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Obwohl sie das mildere Klima in der Provence in den Wintermonaten genoss und häufig dorthin fuhr, war Anja froh, wieder in Paris und in ihrem Haus zu sein.

Dieses Zimmer enthielt ihre ganze Geschichte. Hier standen die Erinnerungsstücke, die sie mit den Jahren zusammengetragen hatte. Manche hatte sie gekauft, andere waren Geschenke, wieder andere hatte sie geerbt, und manche hatte sie auch selbst geschaffen.

Die Einrichtung des Salons zeugte von Geschmack und Talent, von einer Frau mit exotischem Hintergrund, die sich von Jugend an energisch ihren Weg gebahnt hatte.

Sie war ihrem Herzen und ihren Träumen gefolgt und hatte ihrer Kreativität freien Lauf gelassen, da sie immer an ihr Schicksal als Frau und Künstlerin geglaubt hatte. Sie hatte ihr Leben voll ausgekostet und bedauerte nichts, außer der Tatsache, dass sie manches aus Zeitmangel nicht hatte tun können.

Sie fügte ein paar Anmerkungen und die Namen weiterer Personen auf der Gästeliste hinzu und legte sie dann beiseite. Dann machte sie sich daran, die Dinge zu erledigen, die während ihres Aufenthaltes in der Provence liegen geblieben waren. Nach einer Weile jedoch ließ sie erschöpft den Füller sinken und blickte sich im Zimmer um.

Lächelnd stellte sie fest, dass ein goldener Schein über dem Raum lag, obwohl es draußen so trüb und grau war. Aber dieses Zimmer hatte immer eine sonnige Ausstrahlung.

Obwohl sie eigentlich bildende Künstlerin war, war Anja vielfältig begabt, und vor allem hatte sie ein wunderbares Gespür für Räume und deren Gestaltung. Um dem großen Wohnzimmer mit seinen hohen Decken eine Sommerstimmung zu geben, hatte sie vor Jahren die Wände mit einem weiß-gelb gestreiften Stoff bespannt. Mittlerweile war er verblichen, verbreitete jedoch immer noch ein weiches, warmes Licht.

Die roten Taftvorhänge an den Fenstern, die mit Ringen an Holzstangen befestigt waren, standen in lebhaftem Kontrast zu der Wandbespannung. Anja liebte diese Vorhänge, und wenn die Stoffe ausgebleicht waren, ersetzte sie sie durch neue.

Ständig zupfte sie an ihnen herum, bauschte sie auf oder stopfte sie sogar mit Seidenpapier aus, um den gewünschten Effekt zu erreichen. Sie waren ihr ganzer Stolz, und sie konnte sich täglich an ihnen freuen. Nicky neckte sie zwar immer damit, bewunderte aber insgeheim die kühne Stilsicherheit, mit der sie dieses gewagte Farbspiel inszeniert hatte.

Anja machte sich nichts aus seinen Neckereien, weil sie ihrem Geschmack vertraute. Das Zimmer basierte auf den Farben Rot und Gelb mit weißen Akzenten und einem blassen Apfelgrün, das die starken Farben ein wenig dämpfte.

Vor dem Kamin stand ein großes Chesterfield-Sofa, das mit scharlachrotem Samt bezogen war; der gleiche Stoff war für die beiden mächtigen Armsessel verwendet worden, die so typisch für Anja Sedgwicks Geschmack waren: Ihr ging es sowohl um Bequemlichkeit als auch um Stil. Auch den rechteckigen Couchtisch hatte sie selbst entworfen. Ursprünglich war er ein altes schmiedeeisernes Gartentor gewesen, das sie auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Sie hatte einen Kunstschmied damit beauftragt, vier kurze Eisenfüße darunter anzubringen, und dann hatte sie eine dicke Glasplatte daraufgelegt. Sie war stolz auf ihr Einzelstück und nickte auch jetzt zustimmend, als sie den Tisch betrachtete.

