Jessica
Jessica Pierce war wütend.
Sie stand im eleganten Salon ihres Hauses in Bel Air und blickte empört auf ihren Freund Gary Stennis. Offenbar sturzbetrunken, war er halb von dem cremefarbenen Samtsofa gerutscht.
Mit kühlen grauen Augen blickte sie sich um.
Alles wirkte ordentlich in dem geschmackvoll eingerichteten Raum, abgesehen von der Unordnung, die Gary auf dem antiken chinesischen Couchtisch vor dem Kamin angerichtet hatte. Das Möbel, ein Einzelstück, hatte sie ein Vermögen gekostet. Auf der Platte des Ebenholztischchens mit ihren wunderschönen Intarsien aus Perlmutt türmten sich mehrere Highball-Gläser, einer ihrer besten Weinkelche aus Baccaratkristall, eine halb volle Flasche Roederer Kristall und eine leere Flasche ihres Château Simard 1988. Einer meiner besseren Rotweine, dachte sie. Ihr Blick fiel auf eine Kristallschale, und wütend stellte sie fest, dass das kostbare Stück von Lalique sorglos als Aschenbecher benutzt worden war.
Leise seufzend hob Jessica die Schale an die Nase und schnüffelte daran, aber der unverwechselbare Geruch nach Cannabis war nicht zu erkennen. Offenbar hatte er dieses Mal wenigstens kein Pot mit seinen Freunden und Kollegen geraucht. Erleichtert stellte sie die Schale wieder hin.
Aber dann beugte sie sich stirnrunzelnd vor und betrachtete aufmerksam das Weinglas. Am Rand waren Lippenstiftspuren zu erkennen.
Die Seiten seines neuen Drehbuches lagen auf dem Fußboden verstreut, ebenso wie ein gelbes Blatt, auf dem er sich handschriftlich Notizen gemacht hatte.
Leidenschaftslos musterte sie Gary. Seine Haare waren zerzaust, sein Gesicht war blass, und er hatte tiefe Schatten unter den Augen. Sein Mund stand halb offen, und er sah alt und erschöpft aus.
Ausgelaugt, dachte sie traurig.
Aber eigentlich war er das doch noch nicht.
Gary war ein brillanter Drehbuchautor, einer der besten, wenn nicht sogar der beste in der Branche, und er hatte bereits einige Oscars eingeheimst.
Er hatte Drehbücher für viele große Filme geschrieben und im Laufe seiner Karriere ein Vermögen angehäuft und wieder verloren; er war mit zwei berühmten Schauspielerinnen verheiratet gewesen. Er hatte eine Tochter, die kein Wort mehr mit ihm redete.
Und jetzt, mit einundfünfzig, machte er ihr den Hof und wollte, dass sie ihn heiratete.
Wenn er nüchtern war.
Er war jedoch in letzter Zeit häufig betrunken. Und sie wusste tief im Innern, dass sie ihn wegen seiner Sucht, die er jedoch nicht als Krankheit anerkennen wollte, besser nicht heiraten sollte. Langfristig würde sie nicht mit einem Alkoholiker leben können, und als solcher würde er enden, wenn er nicht schon einer war.
Jessica bat ihn oft, zu den Anonymen Alkoholikern zu gehen, aber er lachte sie nur aus und versicherte ihr, er habe das nicht nötig. Aber sie war da ganz anderer Ansicht. Im Grunde wusste sie ganz genau, dass sie sich von ihm trennen würde.
Jessica hatte ihn schon zwei Mal herausgeworfen, aber es war ihm immer wieder gelungen, sich bei ihr einzuschmeicheln. Er war der personifizierte Charme und ein Meister der Worte. Schließlich hatte er mit seinen Worten ja auch Millionen verdient.
»Vergiss nicht, er weiß ganz genau, was er sagen muss, um bei dir den Nerv zu treffen«, sagte ihre Freundin Merle immer. Und sie erwiderte jedes Mal: »Vergiss du bloß nicht, dass Jeremy Schauspieler ist. Er weiß, welche Rolle er spielen muss, um bei dir den richtigen Nerv zu treffen.«
Dann mussten sie beide lachen. Sie kannten ihre Männer. Und es sind die falschen für uns, dachte Jessica. Rasch drehte sie sich auf ihren hohen Absätzen um, ging aus dem Salon und schloss leise die Tür hinter sich.
Sie war wütend auf Gary, und das Beste war wohl, ihn ausschlafen zu lassen.
