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Wieso war sie nur so lange nicht in diese Stadt gekommen?, fragte sich Kay, während sie die Champs-Élysées entlangging. Obwohl es nur eine Flugstunde von London und nicht viel weiter von Edinburgh entfernt war, »hüpfte« sie nie einfach herüber, wie es so viele Leute taten. Ian reiste nicht gerne, und sie wollte die Wochenenden mit ihm verbringen.

Aber immerhin war Paris in jeder Hinsicht eine Modestadt, und sie war in der Modebranche, deshalb hätte sie eigentlich viel öfter hierherkommen müssen. Es gab so viel zu sehen und zu lernen, schalt Kay sich im Stillen aus.

Sie musste an die glücklichen Jahre auf Anjas Schule denken. Auch wegen Anja hätte sie häufiger hierherkommen sollen, schließlich war sie ihre Mentorin und aufrichtige Freundin gewesen.

»Immer kommt etwas dazwischen«, murmelte sie vor sich hin, »aber das ist keine Entschuldigung.« Wie oft hatte sie schon die Absicht gehabt, sich Anja anzuvertrauen, sie um Rat zu fragen, und nie hatte sie es getan. Das erstaunte sie selbst. Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um ihr Verhalten zu analysieren. Energisch verdrängte sie ihre Gedanken. Es gab andere Probleme zu lösen.

Kay holte tief Luft und blickte sich um. Paris war die schönste Stadt auf der Welt, und heute früh war es ganz besonders schön. Am blauen Himmel trieben weiße Schäfchenwolken, und die Sonne strahlte auf die alten Gebäude. Viele von ihnen waren für die Jahrhundertfeier gereinigt worden, und die Fassaden schimmerten im hellen Licht.

Kays Blick fiel auf den Arc de Triomphe. Darunter flatterte die Trikolore – der Anblick war bewegend. Die Flagge symbolisiert so viel, den ganzen Mut und den Triumph des Landes, dachte sie.

Anja hatte ihnen die Geschichte Frankreichs nahegebracht, obwohl das eigentlich nicht Bestandteil des Lehrplans war. Sie wusste unglaublich viel über den Zweiten Weltkrieg, da sie ihn miterlebt hatte, und sie hatte ihnen erzählt, was in dieser schrecklichen Zeit auf beiden Seiten des Kanals vorgefallen war. Und von der drohenden Zerstörung der Stadt durch die Besatzer, wie Hitler es befohlen hatte, als sich 1944 die Alliierten der Stadt näherten. General von Choltitz hatte bereits Dynamit unter dem Triumphbogen, dem Invalidendom und dem Eiffelturm legen lassen, es jedoch in der letzten Minute dann nicht übers Herz gebracht, die Ladungen zu zünden.

Sie hatte mittlerweile die Place Charles de Gaulle erreicht, auf der der Arc de Triomphe stand. Wie ein Zwerg kam sie sich neben dem riesigen Bauwerk vor, das Napoleon hatte errichten lassen, um seinen Sieg bei Austerlitz zu feiern. Damals hatte er seinen Männern verkündet, er würde durch einen Triumphbogen in die Stadt einziehen, und noch heute war es der Ausgangspunkt für alle großen nationalen Ereignisse und Paraden.

Einmal war sie mit Anja, Alexa, Jessica und Maria auf die Spitze gestiegen, und sie hatten von dort über die Stadt geblickt. Erst da hatte sie verstanden, warum man den Triumphbogen auch l’Étoile, den Stern, nannte. Er stand genau im Mittelpunkt von zwölf Straßen, die wie die Strahlen eines Sterns auf ihn zuliefen. Viele dieser Straßen waren nach berühmten Generälen benannt, und von hier war auch die Modernisierung von Paris durch Baron Haussmann im Jahr 1852 ausgegangen.