Das prasselnde Kaminfeuer trug zur warmen Atmosphäre im Zimmer bei, und Anja dachte, wie glücklich sie sich doch schätzen konnte, einen solchen Zufluchtsort zu besitzen. Sie war erst seit zwei Tagen wieder aus der Provence zurück, aber schon machte ihr die Kälte zu schaffen. Sie spürte sie in den Knochen.

»Alte Knochen«, murmelte sie, während sie aufstand. Sie ging zum Kamin, blieb jedoch stehen, um ihre Schätze zu bewundern.

Manchmal kam es ihr so vor, als vergäße sie während ihres Aufenthaltes im Süden, wie schön ihre Besitztümer waren, und dann musste sie sie immer wieder betrachten und in die Hand nehmen, um sich zu vergegenwärtigen, wie viel sie ihr bedeuteten.

Er steht nicht richtig, dachte sie, als ihr Blick auf den silbernen Samowar fiel. Sie beugte sich vor, um ihn genau in die Mitte des runden Tisches zu stellen. Dann trat sie zurück und betrachtete ihn liebevoll.

Als sie Russland für immer verließen, hatte ihre Mutter die wertvollsten Familienerbstücke nicht zurücklassen wollen.

Anja war bei der Flucht zu klein gewesen, um sich zu erinnern, aber ihre Mutter hatte ihr und ihren Geschwistern die Geschichte unzählige Male erzählt.

An einem Konsoltisch blieb sie stehen, um die Ikonensammlung ihrer Mutter zu bewundern. Manche waren uralt, und alle waren sehr wertvoll. Auch sie waren in ihrem Gepäck gewesen, als sie vor den Bolschewiken geflohen waren.

Am anderen Ende der Konsole standen die Familienfotos aus Russland in goldenen Fabergé-Rahmen, die mit grünem Malachit und blauem Lapislazuli verziert waren. Ihre Eltern hatten ihre Familien, die sie in Russland zurückgelassen hatten, schrecklich vermisst; sie hatten auch Mütterchen Russland vermisst, trotz des Elends im Land, trotz Aufruhr und Blutvergießen.

Diese Fotografien von gut aussehenden Männern und elegant gekleideten, schönen Frauen waren Erinnerungen an das verlorene Zarenreich, an eine untergegangene Welt voller Geld und Macht, an eine privilegierte Gesellschaft, der sie einst angehört hatten.

Von den Familienfotos wandte Anja sich zu den Bücherregalen am anderen Ende des Zimmers. Dort standen nicht nur die Bücher von Freunden, sondern auch die, die sie selber geschrieben hatte. Bald, so hoffte sie, würde ein weiteres hinzukommen, ihr Buch über das Art déco, das sie im Moment gerade fertig stellte. In einem Monat würde sie das Manuskript an den Verleger schicken.

Unwillkürlich richtete sie ihren Blick auf ein kraftvolles Gemälde, das an der Wand neben den Bücherregalen hing. Es war eine Landschaft, ein modernes Bild mit grünen, gelben und dunkelroten Farbflächen, die von einem tiefen Braun und herbstlichen Kupfertönen gemildert wurden. Ihr Vater, Valentin Kossikowskij, der große russische Künstler, hatte es gemalt. Es faszinierte sie immer wieder aufs Neue, und sie war voller Bewunderung für das Talent ihres Vaters.

Schließlich wandte sie den Blick ab und trat an den Kamin. Dort hing ein Bild, das sie selber vor über sechzig Jahren gemalt hatte, das lebensgroße Porträt einer jungen Frau.

Es zog sofort die Aufmerksamkeit auf sich, wenn man den Raum betrat. Jetzt stand Anja vor dem Kamin und betrachtete es kritisch. Aber obwohl es ihr eigenes Werk war, konnte sie keinen Fehler daran entdecken.

