Anja Sedgwick war so verblüfft, dass sie aufs Sofa sank und ihren Gast fassungslos anstarrte. Die Überraschung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben.
Sie lehnte sich in ihre Petit-Point-Kissen und fragte stirnrunzelnd: »Wie bist du nur darauf gekommen, so ... so stürmisch vorzugehen?« Sie schüttelte den Kopf. »Das sieht dir gar nicht ähnlich.«
Nicholas Sedgwick räusperte sich ein paar Mal. »Sei mir bitte nicht böse, Anja.«
»Du meine Güte, Nicky. Nein, natürlich bin ich dir nicht böse.« Sie lächelte ihn liebevoll an. Er war ihr Liebling, und obwohl er noch nicht einmal blutsverwandt mit ihr war, betrachtete sie ihn als ihren Sohn. Er war einfach etwas ganz Besonderes.
»Na gut«, fuhr sie fort. »Du gibst ein Geburtstagsfest für mich, die Einladungen sind schon verschickt, und deswegen können wir es jetzt nicht mehr absagen. Also erzähl mir alles ganz genau. Schieß los! Ich bin ganz Ohr.«
»Ich wollte zu deinem Geburtstag etwas ganz Besonderes machen, Anja«, erwiderte er eifrig wie ein kleiner Junge. »Ich weiß doch, wie gerne du das Ledoyen magst, also habe ich das gesamte Restaurant für den Abend reserviert. Zuerst gibt es Cocktails, dann Abendessen und danach Tanz. Und außerdem auch noch ein paar Überraschungen.«
»So wie ich dich kenne, wird es eine Menge Überraschungen geben«, lachte sie.
»Bis jetzt habe ich fünfundsiebzig Leute eingeladen, aber wenn du willst, können wir auch doppelt so viele einladen.«
»Fünfundsiebzig sind ja nicht besonders viele«, rief sie aus, lächelte aber, als sie seinen niedergeschlagenen Gesichtsausdruck bemerkte. »Ich mache doch nur Spaß, Nicky. Erzähl weiter, Liebling.«
»Ich habe mir das Lokal genau angesehen, und dann hatte ich alle möglichen Ideen für das Fest, wahrscheinlich habe ich dann ein bisschen zu impulsiv reagiert. Ich entwarf eine Einladung, ließ sie drucken und die Adressen von einem Kalligraphen schreiben. Aber als ich sie alle weggeschickt hatte, wurde ich auf einmal nervös, ich hatte das Gefühl, eigenmächtig gehandelt zu haben.«
»Was du ja gerne tust«, warf sie nachsichtig ein.
Er nickte, erleichtert darüber, dass sie so gnädig mit ihm umging. Seine Pläne hatten sie zwar überrascht, aber offenbar war sie ihm nicht böse.
»Auf jeden Fall wollte ich dich an jenem Tag in der Provence anrufen. Aber dann entschied ich mich dagegen. Manchmal ist es einfach besser, etwas von Angesicht zu Angesicht zu sagen.« Nicky warf in einer hilflosen Geste die Hände hoch. »Und jetzt bin ich also hier, um dir alles zu beichten, und ich hoffe, du willst nicht, dass ich das Fest wieder absage.«
»Ich weiß nicht.« Sie schüttelte nachdenklich den Kopf. »Ich weiß es wirklich nicht, Nicky.«
»Du musst deinen fünfundachtzigsten Geburtstag einfach feiern. Es ist so ein wichtiges Datum ... und außerdem sollten an dem Tag alle deine Lieben um dich sein.«
»Habe ich so viele Lieben ... fünfundsiebzig Menschen?« Sie schürzte die Lippen.
»Ja, ich sollte es vielleicht anders formulieren, Anja. Ich habe die Menschen eingeladen, die dich lieben und etwas Besonderes in deinem Leben waren.«
»Nun, davon sind noch einige am Leben«, gab sie zu. »Hast du die Gästeliste dabei?«
»Ja.« Er lächelte entschuldigend. »Leider musste ich auch da heimlich vorgehen. Laure hat mir die Namen aus deinem Adressbuch genannt.« Ohne ihre Antwort abzuwarten, fuhr er eilig fort: »Hier ist die Liste.« Er reichte sie ihr und setzte sich neben sie auf das Sofa.
Als Nicky nach dem Mittagessen gegangen war, begab sich Anja wieder in ihren oberen Salon. In diesem Zimmer hatte sich, seit sie vor über einem halben Jahrhundert hierhergezogen war, ihr ganzes Leben abgespielt. Hier hatte sie mit ihrer Familie und ihren Freunden zusammengesessen, sich entspannt und gelesen, wenn sie allein war, oder die Musik gehört, die sie so sehr liebte.
Es war auch ihr bevorzugter Platz zum Arbeiten, weil sie hier umgeben war von ihren Fotografien, Büchern und den Besitztümern, die sie in ihrem langen Leben angesammelt hatte und die ihr etwas bedeuteten. Der große alte Schreibtisch in einer Ecke, auf dem sich Papiere stapelten, war Zeuge ihrer lebenslangen Disziplin und ihres Fleißes.
Anja blieb kurz am Fenster stehen, blickte auf den Garten und dachte, wie trübe er doch an diesem kalten Februarnachmittag aussah.
»Ein Bild in Grautönen«, murmelte sie leise, und wie immer nahm sie alles mit den Augen einer Künstlerin wahr. Die Grau- und Silberschattierungen vermischten sich ... die kahlen Äste der Bäume hoben sich scharf gegen den blassgrauen Pariser Himmel ab. Und die nassen Pflastersteine im Hof glänzten feucht, weil es vor kurzem geregnet hatte.