Auf einmal musste Kay an Josephine denken. Die Kaiserin war nicht in der Lage gewesen, Napoleon einen Erben zu schenken, und schließlich hatte er sich von ihr scheiden lassen müssen, um einen Sohn zu bekommen. Er war mit Marie-Louise, der Tochter des österreichischen Kaisers, nicht besonders glücklich gewesen, obwohl sie ihm endlich den ersehnten Erben geschenkt hatte. Aber es war immer nur eine Vernunftehe gewesen, und Napoleon hatte sich zeit seines Lebens nach Josephine verzehrt. Zumindest hatte Anja ihnen das im Geschichtsunterricht erzählt: »Von dem Tag an, als er Josephine verließ, verließ ihn auch sein Glück, und bis zu seinem Tod wurde er von Missschlägen und Katastrophen heimgesucht.«

Seufzend dachte Kay an Dr. François Boujon. Sie war gestern in seiner Praxis in der Avenue Montaigne gewesen. Er hatte sie untersucht und verschiedene Tests gemacht; je nachdem, was dabei herauskam, würde sie vielleicht ein paar Tage in seiner Klinik in Barbizon in der Nähe von Fontainebleau verbringen müssen. Er hatte einen guten Ruf, und nachdem er einige Jahre in Kalifornien gearbeitet hatte, war er vor einiger Zeit in sein Heimatland zurückgekehrt.

Kay hatte den Termin bei ihm schon vor Wochen gemacht. Nervös hatte sie in seinem Wartezimmer gesessen, aber als sie ihm gegenübersaß, entspannte sie sich schnell. Sie hatte das Gefühl, bei ihm gut aufgehoben zu sein.

Vor der Untersuchung hatte Dr. Boujon ihr einige Fragen gestellt. Die meisten hatte sie wahrheitsgemäß beantwortet, aber bei einigen hatte sie gelogen. Jetzt bedrückten diese Lügen sie, deshalb war sie auch viel zu früh zu ihrer Verabredung mit Anja aufgebrochen; sie hoffte, der kleine Spaziergang würde sie ablenken.

Sie ging mittlerweile die Avenue George V. entlang, in Richtung der Place de l’Alma. In der Ferne konnte sie den Eiffelturm sehen, und ihr fiel ein, dass Nicholas Sedgwick ihr einmal gesagt hatte, man könne überall in Paris entweder den Eiffelturm oder die weiße Kuppel von Sacré-Cœur erblicken.

Wie mochte es wohl Nicky gehen? Und den anderen Mädchen, die drei Jahre lang ihre Freundinnen gewesen waren? Würden sie Anjas Fest überhaupt genießen können, wenn sie sich bis dahin noch nicht wieder versöhnt hätten? Das Leben war viel zu kurz, und es gab wichtigere Dinge als Streit unter Frauen, vor allem ein Streit, der schon sieben Jahre her war.

Das hatte Anja gestern Abend am Telefon auch zu ihr gesagt. Sie hatte gemeint, sie sollten sich wie Erwachsene benehmen. Und sie hatte Recht.

Kay fand einen Tisch in einem kleinen Straßencafé hinter der Place de l’Alma. Auf einmal verspürte sie schrecklichen Hunger. Sie hatte zum Frühstück nur eine Tasse Tee getrunken, und jetzt war es fast eins.

Als der Kellner kam, bestellte sie ein Tomatenomelett, einen grünen Salat und eine Flasche Mineralwasser. Dann lehnte sie sich zurück und beobachtete die Passanten. Dabei dachte sie über ihr Leben nach und vor allem über ihren Mann Ian, den sie so sehr liebte.

Er hatte vor ein paar Tagen aus geschäftlichen Gründen nach New York fliegen müssen, weil sein Partner sich bei einem Autounfall einen Arm und ein Bein gebrochen hatte. Ian hasste es zu reisen, und er hatte sich bitter beklagt, dass er jetzt so überstürzt den Flieger besteigen musste.

Armer Ian, dachte sie, jetzt sitzt er in einem Hotel in Manhattan. Dabei ist er mit Leib und Seele ein Landmensch, der sich in den meisten Städten unwohl fühlt.