Es war das Porträt ihrer Schwester Ekaterina oder Katti, wie sie gerufen wurde. Sie war damals gerade zwanzig und ungewöhnlich schön.

Sie selbst war fünfundzwanzig gewesen, als sie Katti gebeten hatte, ihr Modell zu sitzen, und ihre Schwester hatte nur zögernd eingewilligt. Sie war bemerkenswert uneitel und bescheiden.

Ihr Vater hatte erstaunt und sprachlos auf das Porträt reagiert. Und als er schließlich seine Stimme wiedergefunden hatte, hatte er Anja in den höchsten Tönen gelobt und das Bild als wahren Schatz bezeichnet. Er hatte sofort die angesehene Londoner Kunstgalerie, mit der er zusammenarbeitete, gebeten, ihr Bild auszustellen, und sie hatten nicht nur seinem Wunsch entsprochen, sondern sogar eine eigene Ausstellung für Anjas Bilder arrangiert. Zu ihrer Überraschung und ihrer Freude wurden fast alle Bilder sofort verkauft.

Viele Leute hatten versucht, ihr das Porträt ihrer Schwester, das sie Porträt von Ekaterina genannt hatte, abzukaufen, aber sie hatte sich nicht dazu entschließen können, weil es in gewisser Weise ein Teil von ihr geworden war. Und im Lauf der Jahre war ihre Antwort immer die gleiche geblieben. Das Bild war unverkäuflich.

Zärtlich musterte Anja das Gemälde. Das war ihre geliebte Katti, blond, wunderschön, mit hohen Wangenknochen, hoher Stirn, großen Augen und einer schmalen, aristokratischen Nase. In dem Licht, das sie auf der Leinwand eingefangen hatte, schien ihre Schwester förmlich zu leuchten.

Kattis Augen waren blau wie der Himmel, und die Farbe wiederholte sich in dem blauen Taftkleid, das sie trug. Wenn sie die Hand ausstreckte, dachte Anja, würde sie Seide berühren und nicht die Leinwand, so echt wirkte der Stoff mit seinen Falten und Schatten. Sie konnte ihn fast rascheln hören.

Wieder einmal fiel ihr auf, wie englisch das Bild wirkte. Aber das lag auch daran, dass das Bild an einem sonnigen Nachmittag im Hochsommer im Park eines Herrenhauses in Kent entstanden war. Der Hintergrund erinnerte ein wenig an Gainsborough. Natürlich wollte sie sich nicht mit dem großen Meister vergleichen, aber sie war von seiner Technik stark beeinflusst gewesen. Er hatte Personen und Landschaft auf meisterhafte Art miteinander verbunden, eine äußerst seltene Fähigkeit, und sie hatte danach gestrebt, es ihm gleichzutun.

Ob das Bild wohl so viel Beachtung findet, weil das Mädchen so schön ist?, fragte sie sich. Oder liegt es eher daran, dass es so englisch ist? Oder vielleicht an der friedlichen Landschaft im Hintergrund? Sie hatte keine Ahnung. Sie wusste nicht, was andere Menschen daran anzog und welche Emotionen es in ihnen wachrief. Aber dass es so war, war unbestreitbar.

Sie wandte sich ab, blieb in Gedanken jedoch bei ihrer Schwester. Katti war zwar in England zur Welt gekommen, besaß jedoch eine russische Seele. Sie sah ihrer Mutter, Natascha, unglaublich ähnlich. Ihr Bruder Wladimir war ebenfalls in London geboren, er war durch und durch englisch und trug keine Spur seines russischen Erbes in sich. Er war drei Jahre jünger als Katti und acht Jahre jünger als sie.

Ihre Geschwister lebten beide noch, und dafür war sie unendlich dankbar. Sie wusste, dass sie gerne auf ihr Geburtstagsfest kommen würden; sie hatten sich immer nahegestanden und waren immer füreinander da gewesen. Sie lebten nicht allzu weit weg in England, ihrem geliebten Geburtsland.

