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Die Frau war so auffallend schön, dass ihr alle Blicke folgten.

Sie war groß, ungefähr einsfünfundsiebzig, gut gebaut, jedoch nicht zu füllig, und sie bewegte sich mit königlicher Grazie.

Vor allem ihr Gesicht zog alle Blicke auf sich. Mit den perfekt geschwungenen Augenbrauen über großen, weit auseinander stehenden dunklen Augen, einem vollen, sinnlichen Mund und gerahmt von schulterlangen pechschwarzen Haaren war es atemberaubend schön.

Die Kleidung der Frau war einfach, jedoch elegant. Sie trug einen schwarzen Hosenanzug aus leichter Wolle, ein weißes Männerhemd aus Seide und hochhackige schwarze Sandaletten. Über ihrer Schulter hing eine schwarze Ledertasche, und in einer Hand trug sie eine Sonnenbrille.

Ihr Schmuck betonte ihre schlichte Eleganz noch. Uhr und Goldarmband waren genauso unauffällig wie ihre kleinen Diamantenstecker.

Langsam schlenderte sie durch die stillen Hallen des Louvre und blieb ab und zu vor einem Gemälde stehen, um es zu betrachten. Sie hatte keine Eile, zu dem Bild zu gelangen, das sie sich eigentlich anschauen wollte. Ihr blieb noch viel Zeit bis zu ihrer Verabredung im Hotel Ritz an der Place Vendôme, nicht weit vom Museum entfernt.

Die Frau bemerkte, dass ihr viele Blicke folgten. Insgeheim staunte sie darüber. Vor drei Monaten hätte sie es noch nicht für möglich gehalten, dass sie einmal solches Aufsehen erregen würde.

Aber Maria Franconi hatte sich so radikal verändert, dass sogar ihr Bruder Fabrizio es nur als unglaublich und fast schon wundersam bezeichnen konnte. Allerdings war das Wunder nicht von selbst eingetreten, sondern mit harter Arbeit, strenger Disziplin und vielen Opfern erreicht worden. Maria hatte nur ein Ziel vor Augen gehabt: in kürzester Zeit so schlank wie möglich zu werden.

In nicht ganz drei Monaten hatte sie mit Hilfe eines Arztes, eines Ernährungsspezialisten, eines persönlichen Fitnesstrainers und ihres Bruders achtundvierzig Pfund abgenommen.

Abgesehen davon, dass sie jeden Tag trainiert hatte, hatte sie eine strenge Diät eingehalten, auf Fett, Zucker und Kohlehydrate verzichtet. Alkohol, sogar Wein, war ebenso tabu wie Schokolade, Süßigkeiten und die meisten Desserts.

Sie hatte zwar ständig Hunger, aber der rasch sichtbare Erfolg spornte sie an. Fast den ganzen Februar, März und April über motivierte sie sich mit der Aussicht auf Anjas Fest, dieser Gedanke und ihre Willenskraft ließen sie durchhalten. Manchmal war sie über sich selber überrascht.

Im Laufe der Diät veränderte sich ihr Gesicht. Sie hatte immer gut ausgesehen, aber jetzt wurde sie auf einmal dramatisch schön. Sie hatte kein Gramm Fett mehr im Gesicht, und ihre hohen Wangenknochen traten deutlich hervor. Auch ihr Hals wurde schmaler und wirkte dadurch länger und eleganter.

Bald stellte Maria fest, dass sie hauptsächlich am Oberkörper Gewicht verlor. Ihre Schultern, Arme und ihr Rücken wurden mit jedem Tag schlanker und geschmeidiger, und auch ihre Brüste waren nicht mehr so groß. Enttäuschend fand sie jedoch, dass die Gewichtsabnahme an ihren Hüften wesentlich langsamer voranging. Ihr Trainer versicherte ihr jedoch, dass sie auch dort irgendwann abnehmen würde, wahrscheinlich jedoch erst zu einem Zeitpunkt, wenn sie überhaupt nicht mehr damit rechnete. Sie musste nur weiterhin strikt Diät halten. Und das tat sie auch. Eitelkeit war ein großartiger Antrieb. Maria Franconi begann, sich selbst zu mögen, sie wurde geradezu süchtig danach, schön zu sein.

