Niemals war Jessica der Pazifik schöner erschienen.
Tiefblau und in der Sonne glitzernd erstreckte er sich in die Unendlichkeit.
Gedankenverloren blickte sie auf das Meer und fragte sich, wie ihr Leben wohl weitergehen würde.
In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte sie viel über ihre Beziehung mit Gary nachgedacht. Sie fühlte sich deprimiert. Es war klar, dass sie sich trennen würden. Jessica hoffte nur, dass es nicht zu bitter werden würde.
Es war Montagnachmittag, und sie saß in dem kleinen, alten Pavillon, den sie von einem Anwesen in England an diesen Platz am Rand von Mark Sylvesters Grundstück in Santa Monica hatte bringen lassen.
Der Felsvorsprung über dem Meer war ein friedliches Plätzchen, bestens geeignet zum Nachdenken und für Mußestunden. Mark liebte ihn, genau wie das neue Haus. Sie war sich eigentlich sicher gewesen, dass es ihm gefallen würde, war aber doch erleichtert darüber, dass er so begeistert davon war. Er würde nächste Woche einziehen, und heute hatte sie ihn zum ersten Mal durch die Räume geführt, da jetzt die gesamte Inneneinrichtung fertig war.
Mit dem Haus ist alles wunderbar gelaufen – nur mein Privatleben ist ein einziges Chaos, dachte sie. Sie hatte Gary gestern angerufen, um sich mit ihm zu versöhnen und Zugeständnisse zu machen, aber er hatte nicht abgenommen. Und auf ihre Nachricht auf dem Anrufbeantworter hatte er auch nicht reagiert.
Dann ist es eben so, dachte sie. Ich muss so oder so weitermachen, schon um mich zu schützen. Instinktiv spürte sie, dass Gary Stennis sie mit herunterziehen würde, wenn sie nicht auf sich aufpasste. Jessica runzelte die Stirn. Sie hatte in der letzten Zeit immer häufiger das Gefühl, dass Gary sich auf einem absteigenden Ast befand.
»Komisch«, murmelte sie. Dann stand sie auf und trat aus dem Pavillon.
Langsam ging sie aufs Haus zu, wobei sie die herrliche Gartenanlage bewunderte, die von einem der bekanntesten Landschaftsarchitekten der Welt, einem Engländer, entworfen worden war. Park und Haus bildeten ein harmonisches Ganzes.
Das Haus aus weißem Stein, der in der Sonne schimmerte, war im Stil des Renaissance-Architekten Palladio genau an der Stelle erbaut worden, wo früher einmal eine spanische Hacienda gestanden hatte. Mit seiner Symmetrie und der klassischen Säulenfassade mutete es wie ein griechischer Tempel an.
Jessica blieb einen Moment stehen und bewunderte die Villa. Wieder einmal dachte sie, wie sehr es den prächtigen Häusern auf den Plantagen im Süden glich. Aber das war kein Wunder; auch die Baumeister dieser Häuser hatten sich an Palladio orientiert.
Jessica hatte einen Architekten engagiert, der für seine Erfahrung beim Entwerfen von Villen im Stil Palladios bekannt war, und eng mit ihm zusammengearbeitet, um Marks Vorstellungen gerecht zu werden. Die Haupthalle war der Dreh- und Angelpunkt, um den sich alle Räume symmetrisch anordneten, wie es Palladios Grundsätzen entsprach.
Als das Haus fertig gestellt war, hatte Jessica es in ihrem unverwechselbaren Stil eingerichtet, wobei sie hauptsächlich Pastelltöne, Cremefarben und Weiß verwendete. Ihre Handschrift waren Zimmer in einem einheitlichen Farbton eingerichtet, mit den schönsten Antiquitäten und Kunstwerken, die man für Geld kaufen konnte, ausgestattet mit luxuriösen Stoffen, Teppichen und Tapeten. Da Mark ihr vollkommene Freiheit gelassen und ein unbegrenztes Budget zur Verfügung gestellt hatte, war es ihr gelungen, ein außergewöhnlich schönes, elegantes Haus zu schaffen.
Jessica öffnete die Terrassentüren, die in die Bibliothek führten, und stand auf einmal Mark gegenüber.
