähigkeit, zusammen mit ihrem Talent, verhalf ihr zu ihrem Erfolg in der Welt der Mode.

Auch jetzt, als sie an ihrem Schreibtisch saß, verdrängte sie entschlossen die sorgenvollen Gedanken über Ian und vertiefte sich in ihre Arbeit.

Nachdem sie ein paar Skizzen für ihre Herbstkollektion durchgesehen hatte, stand sie auf und trat zu den Stoffproben, die an Messinghaken an der Wand hingen. Ihr Blick fiel wieder auf den roten Wollstoff. Sie nahm ihn herunter und trat mit ihm ans Fenster, wo sie ihn prüfend musterte.

Sie musste lächeln, als ihr einfiel, was Sophie dazu gesagt hatte. Kussig hatte sie ihn genannt, und Kay wusste ganz genau, was ihre Assistentin damit meinte. Die Farbe erinnerte an den Lippenstiftton großer Hollywoodstars aus den fünfziger Jahren.

Wie es Kay bei der Arbeit oft passierte, hatte sie auf einmal eine Eingebung. Vor ihrem geistigen Auge sah sie zahlreiche Outfits ... jedes in dem edlen Wollstoff, jedoch in unterschiedlichen Rottönen. Sie dachte zuerst an Zyklamfarben, dann an die tieferen Pinktöne von Pfingstrosen, das blasse Pink von Wicken, ein helles Geranienrot und andere rote Farbschattierungen, verstärkt durch einen Anflug von Blau. Und dazwischen konnte sie sich auch alle möglichen blauen Farbtöne vorstellen, von Hellblau über Aquamarin bis hin zu Violett und dem blasseren Lavendelton von Hortensien.

Das ist es, dachte sie aufgeregt. Eine Winterkollektion, die auf diesen beiden Farben basierte – Rot und Blau, in allen Abstufungen. Was für ein Unterschied zu dem Beige, Braun, Grün, Taupe und Terrakotta ihrer Frühjahrskollektion.

Sie trat vom Fenster wieder zu den Stoffproben und suchte sie rasch nach den Farben durch, die sie verwenden wollte. Die ausgewählten Muster breitete sie auf dem Schreibtisch aus und ordnete sie dann den Skizzen zu. Nacheinander stellte sie sich einen Mantel, ein Kostüm oder ein Kleid in einer der Farben vor.

Bald war sie völlig in ihre Arbeit versunken und nahm ihre Umgebung nicht mehr wahr.

Mit neunundzwanzig Jahren war Kay Lenox eine der bekanntesten jungen Modedesignerinnen der Welt. In London verkaufte sie ihre Kleider in einem eigenen Laden auf der Bond Street und in New York bei Bergdorf Goodman. Sie hatte eine Boutique in Chicago, eine in Dallas und eine weitere am Rodeo Drive in Beverly Hills.

Ihr Name stand für Qualität, modischen Chic und Tragbarkeit. Ihre Kleider waren zwar elegant, aber dabei lässig und entspannt, sie waren sehr gut geschnitten und hervorragend verarbeitet.

Die Stoffe, die Kay bevorzugte, machten ihre Kleider zu Luxusgegenständen ... feinste, leichte Wollstoffe, Kaschmir, Wollcrêpe, weiche schottische Tweedstoffe, Wildleder, Leder, Samt und eine schwere Seide, die sie in Frankreich einkaufte.

Den ganzen Morgen über arbeitete Kay so konzentriert, dass sie zusammenzuckte, als das Telefon klingelte.

»Lochcraigie«, sagte sie scharf.

»Hallo, Liebling«, erwiderte ihr Mann. »Du klingst aber grimmig.«

»Ian!«, rief sie aus, und ihr Gesicht hellte sich auf. »Entschuldige, ich war völlig in ein Kleid versunken, bildlich gesprochen.«

Er lachte. »Dann geht die Arbeit also gut voran?«

»Könnte man sagen. Ich hatte heute früh eine Idee, und jetzt mache ich die ganze Winterkollektion in allen Rotschattierungen bis hin zu Blassrosa, und in Blautönen von Zartlila über Veilchenblau bis hin zu tiefem Violett.«

»Ich finde, das hört sich gut an.«

»Hast du ein Geschenk für Fiona gefunden?«

Er zögerte kurz, bevor er antwortete: »Ja, ja, ich habe etwas gefunden.«

»Dann kommst du also jetzt nach Hause?«

»Eigentlich nicht.« Er räusperte sich. »Äh, äh, ich habe ziemlichen Hunger, deshalb gehe ich jetzt eine Kleinigkeit essen. Ich komme so gegen vier.«

Die Freude auf ihrem Gesicht erlosch, aber sie sagte nur: »Ja, gut. Ich bin hier.«

»Wir können ja dann zusammen Tee trinken«, murmelte er. »Tschüs, Liebling.«

Er legte auf, bevor sie noch etwas erwidern konnte. Sie blickte verwirrt auf den Hörer in ihrer Hand, wandte sich dann jedoch entschlossen wieder ihrer Arbeit zu.