Bei ihrem Ernährungsberater lernte sie alles über gesunde Ernährung, damit sie auch in Zukunft schlank bliebe. Es gab keine gemütlichen Abendessen mehr mit ihrem Bruder oder mit Freunden. Im wahrsten Sinne des Wortes verriegelte sie die Türen ihrer Küche und traf sich mit ihren Freunden im Restaurant, wo sie nur wenig aß und keinen Wein trank.

Rechtzeitig vor ihrer Abreise nach Paris ging Maria zu einer bekannten Schneiderin, die ihr Bruder Sergio ihr empfohlen hatte. Viele seiner Freundinnen waren Kundinnen von ihr. Die Schneiderin verstand ihre Probleme sofort und nähte ihr anschließend einige gut sitzende Hosenanzüge und Kostüme und ein paar schlichte, elegante Kleider.

Die Sachen hoben ihre Vorzüge hervor und kaschierten andere Körperteile geschickt. Das Geheimnis bestand in längeren Jacketts, die kurz vor dem Oberschenkel endeten, schmalen Hosen und engen Röcken.

Dadurch wirkte ihr Unterkörper schlanker, und ihre ganze Silhouette streckte sich. Den gleichen Effekt hatten die dunklen Farben, die sie aussuchte, hauptsächlich Schwarz und verschiedene Grautöne, die zudem gut zu ihren dunklen Haaren und ihrem olivfarbenen Teint passten. In kürzester Zeit war aus ihr eine elegante Frau geworden, nach der sich alle umschauten. Sie war dankbar dafür. Ihre Mühen hatten sich ausgezahlt.

Auch in Paris hielt sich Maria an ihre Diät. Sie wusste, dass sie für den Rest ihres Lebens sehr diszipliniert würde essen müssen, wenn sie schlank bleiben wollte. Selbst das verführerische französische Essen änderte nichts an ihrer Einstellung.

Außerdem ging sie jeden Tag in das Spa ihres Hotels, schwamm, trainierte und ging auf den Stepper.

Fabrizio hatte Maria in den vergangenen Monaten sehr unterstützt, war aber dagegen gewesen, dass sie den Juni in Paris verbrachte, was sie ursprünglich vorgehabt hatte.

Die gesamte Familie Franconi fuhr Anfang Juni immer in ihre prächtige Villa auf Capri, um dort den Sommer zu verbringen. Fabrizio hatte darauf bestanden, dass auch sie mitfuhr, und nach endlosen hitzigen Debatten hatte sie schließlich nachgegeben.

Einige Wochen wollte sie jedoch unbedingt in Paris verbringen, und so war sie schon am dritten Mai angereist und plante, bis zum fünften Juni zu bleiben.

Seit ihrer Ankunft war Maria pausenlos beschäftigt gewesen. Sie hatte schon mehrere Male ihre geliebte Anja besucht, hatte bei ihr zu Hause zu Mittag gegessen und sie zum Abendessen ins Chez Benoît ausgeführt. Sie war einkaufen gewesen, hatte Kunstgalerien besucht und war nach Versailles gefahren, einem ihrer Lieblingsschlösser.

Und sie hatte jede Minute ihrer Freiheit, weit weg von ihrer Arbeit und ihrer dominanten Familie, genossen.

Ich bin ihnen entkommen, dachte sie, während sie langsam auf das Gemälde zutrat, weswegen sie in den Louvre gegangen war. Wenn ich nur nicht zurückfahren müsste ... wenn ich nur für immer in Paris bleiben könnte. Schnell verdrängte sie den Gedanken. Sie wollte jetzt nicht an unerfreuliche Dinge denken.

Das Gemälde war unvergleichlich.

Lange stand Maria davor und betrachtete es wie in Trance. Es hatte immer die gleiche Wirkung auf sie ... hielt sie wie in einem Zauber gefangen.