»Wohin sind Sie verschwunden?«, fragte er neugierig.
»Sie waren so vertieft in Ihr Telefonat, dass ich Sie lieber nicht stören wollte. Ich bin ein wenig spazieren gegangen.«
»Sie hätten ruhig dableiben können«, erwiderte er und setzte sich auf das Sofa.
Sie nahm ihm gegenüber Platz und sagte: »Ich bin froh, dass ich den Pavillon auf den Felsvorsprung gestellt habe ... Ich war eben dort, es war völlig still, und ich habe einfach nur den Blick aufs Meer genossen.«
»Es ist ein großartiges Plätzchen ...« Er brach ab und blickte sie forschend an. »Sie sehen heute Morgen so niedergeschlagen aus, Jessica. Möchten Sie darüber reden?«
»Ich weiß nicht«, murmelte sie.
»Er hat sie schon zu oft im Stich gelassen, und er ist ...« Mark brach ab und warf ihr einen bekümmerten Blick zu. »Es tut mir Leid, Jessica, das hätte ich nicht sagen dürfen. Es geht mich nichts an.«
»Nein, nein, ist schon okay«, erwiderte sie rasch und rang sich ein Lächeln ab. »Ich habe gestern schon dasselbe gedacht. Gary und ich haben wirklich Probleme im Moment, und ich bin mir nicht sicher, dass sich das noch einmal ändern wird.«
Mark schüttelte den Kopf. »Wahrscheinlich trinkt er wieder.«
»Nein, nein, daran liegt es nicht«, erwiderte Jessica hastig. »Wahrscheinlich ist es zum Teil meine Schuld. Ich war in den letzten sechs Monaten so mit meiner Arbeit beschäftigt, dass ich ihn wohl ziemlich vernachlässigt habe. Ich glaube, wir haben uns ziemlich auseinandergelebt.«
»Das kann vorkommen, wenn beide beruflich erfolgreich sind.« Er erhob sich und trat an die Bar, die an einem Ende der Bibliothek eingebaut war. »Möchten Sie etwas zu trinken? Coke? Wasser?«
»Ich hätte gern einen Preiselbeersaft, Mark.« Sie lachte. »Ich weiß, dass eine Flasche im Kühlschrank steht, weil ich sie selber am Samstagmorgen hineingestellt habe.«
Er nickte und holte ihr Getränk. Dabei fragte er sich, warum sich Jessica überhaupt mit Gary Stennis eingelassen hatte. Sie hatte etwas viel Besseres verdient. Sicher, er war ein netter Kerl und sah auch noch recht gut aus, obwohl der viele Alkohol und das anstrengende Leben über die Jahre schon ihren Tribut gefordert hatten. Jetzt allerdings kam Gary an seine Grenzen, in der Branche galt er mehr und mehr als ein Mann von gestern.
Grausame Stadt, in der wir leben, dachte er und schenkte den Preiselbeersaft in ein hohes Glas ein. Er wusste nur zu gut, was die Filmindustrie über Gary dachte. Früher einmal war er der Größte gewesen, aber Alkohol und Frauen hatten ihn fertiggemacht. Das Leben in Hollywood war hart.
Er lächelte vor sich hin. Man musste die Stärke, Willenskraft und Skrupellosigkeit eines Dschingis Khan besitzen, um hier zu überleben.
Während er mit dem Glas in der Hand auf Jessica zutrat, dachte er unwillkürlich, wie gut sie doch aussah. Heute war sie besonders hübsch. Sie trug ein blasslila Kostüm mit kurzem Rock und hochhackige Schuhe; er hatte ihre langen Beine schon immer bewundert. Sie war zwar ein wenig zu dünn für seinen Geschmack, aber trotzdem äußerst attraktiv.
»Danke, Mark«, sagte sie, als er das Glas vor sie auf den Couchtisch stellte.
Als er wieder zur Bar zurückging, um noch sein Ginger Ale einzuschenken, überlegte er, dass Jessica Pierce einer der nettesten Menschen war, die er kannte. Sie hatte ein liebes, freundliches Wesen, und er bewunderte sie dafür.
