Der Regen beeinträchtigte Nicholas Sedgwicks gute Laune nicht. Das war nur ein Aprilschauer, der jeden Moment aufhören würde. Und genau das passierte.
Er schloss seinen Regenschirm und schritt rasch auf die Rue de l’Université zu. Dabei summte er leise. Er hatte gerade die Skizzen für die Ausstattung eines neuen Films fertig gestellt, der in den Studios von Billancourt gedreht werden sollte, und er freute sich darüber, dass dem Produzenten und dem Regisseur seine Entwürfe gefallen hatten. Sie waren beide überwältigt gewesen.
Nichts macht einen Mann so glücklich wie Erfolg, dachte er, als er sich Anjas Schule näherte.
Dann jedoch flog ein Schatten über sein Gesicht, und seine blaugrünen Augen wurden nachdenklich. Beruflich mochte er ja den Höhepunkt erreicht haben, aber privat war er schon lange nicht mehr glücklich, und das bereitete ihm großen Kummer.
Was ihn betraf, so war seine Ehe mit Constance Aykroyd, der englischen Bühnenschauspielerin, vorüber. Er hatte versucht, sie zu retten, aber mit der Zeit lebten sie sich immer mehr auseinander, und jetzt wollte er nur noch, dass sie endlich zu einem Ende kamen. Und zwar so friedlich wie möglich.
Connie wollte sich jedoch nicht scheiden lassen; sie klammerte sich an ihn und an die Ehe. Er ging den Weg des geringsten Widerstandes und unternahm keine rechtlichen Schritte, weil im Moment keine Veranlassung dazu bestand. Es gab keine andere Frau in seinem Leben; er war so mit seiner Arbeit beschäftigt, dass er gar keine Zeit hatte, sich um Anwälte und Gerichtstermine zu kümmern. Tief im Innern wusste er jedoch, dass dies unvermeidlich sein würde, wenn er seine Freiheit wiederhaben wollte, denn von sich aus würde Connie ihn nie gehen lassen, auch wenn er schon vor einigen Monaten von zu Hause ausgezogen war.
Seufzend dachte Nicky daran, wie schwierig und launisch Connie geworden war. Und sie war magersüchtig. Er machte sich große Sorgen um sie. Sie war so schrecklich dünn, als wolle sie sich zu Tode hungern. Unwillkürlich erschauerte er bei dem Gedanken. Sie sah aus wie ein wandelndes Skelett.
Er war dankbar dafür, dass sie keine Kinder hatten. So würde es eine klare, einfache Scheidung werden.
Und er war erst achtunddreißig.
Er konnte noch einmal neu anfangen. Er lächelte leise. Die Hoffnung stirbt nie ... Das war der Lieblingsausspruch seines Onkels Hugh Sedgwick. Hugo, wie er allgemein genannt wurde, war Anjas zweiter Ehemann. Er war ein ganz besonderer Mann gewesen, geschäftlich ein Genie und der Dreh- und Angelpunkt der Familie. Charismatisch, zuverlässig und stark, ein Fels in der Brandung. Er hatte Nicky sehr geprägt.
Zumindest geht es mir beruflich gut, dachte Nicky. Er und sein Bruder hatten mehr zu tun denn je, und ihre Firma für Set-, Produktions- und Bühnenbilddesign, mit Sitz in Paris und London, florierte.
Außerdem genoss er dieses Studienjahr ganz besonders. Er unterrichtete zwei Mal die Woche an Anjas Schule Bühnenbild und Dekoration, und er hatte dieses Mal einige wirklich hervorragende Schüler in seinen Kursen. Ihre Arbeiten gaben Anlass zu den größten Hoffnungen. Auch Larry, der ihn in der Schule vertrat, wenn er wegen eines Films unterwegs war, war voll des Lobes über sie. Es gefiel Nicky, viel versprechende junge Leute zu unterrichten und ihnen zu zeigen, wie sie sich weiterentwickeln konnten.
Jetzt war er an dem großen Holztor angelangt, das auf den Hof der Schule führte. Er trat durch die kleine Tür für Fußgänger. In Gedanken war er bei den Entwürfen für Anjas Geburtstagsfest. Er wollte sie ihr später zeigen und hoffte, dass sie ihr gefallen würden.
Der altmodische Lift brachte ihn zu seinem Büro im vierten Stock. Es lag in dem Gebäude, in dem die Schule in den zwanziger Jahren gegründet worden war, bevor dann in den vierziger Jahren die angrenzenden Häuser dazugekauft worden waren.
Als er aus dem Aufzug trat und den Flur entlangging, dachte er über die Geschichte der Schule nach. Sie feierten dieses Jahr fünfundsiebzigjähriges Jubiläum.
Wenn Wände reden könnten!, dachte er. In seinem Büro stellte er den Schirm in den Schrank und setzte sich an seinen großen Schreibtisch, um noch einmal einen Blick auf die Skizzen zu werfen, doch schon nach kurzer Zeit schweiften seine Gedanken ab. Wieder ging ihm durch den Kopf, was Anja Sedgwick aus der Schule gemacht hatte.