Als sie später an diesem Nachmittag ein Sandwich mit Lachs gegessen und eine Tasse Zitronentee getrunken hatte, zog sich Kay einen cremefarbenen Fischerpullover von den Orkneys über, dicke Wollsocken und ihre grünen Gummistiefel. Aus der Garderobe an der Hintertür nahm sie ihren dunkelgrünen Mantel aus gesteppter Seide, schob ihre rotblonden Haare unter eine rote Wollmütze, fügte den passenden Schal und Handschuhe hinzu und ging nach draußen.

Eiskalte Luft schlug ihr entgegen und raubte ihr fast den Atem, aber sie machte sich entschlossen auf den Weg zum Loch, weil sie frische Luft und etwas Bewegung brauchte.

Das war ihr Lieblingsweg auf dem Besitz, der insgesamt über dreitausend Hektar umfasste. Ein breiter Weg führte durch den Blumengarten, an großen Rasenflächen und Büschen vorbei. In der Nähe schimmerte das klare Wasser des Sees.

Kay blieb stehen und blickte zu den fernen Hügeln. Die Umrisse der schneebedeckten Gipfel waren im Nachmittagsdunst nur undeutlich zu erkennen. Dann drehte sie sich um und warf einen Blick auf das prächtige Steinhaus, in dem sie lebte. Es war 1559 von William Andrews, der damals neuer Laird von Lochcraigie war, erbaut worden. Seitdem hatte jeweils der älteste Sohn den Besitz geerbt, und glücklicherweise hatte es immer einen männlichen Erben gegeben. Die Linie war seit Jahrhunderten ungebrochen.

Jetzt war Ian der Laird, obwohl niemand mehr den alten schottischen Titel gebrauchte, außer ein paar alten Leuten aus dem Dorf.

Abgesehen von den riesigen Ländereien gehörten den Andrews zahlreiche Unternehmen, vor allem in der Textil- und Verlagsbranche. Ian war mehrfacher Millionär, aber er führte am liebsten ein zurückgezogenes Leben auf dem Land.

Energisch schritt Kay aus. Nachdenklich verzog sie das Gesicht, als sie an ihre eigene Vergangenheit dachte. Unwillkürlich fragte sie sich, was Ian wohl sagen würde, wenn er wüsste, in was für ärmlichen Verhältnissen sie aufgewachsen war. Er würde entsetzt, schockiert und vielleicht sogar ungläubig reagieren ...

Sie holte tief Luft. Wirklich schwer war die Zeit gewesen, als sie ein Teenager war, trotzdem hatte sie immer gewusst, dass sie eines Tages ein anderes Leben führen würde.

Und jetzt war es so weit. Sie hatte alles, was sie jemals ersehnt und erträumt hatte ... einen Ehemann, der nicht nur jung war und gut aussah, sondern zudem auch noch ein Aristokrat war. Sie lebte in einem wunderbaren alten Haus mit einer langen Geschichte, und sie hatte eine große Karriere als Modedesignerin vor sich, Ruhm, Erfolg ...

Aber kein Kind.

Keinen Erben für Ian.

Keinen Sohn, der eines Tages der Laird auf diesem riesigen Besitz sein würde, eines Tages in ferner Zukunft, wenn Ian tot war und man den neuen Herrn auf Lochcraigie proklamieren würde.

Sie seufzte leise. Es war eine alte Geschichte. Entschlossen beschleunigte sie ihre Schritte, sodass sie fast rannte. Der See lag bleigrau und still unter dem Winterhimmel. Es war noch kälter geworden, und in der Luft lag ein Anflug von Schnee. Trotzdem ging sie eine Viertelstunde am Ufer entlang, weil ihr die friedliche Stimmung so gut tat.

Auf dem Rückweg schlug sie den Pfad ein, der an Dower House vorbeiführte, wo Ians Mutter wohnte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihre Schwiegermutter besuchen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder. Gleich war es vier Uhr, und dann würde Ian nach Hause kommen. Sie sehnte sich nach ihm, sehnte sich danach, dass er ihre Sorgen zerstreute. Für heute Abend hatte sie große Pläne, und sie wollte ihn schon einmal darauf einstimmen.

Sie lief an Dower House vorbei und stieg die steilen Stufen hinauf. Dabei dachte sie an Ians Mutter. Sie war eine reizende Frau, mit untadeligen Manieren, äußerst nett und liebevoll. Sie hatte ihre Schwiegertochter von Anfang an gemocht und akzeptiert, und dafür war Kay ihr dankbar.

Margaret Andrews war eine geborene Hepburn, und ihre Familie war weitläufig verwandt mit dem armen James Hepburn, Earl of Bothwell, dem dritten Ehemann von Maria Stuart, der im Kerker eines abgelegenen Schlosses in Dänemark einen schrecklichen Tod gestorben war. Kay hasste die Geschichte von Bothwells Tod. Sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass dieser kräftige, gut aussehende Mann auf so grauenvolle Weise hatte sterben müssen. Und doch musste sie immerzu daran denken ... aber jetzt schalt sie sich selbst für ihre morbiden Gedanken. Rasch lief sie über den Rasen zur Terrasse am Wintergarten und schlüpfte ins Haus.

