Sie saßen zusammen im Garten unter dem alten Kirschbaum, die alte Frau und ihr junger Gast. Die angesehene Lehrerin und ihre ehemalige Lieblingsschülerin. Anja und Alexandra.
Wie aus einem Holz, sagte Nicky Sedgwick von ihnen, weil sie sich so ähnlich waren. Zwei Frauen unterschiedlicher Herkunft, die man doch für blutsverwandt hätte halten können. Aber die meisten Leute dachten ja auch, er sei mit Anja verwandt und nicht nur ihr angeheirateter Neffe.
Das war allerdings verständlich; immerhin hatte sie vom Tag seiner Geburt an großen Einfluss auf ihn gehabt. Er war ebenso ihr Geschöpf wie Alexandra.
Nicky stand im Haus und blickte durch das Fenster auf die beiden Frauen. Sie tranken ihren Kaffee nach dem Mittagessen und unterhielten sich lebhaft. Sie fühlen sich so wohl miteinander, dachte er. Alexa wirkt wie eine junge Frau, die sich ihrer Großmutter anvertraut.
Seine frühere Assistentin sah so reizend aus wie eh und je, stellte er fest, auch wenn sie ihre dunklen Haare jetzt kürzer trug. Aber es sah chic aus, und sie betonte es auch noch geschickt durch ihr graues Nadelstreifenkostüm mit dem kurzen Rock. Tolle Beine, dachte er. Ihm gefielen die kurzen Haare auch, weil sie ihren langen Hals und die hübschen Ohren frei ließen. Sie trug goldene Ohrringe und eine Goldkette um den Hals. Alexa hatte immer schon Stil gehabt.
Neben Alexandra Gordon wirkte Anja wie die Personifizierung der Grande Dame. Ihre Haltung war königlich, und sie sah blendend aus mit ihren sorgfältig frisierten blonden Haaren und ihrem perfekten Make-up. Anja trug ihre Arbeitsuniform, wie sie es immer nannte: graue Flanellhose, weiße Seidenbluse und marineblauen Blazer. Damit wirkt sie immer so englisch, dachte Nicky, aber schließlich ist sie das ja auch in vielen Dingen, auch wenn sie seit sechzig Jahren in Frankreich lebt. Ihr Englisch klang nach Oberschicht; wenn sie Französisch redete, konnte man sie ohne weiteres für eine Pariserin halten, und Russisch sprach sie natürlich auch fließend. Das war ein besonderes Talent.
Nun trat Nicky in den Garten und rief: »Guten Tag, meine Damen!«
Die beiden unterbrachen ihr Gespräch und blickten auf. Als Alexandra ihn erkannte, sprang sie auf und fiel ihm um den Hals. Sie umarmten sich, dann hielt er sie auf Armlänge von sich entfernt. »Na, du siehst ja toll aus, mein Mädchen!«, sagte er mit seinem besten Cockney-Akzent.
Alexa lachte. Er hatte sich gerade genau wie Jack angehört.
»Tut mir Leid, Alexa, ich bin ein wenig zu früh. Ich wollte eure Unterhaltung nicht stören«, entschuldigte er sich.
»Das ist schon in Ordnung, mein Lieber, nicht wahr, Alexa?«, erklärte Anja.
»Ja, natürlich, obwohl ich dir noch stundenlang zuhören könnte«, erwiderte Alexa und setzte sich wieder.
Anja lächelte. »Hören wir stattdessen Nicky zu. Setz dich doch, Nicholas, mein Lieber. Ich kann es nicht ertragen, wenn du da stehst wie ein nervöser Kellner in einem halb leeren Bistro.«
Lachend trat Nicky zu einem der schmiedeeisernen Stühle und setzte sich hin.
Liebevoll streichelte er Alexandras Arm. An die junge Frau gewandt, erklärte Anja: »Ich habe Nicky letzte Woche um einen Gefallen gebeten, der etwas mit dir zu tun hat, Alexa. Aber ich übernehme die volle Verantwortung. Du musst wissen, dass es nicht Nickys Idee war, sondern meine. Er ist jetzt hier, um mir zu berichten.«
Alexa blickte verwirrt von einem zum anderen, erwiderte aber nichts.
»Vor ein paar Wochen hatte Anja das Gefühl, du wolltest vielleicht nicht zu ihrem Fest kommen wegen Tom Conners«, begann Nicky. »Sie dachte, du fühlst dich seit eurer Trennung in Paris nicht mehr so wohl. Also schlug sie vor, ich solle ein paar Erkundigungen über Tom einholen.«
»Ich verstehe«, murmelte Alexa. Ihre Stimme klang neutral, aber sie spürte, wie sie sich anspannte.
»Aber ich habe die Idee wieder verworfen«, erklärte Anja, »weil ich das Gefühl hatte, es sei nicht recht, wenn Nicky in Toms Leben herumstocherte.«
»Also unternahm ich nichts«, fuhr Nicky fort. »Bis letzte Woche, als Anja wieder einmal ihre Meinung änderte.«
»Er ist noch in Paris, das weiß ich«, verkündete Alexa.
Überrascht blickten die beiden sie an.
»Als deine Einladung kam, habe ich in seinem Büro angerufen – er hat selbst abgehoben, und ich hab den Mut verloren und schnell wieder aufgelegt.«
»Also hast du ihn immer noch nicht vergessen«, murmelte Anja. »Das hatte ich mir gedacht.«
»Ja. Weißt du, Anja, ich möchte dieses Kapitel endlich abschließen, damit ich ein normales Leben führen kann.«
»Braves Mädchen!«, rief Anja aus und strahlte sie an. »Nun, dann haben wir dir vermutlich Arbeit abgenommen. Oder besser Nicky.«
Alexa nickte. Sie wartete ungeduldig auf das, was er zu berichten hatte.