Ursprünglich war es eine kleine, bescheidene Kunstschule gewesen, die Catherine Lacoste, Anjas Schwiegermutter, geleitet hatte.
Die junge Witwe des bekannten französischen Bildhauers Laurent Lacoste, der die Schule 1926 gegründet hatte, hatte sie nach Laurents Tod Anfang der dreißiger Jahre weitergeführt.
Die Schule war zwar klein, hatte jedoch wegen der ausgezeichneten Lehrer, meistens selber Künstler, die sich etwas dazuverdienen mussten, einen guten Ruf.
Unglaublicherweise war es Catherine sogar während der Kriegsjahre und der deutschen Besatzung in Paris gelungen, die Schule weiterzuführen, und nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebte sie eine neue Blütezeit. 1948 jedoch konnte Catherine ihren Beruf nicht mehr ausüben, weil ihre Arthritis immer schlimmer wurde und sie sich kaum noch bewegen konnte. Schließlich bat sie ihre junge Schwiegertochter darum, die Leitung der Schule zu übernehmen. Da Anja sich der Unterstützung ihrer Schwiegermutter sicher sein konnte, stimmte sie ohne Zögern zu.
Anja und Catherine hatten sich schon immer ungewöhnlich nahegestanden. Sie waren sich auf Anhieb sympathisch gewesen, als Michel sie 1936 seiner Mutter vorgestellt hatte. An jenem Tag hatte Anja ihren zwanzigsten Geburtstag gefeiert, und wie sie Nicky einmal erzählt hatte, hatten sie im Garten gesessen, Champagner getrunken und wie Schulmädchen gekichert. Catherine war sofort klar gewesen, dass ihr Sohn Anja eines Tages heiraten würde.
Im Krieg war Michel Lacoste als Journalist in London stationiert, wo er zur Umgebung von Charles de Gaulle gehörte.
1941 heirateten Anja und Michel. Die Hochzeit fand im Haus der Kossikowskijs in Chelsea statt. Anja war fünfundzwanzig und Michel einunddreißig.
1946 verließen Michel und Anja mit ihren beiden Kindern, der dreijährigen Olga und dem zweijährigen Dimitri, London wieder und kehrten zurück nach Paris.
Das Leben in dieser Zeit war nicht einfach. Lebensmittel und Wohnraum waren knapp, und deshalb zogen Michel und Anja zu seiner Mutter. Catherine war begeistert und nahm sie herzlich auf. Die Kriegsjahre waren für sie schwer und einsam gewesen, und sie war selig, dass endlich wieder Leben ins Haus kam.
Das Fachwerkhaus, in dem Anja noch immer lebte, war geräumig und groß genug für sie alle, und die Kinder konnten zu jeder Jahreszeit im Garten spielen.
Auf Catherines Bitte hin begann Anja, Kurse in der Schule abzuhalten, wobei sie entdeckte, dass sie eine natürliche Begabung fürs Unterrichten besaß. Und als dann Catherine sie zwei Jahre später fragte, ob sie die Leitung der Schule übernehmen wolle, war Anja sich sicher, dass sie der Aufgabe gewachsen war.
Anja war organisatorisch begabt und geschäftstüchtig, und bald begann die Schule zu florieren. Wie schon Catherine vor ihr sorgte sie dafür, dass Künstler zum Lehrkörper gehörten, Leute, die ihren Unterhalt verdienen mussten und gleichzeitig in der kreativen Atmosphäre der Schule ihre eigene Entwicklung im Auge behalten konnten. Aber was noch viel wichtiger war, Anja hatte eine Vision. Sie hatte Ideen, wie man den Unterricht interessanter gestalten und das Angebot erweitern konnte, vor allem im Bereich der dekorativen Künste.
Aus Respekt vor ihrer Schwiegermutter jedoch ging Anja erst 1951, nach Catherines Tod, daran, die Schule strukturell zu verändern. Sie führte neue Kurse ein, in denen Mode und Textildesign, Theaterentwürfe und Bühnenbild gelehrt wurde. Malerei und Skulptur blieben zwar unverändert die Hauptfächer, aber nach und nach schrieben sich immer mehr Studenten auch für die neuen Kurse ein.
Anjas Neuerungen kamen gut an, und sie und ihr Mann waren überrascht, wie beliebt die neuen Fächer wurden. Sie hatten so viele Schüler, dass sie das angrenzende Gebäude erwerben mussten, und ein Jahr darauf sogar noch ein weiteres.
Und dann geschah 1955 die Tragödie.
Michel starb plötzlich und unerwartet an einem Herzinfarkt. Er war erst fünfundvierzig Jahre alt. Er und Anja waren vierzehn glückliche Jahre lang verheiratet gewesen, und sie brach unter dem entsetzlichen Schock beinahe zusammen.