Platanen und Linden umstanden das Haus, und genau in der Mitte des Hofes stand ein schöner alter Kirschbaum. Jetzt hoben sich seine kahlen Äste düster von dem glänzenden Pflaster ab, aber im Frühjahr waren sie übersät von duftenden hellrosa Blüten, und im Sommer spendete sein Laub willkommenen Schatten.
So trübe der Garten heute auch aussah, Anja wusste ganz genau, dass er schon in wenigen Monaten wieder eine einzige Blütenpracht sein würde, mit dem blühenden Kirschbaum und den Fleißigen Lieschen, die den Rasen umsäumten.
Dann würden auch der schmiedeeiserne Zaun und die alten Gartenmöbel wieder strahlend weiß gestrichen sein. Seit sie vor fünfundsechzig Jahren zum ersten Mal in dieses Haus gekommen war, war sie jedes Jahr im Frühling Zeuge der immer gleichen wundersamen Veränderung gewesen.
Anjas Blick fiel auf die mit Efeu bewachsene Mauer, die den Garten vor neugierigen Blicken schützte und zu den Nachbarn hin abschirmte. Dieses verschwiegene Fleckchen hatte sie schon immer bezaubert, genauso wie das Haus mit seiner Fachwerkfassade, das aussah, als habe man es aus der Normandie hierher geschafft und mitten in Paris wieder aufgebaut.
Es lag nur einen Steinwurf vom geschäftigen Treiben auf dem Boulevard des Invalides entfernt, und um die Ecke war die Rue de l’Université, wo sich ihre mittlerweile berühmte Schule befand.
Anja lächelte vor sich hin, weil sie daran dachte, wie überrascht die meisten Leute waren, wenn sie ins Haus traten und den Garten bemerkten. Das über hundert Jahre alte Gebäude und die bukolische Umgebung raubten fast jedem den Atem.
Ihr war es genauso gegangen, als sie an ihrem zwanzigsten Geburtstag zum ersten Mal das Haus betreten hatte ... das war jetzt schon so lange her ...
Sie war mit Michel Lacoste hierhergekommen, um seine Mutter kennen zu lernen. Er war die große Liebe ihrer Jugend gewesen, ihr erster Mann und der Vater ihrer Kinder Dimitri und Olga.
Das Haus hatte seiner Mutter, Catherine Lacoste, gehört, und als sie starb, zogen Michel und sie hier ihre Kinder groß ... und dann hatte sie nach Michels Tod das Haus geerbt.
»Er war viel zu jung zum Sterben«, murmelte sie und wandte sich vom Fenster ab.
In der letzten Zeit überfielen sie häufig Erinnerungen an die Vergangenheit. Ihr ganzes Leben zog wie in einem Film vor ihrem inneren Auge vorüber. Vielleicht gehörte es zum Altwerden, dass man sich plötzlich an so viele Dinge erinnerte, die schon so lange zurücklagen.
Aber jetzt konnte sie sich nicht mit der Vergangenheit befassen. Nicholas Sedgwick, ihr Großneffe von der Seite ihres zweiten Mannes Hugo Sedgwick, hatte sie gezwungen, nach vorne zu blicken und sich um den zweiten Juni und das große Fest anlässlich ihres Geburtstags zu kümmern.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, der neben dem Kamin stand. Heute war es so kalt, dass sie froh um das prasselnde Feuer war. Anja nahm noch einmal die Einladung zur Hand, wobei sie dachte, dass sie sehr stilvoll wirkte. Aber Nicholas war ja bekannt für seinen guten Geschmack. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit der Gästeliste zu.
Er hatte die richtige Wahl getroffen, und er hatte sogar an alte Freunde gedacht, die sie jetzt nur noch selten sah.
Auf seiner ursprünglichen Liste standen ungefähr neunzig Namen, aber bisher hatte Nicky erst fünfundsiebzig Einladungen verschickt.
Er ist auf Nummer Sicher gegangen, dachte sie, als sie die Namen noch einmal durchging. Sie war mit den Familienmitgliedern und Freunden, die er bereits eingeladen hatte, einverstanden, und ebenso mit ihren ehemaligen Schülern. Immer die Besten und Klügsten eines Jahrgangs.
Sie freute sich besonders, als sie entdeckte, dass er auch an vier Mädchen gedacht hatte, die 1994 ihren Abschluss gemacht hatten. Jessica Pierce, Kay Lenox, Maria Franconi und Alexandra Gordon. Vor allem Alexandra war in den neunziger Jahren ihre Lieblingsschülerin gewesen, vielleicht sogar überhaupt ihr Liebling. Mein besonderes Mädchen, dachte sie.
Anja lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und dachte voller Zuneigung an Alexandra, dabei fiel ihr auch deren Liebesgeschichte mit dem unglücklichen Tom Conners ein. Das war Nickys Schuld gewesen, schließlich hatte er die beiden miteinander bekannt gemacht. Na ja, wenn sie ehrlich war, stimmte das nicht ganz. Tom war ins Studio gekommen, um sich mit einem Klienten zu treffen, wenn sie sich recht erinnerte. Also hatte ihr Neffe da wohl doch nicht seine Hände im Spiel gehabt.
Und war es überhaupt jemandes Schuld, wenn das Leben schief ging? Es hatte doch auch etwas mit Schicksal zu tun ... Sie dachte an ihr eigenes Leben und an die Rolle, die das Schicksal darin spielte. Sie war sich absolut sicher, dass es ihre Bestimmung war, ihr Leben hier in diesem Haus zu beschließen. Sie machte sich keine Gedanken darüber, was hätte sein können. Das hatte sie noch nie getan.