Jessica war fünf Tage lang in Santa Barbara gewesen, um Einbauarbeiten im Haus eines Kunden zu beaufsichtigen, und Gary hatte ihr für ihre Rückkehr ein intimes Abendessen versprochen ... ganz gleich, um welche Uhrzeit sie zurückkam. Er wollte selber kochen. Wenn er wollte, kochte er großartig, und wenn er nüchtern war, war er auch ein fantastischer Liebhaber.
Ja, sie liebte ihn, auf ihre Art, aber manchmal trieb er sie zur Weißglut. So wie heute.
In der kreisförmigen Eingangshalle mit dem glänzenden schwarzen Granitboden und der elegant geschwungenen Treppe ergriff sie ihren Kleidersack und ihre Koffer und ging damit nach oben.
Während sie im Ankleidezimmer neben dem Schlafzimmer auspackte, sah sie ihr Spiegelbild in einem der vier Spiegel, und nachdem sie alles weggehängt und verstaut hatte, betrachtete sie sich eingehend.
Sie warf ihre langen blonden Haare zurück und zog ihre Jacke gerade. Sie sah eine große, junge Frau von einunddreißig, ganz hübsch, recht elegant in einem weißen Gabardine-Hosenanzug und hochhackigen Pumps, mit einer Perlenkette um den Hals und Perlenohrringen. »Aber die Frau sieht heute Abend ein bisschen müde aus«, murmelte sie und ging wieder nach unten.
Jessicas braune Lederhandtasche lag auf einer Louis-XIV.-Bank in der Halle. Sie ergriff sie und eilte über den Flur in ihr Büro. Dort schaltete sie das Licht ein und trat an ihren Schreibtisch, ein französisches bureau plat aus dem achtzehnten Jahrhundert.
Das Erste, was sie sah, war ein FedEx-Umschlag, der an der gelben Porzellanlampe lehnte.
Jessica starrte die Einladung gedankenverloren an. Ihre Gedanken richteten sich auf die Vergangenheit, und ein ganzes Jahrzehnt fiel von ihr ab.
Sie war jung, erst einundzwanzig, als sie an der Anja Sedgwick School of Decorative Arts, Design and Couture in der Rue de l’Université in Paris ihr Studium der Innenarchitektur aufnahm.
Vor ihrem geistigen Auge sah sie sich so, wie sie damals gewesen war ... groß, sehr dünn, mit glatten blonden Haaren, die ihr bis auf die Schulterblätter fielen, und einer makellosen Haut. Ein Mädchen aus einer texanischen Kleinstadt, das zum ersten Mal in Europa war.
Paris hatte sie bezaubert, die Schule, Anja natürlich und auch die kleine Familienpension am linken Seineufer, wo sie wohnte. Alles war neu, anders und aufregend. Noch nie war sie so weit von San Antonio und ihren Eltern weg gewesen. Sie fehlten ihr, aber sie genoss auch die neuen Erfahrungen.
Dort in Paris lernte sie Lucien Girard kennen und verliebte sich zum ersten Mal in ihrem Leben. Am Ende des ersten Studienjahres stellte Larry Sedgwick, Anjas Neffe, ihr Lucien vor. Sie war zweiundzwanzig, und er war vier Jahre älter als sie. Von Beruf war er Schauspieler. Jetzt musste sie lächeln, wenn sie daran dachte, wie sie Merle immer damit aufzog, weil sie mit einem Schauspieler zusammenlebte.
Lucien und sie hatten perfekt zueinander gepasst, sie verstanden sich blendend. Sie mochten die gleichen Filme, Bücher, Musik und Kunst und kamen so gut miteinander aus, dass es fast unheimlich war. Sie hatten auch die gleichen Ansichten über das Leben und verfolgten ähnliche Ziele, sodass sie sich immer wieder gegenseitig ermunterten.
Jessica hatte geglaubt, Paris gut zu kennen – bis sie Lucien traf, der ihr schnell bewies, dass sie keine Ahnung von der Stadt hatte. Er ging mit ihr zu wundervollen abgelegenen Plätzen, in charmante Bistros, einzigartige kleine Boutiquen, Kunstgalerien und Läden, und in friedliche geheime Winkel. Er zeigte ihr interessante Kirchen, wenig bekannte Museen und fuhr mit ihr in die Bretagne, in die Provence und an die Côte d’Azur.
Sie hatten eine glückliche Zeit miteinander verlebt, ruhige, sonnendurchglühte Tage und Nächte voller Leidenschaft.