Trotz ihrer Trauer um Michel jedoch führte sie die Schule weiter. Die Arbeit half ihr dabei, die traurige Zeit nach seinem Tod zu überstehen. Als Nicky sie einmal fragte, wie sie das geschafft habe, antwortete sie: »Ich habe einfach weitergemacht. Mein Herz war gebrochen, aber ich wusste, ich konnte nicht einfach aufgeben. Ich war ja verantwortlich für die Schule, und so viele Menschen, vor allem die Lehrer, hingen von mir ab. Außerdem hatte ich zwei Kinder ... und ich musste Geld verdienen. Also machte ich einfach weiter, zumal ich auch das Gefühl hatte, es Catherine schuldig zu sein.«
Zwei Jahre nach Michels Tod lernte Anja Hugh Sedgwick kennen, einen englischen Geschäftsmann, der in Paris lebte und arbeitete. Er war verwitwet und hatte keine Kinder. Gemeinsame Freunde machten sie miteinander bekannt, weil sie fanden, dass die beiden gut zusammenpassten. Hugo kam aus einer Theaterfamilie; sein Bruder Martin und seine Schwester Clarice waren Schauspieler und auch Hugo malte ein wenig in seiner Freizeit. Es sah so aus, als hätten er und Anja viel gemeinsam.
Sie aßen ein paar Mal miteinander zu Abend, aber dann verloren sie den Kontakt. Anja hatte viel zu viel mit ihren Kindern und der Schule zu tun, um sich auch noch mit einer Beziehung auseinanderzusetzen, und außerdem, wie sie später einmal sagte, war die Zeit noch nicht reif für sie.
Ein Jahr später begegneten sie sich zufällig bei einer Ausstellung, stellten fest, wie sehr sie sich beide darüber freuten, und begannen, einander wieder häufiger zu sehen. Danach wurden sie rasch ein Paar, und 1960 heirateten sie in Paris.
Hugo war ein ungewöhnlich umsichtiger Geschäftsmann, und er willigte sofort ein, als Anja ihn im ersten Jahr ihrer Ehe darum bat, sich um die Finanzen der Schule zu kümmern. Innerhalb eines Jahres hatte er aus der Institution ein hoch profitables Unternehmen gemacht.
Der Ruf der Schule wurde immer besser, und der Zulauf der Studenten, vor allem aus dem Ausland, war groß. Viele Absolventen waren später sehr erfolgreich, was das Renommee der Schule noch steigerte.
Mitte der sechziger Jahre wurde sie in Anja Sedgwick School of Decorative Arts umbenannt. Ein paar Jahre später kamen noch die Begriffe Design und Couture dazu. Die Schule wurde immer größer, brachte immer mehr Berühmtheiten hervor, und Anjas Ruhm wuchs. Sie war eine lebende Legende geworden.
Nicky zuckte zusammen, als das Telefon klingelte. Er war so in Gedanken versunken gewesen, dass er einen Moment brauchte, bis er den Hörer abnehmen konnte.
»Nicholas Sedgwick.«
»Ich bin es, Anja.«
»Hallo! Ich habe gerade an dich gedacht, oder vielmehr an die Schule.«
»Und was hast du gedacht?«
»Um ehrlich zu sein, ich habe mich gefragt, ob du dieses Jahr auch noch einen Empfang geben willst. Schließlich feiert die Schule im November ihr fünfundsiebzigjähriges Bestehen.«
Sie begann zu lachen. »Findest du nicht, dass eine große Feier erst mal genug ist?«
Lachend erwiderte er: »Das eine hat doch nichts mit dem anderen zu tun. Nur ein ganz kleiner Empfang, Anja.«
»Ich weiß nicht, Nicky. Ich werde darüber nachdenken.«
»Ja, tu das. Wir können ja später noch einmal darüber reden. Wann soll ich denn zu dir ins Büro kommen, um dir die Skizzen für dein Fest zu zeigen?«
»Ich will sie gar nicht sehen, Nicky, deshalb rufe ich auch an. Ehrlich gesagt, ich möchte lieber überrascht werden ... in jeder Hinsicht. Ich überlasse alle Entscheidungen dir.«
»Aber ...«
»Nein, nein«, unterbrach sie ihn. »Ich vertraue dir voll und ganz, mein lieber Junge.«
»Das ist sehr schmeichelhaft, aber ich glaube, mir wäre es wohler, wenn du sie dir ansiehst«, wandte er ein.
»Ich möchte mich überraschen lassen. Weißt du, es gibt ja nicht mehr so viele Überraschungen für mich. Ich weiß, dass mir alles großartig gefallen wird.«
»Das hoffe ich«, murmelte er. Dann fügte er hinzu: »Ich würde dich aber trotzdem gerne sehen.«
»Du kannst mich ja zum Tee einladen. Das wäre doch nett, Nicky. Wir könnten ein wenig plaudern – das haben wir lange nicht mehr gemacht.«
»Mit Vergnügen! Wann soll ich dich abholen?«
»Ich bin nicht in der Schule. Wir treffen uns am besten im Hotel Meurice; seit der Renovierung ist es sehr schön dort. Warst du in der letzten Zeit mal da?«
»Nein.«
»Dann treffen wir uns dort. Um vier Uhr, und, oh, Nicky, der Haupteingang ist jetzt an der Rue de Rivoli.«
»Alles klar, also dann, Punkt vier.«