»Ich habe mit einigen Leuten geredet, von denen ich wusste, dass sie ihn kennen«, begann Nicky. »Im Großen und Ganzen hat sich in Toms Leben nichts geändert, Alexa. Er ist nicht verheiratet, und soweit ich es beurteilen kann, gibt es auch keine Frau in seinem Leben. Ich höre allerdings, dass ihn die Frauen umschwärmen, aber das ist ja nichts Neues. Er ist begehrt, erfolgreich und Junggeselle. Er arbeitet immer noch in der gleichen Anwaltskanzlei, aber das wusstest du ja bereits. Es sieht so aus, als sei alles beim Alten.« Nicky lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und warf Anja einen Blick zu.
»Mehr hast du nicht herausgefunden?«, fragte Anja stirnrunzelnd.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Tom wohnt sogar noch in derselben Wohnung. Aber ich kenne einen Typen bei Clee Donovan’s Fotoagentur, der ein alter Kumpel von Tom ist, und ...«
»Das ist bestimmt Charles Dugdale«, warf Alexa rasch ein. »Sie sind gute Freunde.«
»Ja, genau.« Nicky lächelte ihr zu und fuhr fort: »Charlie hat mir erzählt, dass Tom kürzlich Geld geerbt und ein Haus in der Provence gekauft hat. Einen Bauernhof oder ein Landhaus – ich weiß es nicht genau.«
Anjas Gesicht hellte sich auf. »Oh, tatsächlich? Wie interessant! Ob er wohl bei mir in der Nähe wohnt?«
Nicky brach in Lachen aus. »Anja, du bist unverbesserlich! Immer auf der Suche nach Leuten, die du zum Essen einladen kannst, was? Immer willst du interessante Gesellschaft!«
»Warum denn nicht? Interessante Menschen sind doch viel angenehmer als Langweiler.«
Nicky lächelte sie liebevoll an. »Dann freut es dich sicher zu erfahren, dass Toms Haus ganz in der Nähe von deinem ist. Es liegt etwas außerhalb von Aix-en-Provence.«
»Reizend«, erwiderte Anja. Ihre Augen funkelten vor Vergnügen.
»Soll das heißen, dass Tom aus Paris weggeht und die Kanzlei verlässt?«, fragte Alexa.
»Ich weiß nicht«, erwiderte Nicky. »Charlie war sich auch nicht so sicher. Das ist alles, was ich herausgefunden habe, Alexa, abgesehen davon, dass es ihm gut geht und dass er, laut meiner Freundin Angélique, immer noch so gut aussieht wie eh und je.« Er grinste sie an. »Eine große Ausgabe des anderen Tom.«
Stirnrunzelnd warf Anja ein: »Des anderen Tom? Wen meinst du damit, Nicky?«
»Cruise. Tom Cruise.«
»Oh, Nicky, du bist wirklich eine Pest«, schimpfte Anja. »Manchmal weiß ich wirklich nicht, wovon du eigentlich redest. Immer diese Anspielungen auf die Filmwelt.« Sie ergriff Alexas Hand und fuhr sanfter fort: »Nun, Liebling, jetzt weißt du, wo es langgeht. Warum rufst du Tom dieses Wochenende nicht einfach mal an? Wenn der Anrufbeantworter läuft, hinterlass aber bitte eine Nachricht, sonst kommen wir ja überhaupt nicht weiter.«
Alexa lachte. Sie fühlte sich auf einmal ganz leicht. »Danke für deine Nachforschungen, Nicky. Ich bin dir was schuldig. Wann reden wir eigentlich über den Film? Heute noch?«
»Leider nicht«, erwiderte Nicky mit einem Blick auf seine Armbanduhr. »Tut mir Leid, Alexa, aber ich muss gehen. Ich hoffe, du verzeihst mir, Anja, dass ich hier einfach so hereingeschneit bin und gleich wieder abhaue, aber ich muss mich umziehen. Ich habe eine Verabredung heute Abend.« Er stand auf und küsste seine Tante auf die Wange. »Ich gehe mit Maria essen, das freut dich sicher.«
»Das freut mich sogar sehr! Sie ist eine reizende junge Frau«, erwiderte Anja und tätschelte ihm die Schulter.
Er trat um den Tisch herum und küsste auch Alexandra zum Abschied. »Wenn du morgen Zeit hast, können wir miteinander zu Mittag essen«, sagte er.
»Ja, wo sollen wir uns treffen?«
»Ich lade dich ins Relais im Plaza-Athénée ein. Um eins. Okay?«
»Ich bin da«, antwortete Alexa.
Anja erhob sich, hakte ihn unter und brachte ihn zur Tür. »Ich bin dir wirklich sehr dankbar, Nicky, dass du dir so viel Mühe gemacht hast wegen Tom.«
»Alexa wahrscheinlich auch«, murmelte er. »Sie sah richtig erleichtert aus, als sie erfuhr, dass er nie geheiratet hat, fandest du nicht?«
»Möglich«, erwiderte Anja. Sie war sich nicht ganz sicher. In ihren langen Jahren als Lehrerin hatte sie eins gelernt: Junge Frauen konnten sehr kompliziert sein.