Nicky hatte sie an die Spitze der Gästeliste gesetzt, gemeinsam mit den übrigen Mitgliedern ihrer weit verzweigten Familie.

Katti und ihr Mann, Sascha Lebedew, auch ein in England geborener Russe, ihre Söhne, Charles und Anthony, und ihre Tochter Serena. Serenas Mann und die Frauen der Jungen. Ihr Bruder Wladimir, seine Frau Lili und ihre drei Söhne Michael, Paul und Peter mit ihren Ehefrauen.

Und dann kamen die, die ihr am nächsten standen, ihre Kinder von ihrem ersten Mann, Michel Lacoste. Ihre Tochter Olga und ihr Sohn Dimitri. Auch Olgas Töchter, ihre Enkelinnen Anna und Natalie von Olgas früherem Mann, Adam Mattison, mit dem sie immer noch einen freundschaftlichen Umgang pflegte, würden kommen. Anja hatte auch seinen Namen weiter unten auf der Liste gesehen, und sie war froh darüber. Sie hatte Adam immer gemocht. Dimitri würde mit seiner Frau Celestine, ihrer Tochter Solange und deren Mann Jean-Claude anreisen.

Oh, und dann kamen alle Sedgwicks, die sie von Hugo, ihrem zweiten Mann, geerbt hatte und die sie liebte wie ihre eigenen Kinder. Larry und seine Frau Stephanie, Nicky, ihr Liebling, mit seiner Frau Constance. Aber nein, Constance würde vermutlich gar nicht kommen, da sie und Nicky zur Zeit getrennt lebten. Und dann kam natürlich noch die Schwester von Larry und Nicky, Rosamund. Sie hatte nie geheiratet, obwohl sie häufig verlobt gewesen war. Sie wurde mit ihrem derzeitigen Partner Henry Lester erwartet.

Das war in der Tat eine wilde Mischung, aber sie gehörten alle zu ihrer Familie, und sie liebte jeden Einzelnen von ihnen. Das Fest wird wunderbar werden, dachte sie und setzte sich auf das scharlachrote Samtsofa. Sie lehnte sich in die Kissen zurück, genoss die Wärme des Feuers und den blumigen Duft der Kerzen.

Das Porträt ihrer Schwester weckte so viele Erinnerungen ... Erinnerungen an die Vergangenheit, an Menschen, die sie geliebt hatte und die nun schon lange tot waren ... an andere, die glücklicherweise noch lebten.

Fünfundachtzig, dachte sie. Ich kann es kaum glauben. In nur drei Monaten werde ich fünfundachtzig. Und dabei fühle ich mich viel jünger.

Lächelnd blickte Anja zu dem Porträt von Katti. Sie fühlte sich so jung wie das Mädchen auf dem Bild, das sie aus unschuldigen blauen Augen anblickte.

Sie war 1916 in St. Petersburg geboren, am Vorabend der Russischen Revolution. Allerdings hatte sie keine Erinnerung mehr daran, wie die Stadt damals ausgesehen hatte, und sie wusste auch nichts von den stürmischen Ereignissen von 1917 und 1918, die ihre Eltern veranlasst hatten, aus dem Land zu fliehen.

Allerdings hatte ihr Vater, Prinz Valentin Kossikowskij, ihr immer und immer wieder von dieser Zeit erzählt, als sie alt genug gewesen war, um es zu verstehen. Die Politik dieser chaotischen Zeit war sein Lieblingsthema gewesen, und sie hatte seinen fesselnden Erzählungen stets wie gebannt gelauscht.

Ihre Eltern gehörten zur obersten Gesellschaftsschicht in Russland. Ihr Vater blickte auf einen langen Stammbaum zurück, und seine Familie, die riesige Ländereien auf der Krim, zahlreiche Fabriken in Moskau und Vermögen im Ausland besaß, war unermesslich reich. Ihre Mutter Natalia, die von allen nur Natascha genannt wurde, war die Tochter des Grafen Ilja Dewenarskoj, eines reichen Landbesitzers.