Er hatte ihr so viel beigebracht ... Sex und Liebe ... die besten Weine und das beste Essen ... mit ihm hatte sie Muscheln in einer würzigen Brühe gegessen, Omelettes, die so leicht wie Luft waren, weichen, aromatischen Käse vom Land und winzige fraises du bois, duftende Walderdbeeren in Sahne.
Die Zeit mit ihm war das reine Entzücken gewesen.
Er hatte sie seine langbeinige amerikanische Schönheit genannt, sie genauso sehr geliebt wie sie ihn, und sie waren glücklich gewesen. Sie hatten so viele Pläne gehabt ...
Eines Tages jedoch war er fort.
Lucien verschwand.
Voller Angst hatte sie ihn überall gesucht, zusammen mit seinem besten Freund Alain Bonnal. Seine Wohnung war unberührt, er hatte nichts mitgenommen. Auch sein Agent hatte keine Ahnung, wo er war, und machte sich Sorgen. Lucien war Waise; sie kannten keine Familienmitglieder, zu denen er hätte gehen können, und sie wussten nicht, an wen sie sich wenden sollten. Zusammen mit Alain forschte Jessica in Krankenhäusern, im Leichenschauhaus nach, sie meldete ihn als vermisst. Aber die Suche war ergebnislos. Er blieb verschwunden, und sie wusste nicht, ob er tot war oder noch lebte.
Lucien Girard war im Frühjahr 1994 vom Erdboden verschwunden, als ob er nie existiert hätte. Aber sie wusste nur zu gut, dass das nicht stimmte ...
Jessica sprang auf, trat an den großen französischen Schrank, in dem sie Stoffmuster aufbewahrte, öffnete die unterste Schublade und holte ein in rotes Leder gebundenes Fotoalbum heraus. Sie setzte sich damit wieder an den Schreibtisch und begann, die Seiten durchzublättern. Es enthielt die Bilder von ihrer dreijährigen Studienzeit in Paris.
Da, dachte sie, Lucien und ich, am Seineufer, in der Nähe der Pont des Arts, der einzigen Metallbrücke von Paris. Aufmerksam musterte sie das Bild, weil ihr auf einmal auffiel, wie ähnlich sie sich gewesen waren. Auch Lucien war groß und schlank gewesen, mit blonden Haaren und blaugrauen Augen. Die Liebe meines Lebens, dachte sie und blätterte rasch weiter.
Da war ein Bild von ihr, Alexa, Kay, Maria und Anja im Garten von Anjas Haus. Und hier war ein Foto von Nicky und Larry, die mit Alexa herumalberten, während Maria Franconi traurig zuschaute.
Danach war Lucien verschwunden, dachte Jessica, und nichts war mehr in Ordnung gewesen. »Les girls«, wie Nicky Sedgwick das Quartett nannte, hatten sich zerstritten. Und alles war so ... so ... albern und pubertär gewesen.
Jessica klappte das Album zu. Wenn sie zu Anjas Geburtstagsfeier fuhr, würde sie unweigerlich ihren früheren Freundinnen begegnen. Im Geiste zuckte sie mit den Schultern ... sie wusste eigentlich nicht, was sie noch für sie empfand. Sieben Jahre. Es war jetzt sieben Jahre her ... eine lange Zeit, da war viel Wasser den Fluss heruntergeflossen.
Ob sie es wohl aushielte, wieder in Paris zu sein? Sie wusste es nicht. Paris war Lucien.
Und Lucien gab es nicht mehr.
Er war nie wieder aufgetaucht. Ab und zu hörte sie noch von Alain Bonnal. Ihn verwirrte die Angelegenheit genauso wie sie. Sie hatten sich alle möglichen Szenarien ausgedacht – in Wirklichkeit hatte sie jedoch nicht die geringste Ahnung, was mit ihm geschehen war.
Nimm die Einladung an. Fahr nach Paris, was soll’s, sagte sie sich. Sekunden später änderte sie ihre Meinung. Nein, tu’s nicht. Du reißt nur alte Wunden auf.
Jessica schloss die Augen und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück ... Sie hatte goldene Erinnerungen an Paris und Lucien ... voller Glück und Freude, die sie seitdem nie wieder erfahren hatte.
Es war besser, diese Erinnerungen zu bewahren.
Sie würde wohl absagen müssen.
Von der Türschwelle aus sagte Gary: »Hast du also doch noch den Weg nach Hause gefunden.«
Erschreckt drehte Jessica sich um und blickte ihn an. Er lehnte mit streitlustigem Gesichtsausdruck am Türrahmen.