Kay wusste sofort, dass Ian gute Laune hatte, als er kurz nach vier in den Wintergarten trat. Lächelnd umarmte und küsste er sie. »Du siehst fröhlich aus«, sagte er zu ihr und stellte sich mit dem Rücken ans Feuer, um sich zu wärmen.

Sie erwiderte sein Lächeln. »Danke. Hazel hat gerade den Tee gebracht, Ian. Soll ich dir eine Tasse einschenken?«

Er nickte. »Das war eine lange Fahrt. Ich dachte immer, es fängt gleich an zu schneien, aber bis jetzt ist ja noch alles ruhig gewesen.«

»Schau mal raus«, erwiderte Kay und blickte zur Terrassentür. »Es hat gerade angefangen.«

Er folgte ihrem Blick, und als er die dicken Schneeflocken sah, lachte er nur und meinte: »Sieht so aus, als würden wir einschneien, Kay.«

»Mir ist das egal. Und dir?«

»Ebenfalls. Komm, lass uns Tee trinken.«

Sie setzen sich in die Korbsessel vor dem Kamin, und Kay schenkte ihnen beiden Tee ein, wobei sie ihm einen verstohlenen Blick zuwarf.

Ian wirkte heute Nachmittag so fröhlich wie schon lange nicht mehr, besser gelaunt und sorgloser als sonst. Er sah auch ungewöhnlich jungenhaft aus, aber vielleicht lag das ja nur daran, dass seine blonden Haare vom Wind zerzaust waren und er den Hemdkragen unter seinem hellblauen Pullover mit V-Ausschnitt offen trug. Wie ein Schuljunge, dachte sie und lächelte in sich hinein, als sie an ihre Pläne dachte.

Ian sagte: »Genau genommen hoffe ich natürlich, dass der Schnee nicht liegen bleibt. Es wäre grauenhaft, wenn wir das Mittagessen morgen absagen müssten.«

Kay nickte zustimmend. »Wir sollten uns keine Sorgen machen; im Wetterbericht haben sie für morgen Sonne vorausgesagt. Es soll auch wieder wärmer werden.«

Lächelnd musterte Ian die Platten mit Sandwiches und Kuchen.

»Was hast du denn eigentlich für Fiona gekauft?«

»Wie meinst du das?«

Kay warf ihm einen fragenden Blick zu. »Das Geschenk zu ihrem Geburtstag! Was ist es denn?«

»Ach ja ... Ohrringe. Sehr hübsch – ich zeige sie dir später.«

Friedlich schweigend tranken sie ihren Tee und hingen scheinbar ihren Gedanken nach.

Aber Kay verspürte eine gewisse innere Anspannung, obwohl Ian so gelöst wirkte und sich in ihrer Gesellschaft wohl fühlte.

Er war heute wieder so wie früher, und das war ein gutes Zeichen. Sie hatte vor, ihn zu verführen und eine Liebesnacht zu inszenieren. Es war wichtig, dass er in der richtigen Stimmung war. Und mit ein bisschen Glück würde sie schwanger werden. Sie musste es einfach. Es hing so viel davon ab.

Ian dachte an seine Fahrt nach Edinburgh. Es war in mehrerer Hinsicht ein interessanter Ausflug gewesen, und er war froh, dass er die Mühe nicht gescheut hatte. Hoffentlich gefiel Fiona sein Geschenk; er hatte es sorgfältig ausgesucht. Als er seine Frau anblickte, dachte er unwillkürlich, wie schön sie doch war und wie begehrenswert ...

Kay durchbrach als Erste das Schweigen. »Der Brief, der gestern mit FedEx gekommen ist, war eine Einladung ... zu Anja Sedgwicks fünfundachtzigstem Geburtstag. Sie feiert ein Fest in Paris.«

»Ich muss doch nicht mitkommen, oder?«, fragte er stirnrunzelnd. »Du weißt, dass ich Reisen hasse.«

»Nein, natürlich nicht«, erwiderte sie rasch. Sie sagte ihm gar nicht erst, dass nur ihr Name auf der Einladung stand, sondern fügte gleich hinzu: »Ich fahre auch nicht.«

Verwirrt und überrascht blickte Ian sie an. »Warum denn nicht?«

»Ich habe keine Lust, die Leute wiederzusehen, die ich sieben Jahre lang nicht gesehen habe ... Nach dem Abschluss habe ich den Kontakt zu meinen Freundinnen verloren.«

»Aber du hast doch Anja immer bewundert.«

»Das stimmt. Sie ist wirklich die faszinierendste Frau, der ich je begegnet bin – sie ist ein Genie.«

»Also?« Fragend zog er eine Augenbraue hoch.

»Ach, ich weiß nicht ...«

»Ich finde, du solltest zu ihrem Fest fahren, Kay, allein schon ihretwegen.«

»Na ja, vielleicht hast du Recht. Ich denke darüber nach.«