Als Anja zur Welt kam, machte sich ihr Vater gerade einen Namen als Künstler. Seine Mutter und seine Geschwister betrachteten seine Malerei als Hobby und nicht als Beruf, geschweige denn als Berufung.

Es stellte sich jedoch heraus, dass sie Unrecht hatten. Valentin Kossikowskij hatte tatsächlich seine Berufung gefunden, als er ernsthaft zu malen begann, und mit der Zeit wurde er mit seinem Werk genauso berühmt wie sein Zeitgenosse Marc Chagall.

Fünfzehn Jahre nach ihrer Flucht aus Russland galt Valentin als einer der großen russischen Maler des zwanzigsten Jahrhunderts, und sein Name wurde in einem Atemzug mit Kandinsky, Chagall, Rodschenko, Ender und Popowa genannt.

1917 dachte Valentin jedoch noch nicht an Ruhm, sondern nur an Flucht. Anja war mittlerweile ein Jahr alt, und er fürchtete um die Sicherheit seines Kindes und seiner jungen Frau. In gewissem Maße war er, wie die meisten seiner Standesgenossen, in politische Zusammenhänge eingeweiht, und er war sich sehr wohl bewusst, dass sich Unheil zusammenbraute. Er war überzeugt davon, dass sich Russland von der bevorstehenden Katastrophe nie wieder erholen würde, und da er die Revolution schon lange vorausgesehen hatte, hatte er Geld ins Ausland geschafft.

Wie Anja später erfuhr, glaubte ihr Vater damals, die deutsche Frau des Zaren, eine geborene Prinzessin Alice von Hessen, habe Russland ins Unglück gestürzt. Bis zu seinem Tod gab er der Zarin Alexandra die Schuld an der Revolution, wie so viele seiner Zeitgenossen. Er bezeichnete sie als falsch, herrschsüchtig und manipulativ. Zar Nikolaus II. hielt er für schwach und schwankend in seinen Entschlüssen.

Aber Prinz Valentin Kossikowskij wusste auch, dass der Zar eigentlich ein guter Mann war und nicht der Tyrann, als den die Bolschewiken ihn hinstellten. Die Geschichte gab ihm später recht; mit der Zeit wurde Nikolaus II. zu einem Märtyrer.

Als sich Anfang 1917 die Dinge in der Duma, der gewählten Volksversammlung, zuspitzten, hielt Valentin buchstäblich den Atem an und überlegte, wie er sich verhalten sollte.

Im März desselben Jahres dankte Zar Nikolaus II. unerwartet ab und überließ den Thron seinem Bruder, dem Großfürsten Michail Alexandrowitsch.

Für kurze Zeit glaubte Valentin, das Unheil sei abgewendet, und Michail würde, wie sein Cousin, George V. von England, ein konstitutioneller Monarch werden.

Wie die meisten russischen Adeligen bewunderte Valentin den Großfürsten. Michail wurde als Held gefeiert, als aufrechter, ehrenhafter Mann, der immer schon die konstitutionelle Monarchie vertreten hatte.

Valentin erzählte Anja oft, dass er den Großfürsten sogar einmal kennen gelernt hatte. Sergej, Valentins Bruder, diente in der Armee und war in Gatschina stationiert, wo auch der Großfürst war. »Wir sind uns oft an der Reitschule der Blauen Kürassiere begegnet. Er wäre ein guter Herrscher geworden.«

Obwohl sie die Geschichte auswendig kannte, bat Anja ihren Vater immer wieder, sie ihr zu erzählen. »Was ist mit Michail passiert, Papa? Erzähl mir die Geschichte! Bitte, bitte.«