Wenn er betrunken ist, wird er immer wütend, dachte sie. Laut jedoch sagte sie: »Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«
Er runzelte die Stirn. »Warum bist du erst so spät gekommen?«, wollte er wissen.
»Was macht das schon für einen Unterschied? Du hast doch sowieso sturzbetrunken auf dem Sofa gelegen.«
Seufzend trat er auf sie zu und lächelte auf sie herunter. »Wir hatten was zu feiern. Harry und Phil sind ganz begeistert vom ersten Entwurf des Drehbuchs. Wir haben noch ein paar Änderungen vorgenommen, jetzt wird es ganz sicher ein Knaller. Deshalb haben wir ein bisschen ... gefeiert ...«
»Ein bisschen feiern bedeutet wohl, immer bis zum Umfallen zu trinken.«
»Nein. Du bist nur so spät nach Hause gekommen.«
»Neun Uhr ist überhaupt nicht spät.«
»Was hat dich denn eigentlich aufgehalten? Mark Sylvester vielleicht?« Finster blickte er sie an.
»Mach dich nicht lächerlich! Außerdem wiederholst du dich ständig. Mark war noch nicht einmal da. Ich bin jetzt erst nach Hause gekommen, weil auf dem Santa Barbara Freeway so viel Verkehr war. Wie geht es Gina?«
»Gina?« Gary runzelte die Stirn und setzte sich aufs Sofa.
»Du willst mir doch nicht weismachen, dass Gina heute Abend nicht hier war! Der ganze Salon riecht nach ihrem Parfüm. Und schließlich ist sie bei euren Drehbuchsitzungen immer dabei, trinkt meinen besten Wein und hinterlässt ihren Lippenstift auf meinen Weingläsern. Harry schminkt sich doch wohl nicht die Lippen, oder?«
»Spar dir deinen Sarkasmus, Jessica. Ich verstehe gar nicht, warum du so giftig zu ihr bist. Gina ist seit Jahren meine Assistentin.«
Und dein kleines Nebenher fürs Bett, wenn es dir gerade in den Kram passt, dachte sie. Laut sagte sie: »Das ist nicht mein erstes Rodeo ... ich weiß, wovon ich rede.«
Gary sprang auf. Hochrot im Gesicht erwiderte er: »Offensichtlich hast du schlechte Laune; ich habe jedenfalls keine Lust, mich von dir auspeitschen zu lassen, Missy. Ich gehe nach Hause. Meine Sachen hole ich morgen ab. Bis dann, Süße.«
Jessica antwortete nicht. Sie blickte ihn nur kühl an. Auf einmal merkte sie, wie leid sie es war, sich immer wieder in seine Spielchen verwickeln zu lassen.
Er marschierte hinaus und knallte die Tür hinter sich zu. Einen Moment später hörte sie die Haustür schlagen, und er fuhr mit quietschenden Reifen davon.
Und genau in diesem Moment erkannte Jessica Pierce, dass es ihr völlig egal war, dass er fort war.
Erneut schlug sie das Lederalbum auf und betrachtete die Fotos aus ihrer Zeit in Paris. Und noch einmal blitzte in ihr die Erkenntnis auf, wie wenig ihr Gary Stennis bedeutete. Ja, sicher, sie empfand etwas für ihn, und am Anfang ihrer Beziehung hatte sie wirklich geglaubt, sie könnten sich ein gemeinsames Leben aufbauen. Aber das war schon lange vorbei. Wenn sie ehrlich war, wusste sie, dass sie ihm den Laufpass geben sollte. Ihre Beziehung war am Ende angelangt.
Nun ja, vielleicht waren sie ja schon getrennt. Er war so wütend aus dem Haus gelaufen, dass er vielleicht nie wieder kam.
Wieder dachte sie an Lucien. Sie betrachtete das Foto, auf dem er zwischen ihr und Alexa vor Anjas Schule in der Rue de l’Université stand. Wie jung wir alle aussehen, dachte sie. Jung, unschuldig, das Leben liegt noch vor uns ... Wie wenig wir uns doch um die Zukunft gekümmert haben ... um unser Leben. Wir hielten uns für unverwundbar und unsterblich.
»Lucien«, murmelte sie und fuhr mit dem Finger über sein Gesicht. »Was ist mit dir passiert?«
Sie wusste die Antwort nicht. Sein Verschwinden war ein Rätsel. Ein Rätsel, das wohl nie gelöst werden würde.