Er wusste, dass sie wusste, dass Gary trank, und dass sie ihn vor ihm in Schutz genommen hatte, ehrte sie. Ein loyales Mädchen. Viel zu nett für Stennis.
Mark ließ sich ebenfalls auf dem Sofa nieder und hob sein Glas. »Cheers, Jessica. Und danke, dass Sie hier alles so herrlich eingerichtet haben. Sie sind ein Wunder!«
Sie lächelte ihn an, und ihre Augen funkelten vor Freude. »Danke, Mark. Es freut mich, dass Ihnen Ihr Haus gefällt. Cheers!« Sie schwiegen einen Moment lang. »Und danke dafür, dass Sie mir vertraut haben und mir freie Hand gelassen haben.«
»Ich bin hingerissen von Ihnen, wissen Sie. Hingerissen von Ihrem Wissen, Ihrem Geschmack, Ihrer Zurückhaltung, Ihrem Flair und Ihrem Stil. Sie sind eben ... einfach ... allererste Sahne, Jess.«
Sie lachte über seinen Vergleich, trank einen Schluck und musterte ihn einen Augenblick lang. Zum tausendsten Mal fragte sie sich, warum Kelly O’Keefe sich vor einem Jahr von ihm hatte scheiden lassen. Er war so ein netter Mann, zumindest ihr gegenüber, fair, vernünftig. Man konnte wunderbar mit ihm zusammenarbeiten, und er hatte einen hervorragenden Ruf in Hollywood. Allerdings wusste sie auch, dass er ein knallharter Geschäftsmann war, deshalb war er ja als Produzent auch so erfolgreich. Schwächlinge wurden nichts im Filmgeschäft.
Jessica wusste, dass Mark Sylvester fünfundvierzig war, aber er sah nicht so aus. Er wirkte viel jünger, wie ein Mann von Mitte dreißig. Er war schlank, sonnengebräunt und sportlich, mit einem angenehmen kantigen Gesicht und sehr wissenden, aufmerksamen braunen Augen. Freundliche Augen, die jedoch so hart wie schwarze Kiesel werden konnten, wenn er sich über etwas ärgerte. Sie hatte diesen Blick an ihm einige Male bei Gesprächen mit seinen Geschäftspartnern beobachtet, und sie war froh gewesen, dass er nicht ihr galt.
»Sie starren mich an, Jessica.«
Sie lachte schuldbewusst auf und gab zu: »Um ehrlich zu sein, Mark, habe ich gerade über Sie und Kelly nachgedacht und über Ihre Scheidung. Ich kann mir nicht vorstellen, warum sie Sie verlassen hat.«
Er warf ihr einen prüfenden Blick zu und erwiderte: »Ich habe dieses Gerücht in die Welt gesetzt, aber in Wirklichkeit war ich derjenige, der sie um die Scheidung gebeten hat.«
»Oh, das wusste ich nicht.«
»Niemand weiß es. Alle glauben, es sei ihr Wunsch gewesen.«
»Ich verstehe.«
Mark lehnte sich im Sofa zurück und blickte für einen Moment lang gedankenverloren in die Ferne. Dann setzte er sich auf, als habe er plötzlich einen Entschluss gefasst, und sagte: »Ich habe nie über die Scheidung geredet. Mit niemandem, Jessica. Aber Ihnen vertraue ich sehr, ich würde es Ihnen gern erzählen. Kelly hatte ein Problem. Sie trank zu viel, und sie war auf dem besten Weg, zur Alkoholikerin zu werden.«
Jessica war so verblüfft, dass sie ausrief: »Das hätte ich niemals vermutet! Sie war immer so ... proper.«
»Sie ist eben Schauspielerin. Sie kann es ziemlich gut verbergen.«
»Aber Sie beide waren das perfekte Paar!«
»So sah es vielleicht aus«, sagte er kopfschüttelnd. »Na ja, ich habe es ihr jedenfalls so leicht wie möglich gemacht. Es ging alles freundschaftlich über die Bühne. Sie bekam ein schönes, großes Stück vom Kuchen, und damit ging sie nach New York. Ich glaube, sie hat sich mittlerweile wieder einigermaßen gefangen, außerdem kann sie dort ein anonymeres Leben führen.«
»Trinkt sie immer noch?«