Und ihr Vater erzählte: »Michail war nur einen Tag lang Zar. Er dankte ab, als die Bolschewiken es von ihm verlangten, denn er wollte Blutvergießen verhindern. Aber dafür war es schon zu spät. Michail war der letzte russische Zar und der erste Romanow, der ermordet wurde, noch bevor wenige Wochen später sein Bruder Nikolaus und dessen Familie kaltblütig in ihrem Kerker in Jekaterinenburg hingerichtet wurden.«

Großfürst Michail wurde um zwei Uhr morgens am 13. Juni 1918 umgebracht. Der Mord an Michail und seinem Sekretär Nicholas Johnson fand in einem Wald bei Perm statt, der Stadt, wo sie unter Arrest gehalten worden waren. Man kannte die Täter jedoch nicht, und die Nachricht vom Tod Michails drang erst viel später an die Öffentlichkeit. Zuerst hatte man angenommen, es sei dem Großfürsten gelungen, mit Johnson aus Russland zu fliehen.

Valentin und Natascha hatten die Geschichte nicht geglaubt. Sie waren überzeugt davon, dass die Bolschewiken ihm etwas angetan hatten. Fünf Wochen nachdem der Zar und seine Familie ermordet wurden, handelte Valentin. Er fuhr zu seinem Onkel Sandro, einem Vetter seines Vaters, der ein enger Freund von Admiral Koltschak war, damals Oberbefehlshaber der Weißen Armee.

Sechs Monate später schließlich, im Januar 1919, konnten Valentin, Natascha und die kleine Anja Russland über Finnland verlassen. Von Helsinki aus fuhren sie nach Schweden und von dort nach Norwegen. Nach einigen Monaten nahm ein britisches Handelsschiff sie nach Schottland mit.

Dort erwartete sie Valentins Schwester Olga, die 1910 den reichen englischen Bankier Adrian Hamilton geheiratet hatte, und sie zogen nach London.

Anjas erste bewusste Erinnerungen an ihre Kindheit spielten sich in England ab, vor allem im wunderschönen Herrenhaus ihrer Tante in Kent, wo sie später das Porträt von Katti malte.

In diesem Haus, Haverlea Chase, lebten die Kossikowskijs, bis sie in ein eigenes Haus übersiedelten. Valentin und Natascha sprachen mehrere Sprachen, darunter auch Englisch, und so gewöhnten sie sich rasch ein in das friedliche englische Landleben. Und zum ersten Mal seit Jahren fühlten sie sich sicher.

Nach einem halben Jahr in Kent fand Valentin in Chelsea ein kleines, reizendes Haus mit einem hübschen Wintergarten, der ihm als Atelier diente.

Glücklicherweise hatte Valentin schon 1912 Geld aus Russland herausgeschafft und es bei seinem Schwager in England angelegt. So waren sie nicht wie andere russische Emigranten vollkommen verarmt.

In diesem Haus in Chelsea wuchs Anja auf, umgeben von den Dingen, die ihre Mutter aus Russland gerettet hatte, dem silbernen Samowar, in dem sie jeden Tag Tee zubereitete, den Ikonen und den Familienfotografien auf dem Tisch im Wohnzimmer.

Anja aß russisches Essen, lernte die russische Geschichte von ihrem Vater und die Sprache von ihren Eltern, die, wenn sie allein waren, nur in ihrer Muttersprache miteinander redeten.

Im Wesentlichen wurde Anja so erzogen wie eine russische Aristokratin in St. Petersburg. Und doch war sie auch ein englisches Mädchen. Als Kind ging sie in einen privaten Kindergarten, dann auf eins der besten Internate, und später studierte sie am Royal College of Art.

»Ich bin eine komische Mischung«, sagte sie zu Michel Lacoste, als sie ihn in Paris kennen lernte. »Aber meine Seele ist russisch.« Davon war sie ihr ganzes Leben lang überzeugt.