Die Mona Lisa.

Vor Hunderten von Jahren von Leonardo da Vinci gemalt, dem größten Künstler, der jemals auf diesem Planeten gelebt hatte, vielleicht mit Ausnahme von Michelangelo.

So etwas malen zu können war das größte Geschenk der Welt, dachte sie und betrachtete die weißen Züge der Frau auf der Leinwand. Das Gesicht sprach förmlich zu einem.

Leonardo da Vinci war ein Genie gewesen, er war ein unglaublich vielseitig begabter Mensch. Schon bevor sie auf Anjas Schule gekommen war, hatte sie viel über ihn gewusst. Da er wie sie aus Mailand stammte, war ihr natürlich die Kirche Santa Maria delle Grazie ein Begriff, in deren Refektorium Leonardo Das letzte Abendmahl gemalt hatte.

Aber Anja Sedgwick hatte Maria in ihrem Kurs für klassische Malerei – in der Meisterklasse – noch viel mehr über da Vinci beigebracht. Maria hörte nie auf, über seine außergewöhnlichen Leistungen auf anderen Gebieten zu staunen. Er war Architekt, Maler und Bildhauer gewesen, ein Fachmann für Waffen, Hydraulik, Optik, Anatomie und Mechanik.

Was er doch für ein erstaunlicher Mann war, dachte Maria. Wenn ich nur so malen könnte. Sie seufzte leise und trat noch ein wenig näher an das Bild heran, um es genauer zu betrachten.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Frau, die in ihre Richtung kam. Ihr Herz sank. Sie warf rasch noch einen letzten Blick auf das Bild und eilte in die entgegengesetzte Richtung.

Von seinem Stuhl aus im L’Espadon hatte er die Tür im Blick, und er sah sie sofort, als sie hereinkam. Er schob seinen Stuhl zurück und stand auf. Breit lächelnd hieß er sie willkommen.

Als sie vor ihm stand, fasste er sie am Arm, küsste sie auf die Wange und betrachtete sie dann aufmerksam.

Lächelnd glitt Maria auf ihren Stuhl. »Es tut mir Leid, ich bin ein bisschen zu spät.«

Er setzte sich ihr gegenüber und schüttelte den Kopf. »Nein, überhaupt nicht, und selbst wenn, dein Anblick war das Warten wert. Du siehst wundervoll aus, Maria.«

»Danke«, murmelte sie.

»Ich habe Grapefruit-Saft für dich bestellt«, fuhr er fort. »Ich hoffe, das ist in Ordnung.«

»Ja, genau richtig, danke.«

Er hob sein Weinglas und sagte: »Santé.«

»Santé«, erwiderte sie und stieß mit ihm an.

»Und, was hast du heute früh gemacht?«

»Ich war im Louvre, vor allem wegen der Mona Lisa. Das Bild fasziniert mich immer wieder.«

So wie du mich faszinierst, dachte er. Laut jedoch sagte er: »Leonardo war ein Genie. Als Maler sowieso, aber er war auch noch unglaublich intelligent.«

Der Maître de service kam mit den Speisekarten, und sie studierten sie einen Moment lang. Er wusste schon, was er bestellen würde, und Maria würde sich ihm wahrscheinlich anschließen. Da er für gewöhnlich eine strenge Diät einhielt, schienen sie immer die gleichen Gerichte zu wählen. Als sie sich vor ein paar Tagen zum Abendessen getroffen hatten, hatte sie ihm von ihrer Diät und ihrem anstrengenden Trainingsprogramm erzählt, und er hatte ihr aufmerksam zugehört, beeindruckt von ihrer Aufrichtigkeit.

Sie hatten sich seit ihrer Ankunft in Paris schon häufig gesehen, was ganz nach seinem Geschmack war. Er fühlte sich mit ihr so wohl wie schon lange mit keiner Frau mehr. Aber er war sich auch klar darüber, dass er vorsichtig vorgehen musste.