»Nicht mehr so viel. Ich glaube, der Zusammenbruch unserer Ehe hat sie ... ernüchtert, wenn Sie mir diese Anspielung verzeihen.« Er grinste spöttisch. »Anscheinend gibt sie sich sehr viel Mühe, und ich wünsche ihr, dass sie es durchhält.« Er lehnte sich wieder zurück und schlug seine langen Beine übereinander. »Was mich angeht, so muss es eben weitergehen ... Und was werden Sie tun, Jessica?«
»Ich muss ein paar Häuser in Beverly Hills neu einrichten und ...«
»Nein, ich meinte, was werden Sie mit Ihrem Leben anfangen ... und mit Gary Stennis?«
Seufzend sank sie aufs Sofa zurück. »Ich weiß nicht. Nein, das stimmt nicht, ich weiß schon, was ich tun sollte, nämlich die Beziehung beenden. Es ist vorbei, Mark, es ist nur noch eine Frage der Zeit.«
»Ich kenne Gary seit Jahren; er hat früher einige Drehbücher für mich geschrieben. Er ist ein prima Kerl, verstehen Sie mich nicht falsch, aber er war schon immer ein wenig selbstzerstörerisch.«
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte sie und musterte ihn prüfend.
»Ich weiß es. Glauben Sie mir, Sie werden sich aus der Situation nicht herauswinden können. Sie müssen schon ausbrechen. Gehen Sie einfach. Holen Sie tief Luft – und springen Sie.«
»Wahrscheinlich haben Sie Recht. Vorsichtiges Taktieren bringt mich nicht weiter.«
»Davon können Sie ausgehen, Jess.«
Sie nickte. Dann wechselte sie das Thema und fragte: »Und was machen Sie als Nächstes, ich meine, beruflich?«
»Ich möchte ein Theaterstück kaufen. Die Proben laufen gerade in New York. Ich könnte mir vorstellen, dass es auf dem Broadway sehr erfolgreich wird. Es ist ein Drama, und man könnte einen guten Film daraus machen, meine Art von Film. In zwei Wochen treffe ich mich mit dem Autor. Danach fahre ich nach Paris, vielleicht drehen wir dort dieses Jahr.«
»Ich habe gerade eine Einladung zu einem Fest in Paris erhalten.«
Seine Miene hellte sich auf, und er rief aus: »Vielleicht sind wir ja zur gleichen Zeit da!«
»Ich weiß nicht. Ich glaube nicht. Mein Fest ist am zweiten Juni. Es ist das Geburtstagsfest für meine ehemalige Lehrerin, die fünfundachtzig wird.«
»Klingt gut, aber wahrscheinlich bin ich bis dahin wieder abgereist. Sonst wäre ich einen Abend mit Ihnen ausgegangen. Wir hätten die Stadt unsicher machen können.«
Lächelnd wandte sie den Kopf und blickte zu einem Gemälde an der Wand.
Er beobachtete sie aufmerksam und stellte fest: »Jetzt sehen Sie schon wieder so traurig aus.«
»Seit ich die Einladung bekommen habe, muss ich ständig an früher denken ... an die Zeit vor sieben Jahren. Diese Einladung hat eine Menge alter ... Wunden wieder aufgerissen.« Unvermittelt traten ihr Tränen in die Augen.
Mark beugte sich vor. »Hey, Jessica, was ist das denn? Tränen? Da kann es sich nur um einen Mann handeln.« Er hob fragend seine dunklen Augenbrauen.
Jessica konnte nur nicken.
»Eine alte Liebe ... Möchten Sie darüber reden? Ich bin ein guter Zuhörer.«
Langsam erwiderte sie: »Ja, eine alte Liebe, eine wundervolle Liebe. Wir hatten so viele Pläne. Wir wollten alles zusammen machen, und dann war es vorbei.«
»Ihrer Stimme nach zu urteilen, hat er sich von Ihnen getrennt.«
»Nein. Er verschwand.«
»Wie meinen Sie das?«
»Eines Tages war er verschwunden. Er war wie vom Erdboden verschluckt, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ich habe ihn nie wiedergesehen.«
»Erzählen Sie mir die Geschichte, Jessica.«
Und das tat sie. Langsam und vorsichtig erzählte sie Mark alles über Lucien Girard – über ihre erste Begegnung, ihre Beziehung und wie sie und Alain Bonnal vergeblich versucht hatten, ihn zu finden.
Als sie fertig war, sagte Mark nachdenklich: »Es gibt drei Möglichkeiten. Entweder ist er ermordet worden, und man hat sich seiner Leiche sehr sorgfältig entledigt, oder er lebt und hat das Gedächtnis verloren. Oder er hat beschlossen, zu verschwinden.«
»Aber warum sollte er das denn tun?«, rief sie aus.
»Leute, die einfach so verschwinden, haben ihre Gründe dafür. Und meistens sind sie nur schwer wieder zu finden, weil sie alles ganz genau vorbereitet haben.«
»Jemand, der verschwindet, möchte offensichtlich doch ein neues Leben beginnen«, warf sie ein, brach aber ab. Nachdenklich lehnte sie sich zurück, und nach einer Weile fuhr sie fort: »Alain und ich haben uns gefragt, ob man ihn überfallen und ermordet und dann seine Leiche ins Meer geworfen hat. Wir sind beide davon ausgegangen, dass man eine Leiche relativ einfach los wird. Wir haben auch an Gedächtnisverlust gedacht.«
»Bei den meisten Menschen kommt das Gedächtnis irgendwann wieder.« Er rieb sich das Kinn. »Random Harvest. Bei Gedächtnisverlust muss ich an diesen Film denken. Greer Garson, Ronald Colman. Ein guter Film, mittlerweile ein Klassiker und einer meiner Lieblingsfilme. Er ist allerdings sehr sentimental.«
»Den habe ich nie gesehen.«
»Dazu sind Sie zu jung.«
»Nein, das stimmt nicht. Sie sind nicht viel älter als ich, Mark.«
Er grinste. »Vierzehn Jahre. Jedenfalls, wenn er mal spätabends im Fernsehen gezeigt wird, schauen Sie ihn sich an.«
»Das mache ich.«
Er fuhr fort: »Ich denke immer in Filmen, wissen Sie. Das ist eine meiner Marotten. Aber um auf Ihren Freund Lucien zurückzukommen ... Erzählen Sie mir noch einmal genau, wie er gesagt hat, dass er für ein paar Tage verreisen müsse.«
»Wir aßen zusammen zu Abend. Das war das letzte Mal, dass ich ihn gesehen habe. Beim Essen sagte er, er müsse für ein paar Tage nach Monte Carlo, um einen Werbefilm zu drehen. Ich fand das toll. Wir haben Pläne für die Woche darauf gemacht. Er hatte vor, schon am nächsten Tag loszufahren.«
»Hat er Sie aus Monte Carlo angerufen?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein. Aber ich habe auch nicht damit gerechnet, weil ich ja wusste, dass er viel zu tun hat. Als ich jedoch nach einer Woche immer noch nichts gehört hatte, rief ich bei ihm in der Wohnung an, aber es nahm keiner ab. Ich ging zu seinem Freund Alain Bonnal; der machte sich auch schon Sorgen, weil Lucien nicht zu einem Mittagessen erschienen war, zu dem sie sich verabredet hatten. Gemeinsam gingen wir zu Luciens Haus und redeten mit der Concierge. Sie sagte uns, er sei immer noch verreist. Und sie erwähnte, sie habe noch mit ihm gesprochen, als er mit seinem Koffer das Haus verließ.«
»Und sonst hat niemand von ihm gehört?«, fragte Mark leise.
»Nein. Alain und ich gingen zu seinem Agenten, aber er war genauso ratlos wie wir.«
»Das ist alles sehr seltsam. Und die Polizei hat auch nie etwas herausgefunden?«
»Nein. Wir haben auch in Krankenhäusern und im Leichenschauhaus nachgefragt – nichts. Alain hat noch nach ihm gesucht, als ich schon wieder in Amerika war. Aber er hat nie etwas herausgefunden.«
»Das muss schrecklich für Sie gewesen sein. Kein Wunder, dass Sie so ein trauriges Gesicht gemacht haben.« Er schüttelte den Kopf. »Ich hasse solche Situationen, für die es keine zufrieden stellende Erklärung gibt.«
Jessica schwieg und warf ihm einen dankbaren Blick zu.