»Du starrst mich an.«

»Entschuldigung«, sagte er, »ich kann nichts dagegen tun. Dein Gesicht ist ... so wunderschön. Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.«

Lachend schüttelte Maria den Kopf. »Ich finde, das trifft eher auf die Mona Lisa zu ... das ist wirklich ein schönes Gesicht.«

»Ja, das stimmt, aber du solltest auch von einem großen Künstler, einem da Vinci unserer Zeit, gemalt werden.«

Der Kellner trat an ihren Tisch, bevor sie antworten konnte. Sie bestellten Austern und gedämpften Steinbutt.

Als sie wieder allein waren, sagte Maria: »Ich habe heute früh Alexandra Gordon im Louvre gesehen.«

Er kniff die Augen zusammen und warf ihr einen forschenden Blick zu. »Wie geht es ihr? Sie hat sich sicher gefreut, dich zu sehen.«

Maria seufzte. »Ich habe nicht mit ihr gesprochen. Ich wurde auf einmal völlig nervös und bin weggelaufen, bevor sie mich sehen konnte. Zumindest glaube ich, dass sie mich nicht gesehen hat.« Kopfschüttelnd fügte sie hinzu: »Vielleicht war es ja albern. Nach sieben Jahren sollte ich mich doch mit ihr und den anderen treffen können.«

»War euer Streit denn so böse?«, fragte er neugierig.

»Damals kam es uns allen so vor, aber mittlerweile kommt es mir eher kindisch vor ...« Sie schwieg.

Da er merkte, dass sie nicht darüber sprechen wollte, wechselte er das Thema. »Dir gefällt es gut in Paris, nicht wahr, Maria?«

»Ja. Dank dir – du warst einfach wundervoll zu mir. Ich habe mich vor allem auf Paris gefreut, weil ich hier endlich einmal allein, ohne meine Familie sein konnte. Aber wahrscheinlich wäre ich doch ganz schön einsam, wenn du nicht so viel Zeit für mich hättest.«

»Dann hätte dich Anja unter ihre Fittiche genommen.«

»Mir gefällt es aber unter deinen Fittichen, du ...« Verlegen brach sie ab.

Er bemerkte, dass sie errötete, und sagte leise: »Das braucht dir doch nicht peinlich zu sein.« Er griff nach ihrer Hand und drückte sie. Dann räusperte er sich ein paar Mal und sagte: »Ich bin völlig von dir verzaubert, Maria. Und ich habe gehofft, dass es dir ähnlich geht.«

»Das tut es. Oh, Nicky ...«

Er verstärkte den Druck seiner Hand. »Ich bin froh, dass es keine einseitige Geschichte ist.«

Glücklich strahlte sie ihn mit ihren dunklen Augen an.

Händchen haltend saßen sie am Tisch und blickten einander tief in die Augen, bis die Austern serviert wurden.

Er ließ ihre Hand los und konzentrierte sich auf seine Vorspeise. Was geschah mit ihm? Er war achtunddreißig, ein erfahrener, weltläufiger Mann, und jetzt fühlte er sich wie ein Schuljunge. Ich bin übergeschnappt, dachte er. Aber eigentlich wusste er ganz genau, was mit ihm geschehen war, und er freute sich darüber.

Nach einer Weile beugte sich Maria leicht über den Tisch. »Als ich vor einer Woche nach Paris kam, hatte ich eigentlich vor, für ein paar Tage mit dem Zug nach London zu fahren, um Riccardo zu besuchen. Ich habe dir ja erzählt, dass er dort arbeitet. Aber jetzt will ich es nicht mehr, Nicky.«

»Wegen mir?«, fragte er zögernd.

»Ja.« Sie blickte ihn unverwandt an.

Nicky sah Verlangen in ihrem Blick, und sein Brustkorb wurde eng. Langsam, mahnte er sich. Du musst diese Sache ganz langsam angehen. Verschreck sie nicht. Er wollte sie besitzen, wollte mit ihr schlafen, aber er wusste, dass er den richtigen Zeitpunkt abwarten musste.