Mark lehnte sich auf dem Sofa zurück und fragte dann vorsichtig: »Können Sie sich irgendeinen Grund vorstellen, weshalb Lucien sein eigenes Verschwinden inszeniert haben könnte?«
»Keinen einzigen, Mark. Ich zermartere mir seit Jahren den Kopf darüber, aber der Gedanke, dass er absichtlich untergetaucht sein könnte, ist mir nie gekommen. Das passt gar nicht zu ihm. Er besaß wirklich so etwas wie Ehrgefühl. Lucien war ein durch und durch integerer Mensch.«
»Ich vertraue Ihrem Urteil. Sie kannten ihn sicher gut genug, um zu wissen, wozu er fähig war.« Er schwieg, dann fragte er sie: »Waren Sie seitdem jemals wieder in Paris?«
Jessica schüttelte den Kopf. »Nein, und ich weiß auch noch nicht genau, ob ich zu dem Geburtstagsfest fahren soll.«
»Aber das müssen Sie!«, rief er aus. »Sie müssen Ihre ehemalige Lehrerin doch feiern und ihr alles Gute wünschen ... Der fünfundachtzigste Geburtstag ist doch ein Meilenstein im Leben eines Menschen.«
»Ja, ich weiß, aber Paris ist für mich Lucien ... Ich glaube, es wäre sehr schmerzlich für mich, wieder dort zu sein. Wahrscheinlich könnte ich die Reise überhaupt nicht genießen.«
»Ich verstehe, was Sie meinen, aber wir müssen alle auf die eine oder andere Weise mit Schmerz leben. Das Leben ist hart, Jess. Es ist unberechenbar und voller Gefahren. Viele Menschen erleben schreckliche Dinge, und trotzdem geben sie nicht auf, sie ertragen ihr Schicksal. Der Mensch ist erstaunlich widerstandsfähig. Das Geheimnis ist einfach, stark zu bleiben und zu kämpfen.«
»Ich weiß aber nicht, ob ich das schaffe.«
»Ich habe eine Idee«, sagte er. »Soll ich im Juni mitkommen und Ihnen die Hand halten?«
Sie war so verblüfft über sein Angebot, dass sie ihn nur sprachlos anstarren konnte. Schließlich antwortete sie: »Sie würden mitkommen, um mir Mut zu machen?«
»Wenn Sie es so sehen möchten.«
Jessica war gerührt von Marks Großzügigkeit. Sie waren wirklich gute Freunde; sie hatte einige Häuser und Büros für ihn eingerichtet, und sie waren sich dabei sehr nahegekommen. Aber dass er ihr anbot, ihr die Reise nach Paris leichter zu machen, raubte ihr den Atem. »Danke für das Angebot ... Ich bin Ihnen wirklich dankbar, Mark.« Sie seufzte auf. »Ich liebe Anja Sedgwick, und sie hat mein Leben ganz stark beeinflusst ... aber ... ach, ich weiß nicht ...« Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn hilflos an.
»Manchmal erleichtert es einen schweren Gang gewaltig, wenn jemand mit einem mitgeht. Und wie ich bereits sagte, vielleicht bin ich ja dann sowieso in Paris wegen meines nächsten Films.«
»Ich kann mich einfach noch nicht entscheiden, ob ich zu Anjas Fest fahre. Ich habe die Einladung erst am Samstagabend vorgefunden, als ich nach Hause kam. Ich muss noch einmal darüber nachdenken, aber Sie werden der Erste sein, der es erfährt.«
Mark lächelte sie an; er mochte sie wirklich gerne. Aber er begann sich zu fragen, warum er sich auf einmal so für ihr Leben interessierte. Das hatte ihn genauso verblüfft wie sie, und seine Handlungsweise verwirrte ihn.
Jessica hatte ähnliche Gedanken. Außerdem wusste sie einfach nicht, ob sie den Mut besaß, nach Paris zu fahren und sich der Vergangenheit zu stellen. Nicht einmal mit Marks Beistand.