Er würde zehn Tage weg sein, und in dieser Zeit hoffte Kay, alle Untersuchungen bei Dr. Boujon hinter sich zu bringen. Außerdem wollte sie sich nach einem guten Standort für ein neues Geschäft umschauen. Ihre Assistentin, Sophie McPherson, würde in der kommenden Woche eintreffen. Gemeinsam wollten sie dann einen Makler aufsuchen, der ihnen empfohlen worden war.

Anfangs hatte Kay die Idee, einen Laden in der Modemetropole zu eröffnen, nicht gefallen, aber Sophie hatte sie mit ihrer jugendlichen Begeisterung mitgerissen und sie letztlich überredet. Sie hatte Kay daran erinnert, wie gut sich ihre Kleider in Großbritannien und den Vereinigten Staaten verkauften, und sie war überzeugt davon, dass sie auch in Paris großen Absatz finden würden.

Na gut, dachte Kay seufzend. Sie konnte es ja versuchen – vielleicht würde es ja klappen. Im Allgemeinen hörte sie auf Sophie, weil die junge Frau einen guten Geschäftssinn hatte.

Kay trank einen Schluck Mineralwasser und dachte an ihre Zeit in Paris. Sie hatte in einem kleinen, gemütlichen Hotel am linken Seineufer gewohnt, und sie hatte ihr winziges Zimmer und das Viertel um die Place Saint-Michel geliebt.

Vielleicht sollte sie später zur Rue de la Huchette spazieren und auf einen Sprung beim Hotel Mont Blanc, wo sie drei Jahre lang gewohnt hatte, hereinschauen. Ob wohl Henri, der reizende alte Portier, noch dort arbeitete? Er war immer so freundlich gewesen und hatte sich so liebevoll um sie gekümmert.

Die Jahre in Paris waren ihre glücklichste Zeit gewesen. Sie war weit weg von den Slums in Glasgow; sie war in Sicherheit, und sie besuchte die Schule, von der sie schon seit Jahren geträumt hatte, ohne jemals zu glauben, dass sie dort mit neunzehn Jahren tatsächlich studieren würde.

Die Schule hatte ihren Horizont erweitert, sie beflügelt und in ihren Träumen und Hoffnungen bestärkt. Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie sich besonders vorgekommen, dank Anjas liebevoller Ermutigung und ihrem Glauben an sie. Auch die anderen Lehrer hatten ihr ein völlig neues Selbstwertgefühl vermittelt, indem sie ihr zeigten, dass sie an ihre Fähigkeiten glaubten.

Das erste Mal war sie von Schottland weg gewesen, als ihre Mutter Alice sie im Harrogate College, einer altehrwürdigen, angesehenen Schule in Yorkshire, angemeldet hatte. Während ihrer Internatszeit dort hatte sie viele Freundinnen gefunden, und das Lernen hatte ihr Spaß gemacht.

Es hatte sie erleichtert, ihrer tristen schottischen Umgebung entkommen zu sein; endlich fühlte sie sich sicher. Bald schon hatte sich gezeigt, wie begabt sie war, und sie hatte alle ihre Talente entfalten können.

Sie vermisste ihre Mutter sehr und auch Sandy, aber sie durfte nicht nach Hause kommen. Alice jedoch besuchte sie in Yorkshire, wann immer es ihr möglich war, und diese Tage bedeuteten ihnen beiden viel. »Denk immer daran, mein Mädchen«, sagte Alice Smith dann zu ihr. »Jean Smith gibt es nicht mehr. Du bist jetzt Kay Lenox. Neuer Name. Neues Leben. Neue Zukunft. Du kannst nie mehr zurück.«

Immer hatte ihre Mutter sie ermutigt, ihr das neue Leben und die Zukunft in den schönsten Farben ausgemalt. In gewisser Weise hatte Alice sich geopfert, um ihrer Tochter ein besseres Leben zu ermöglichen.

Sie hat mir alles gegeben, dachte Kay. Und jetzt habe ich so viel. Aber ich kann mich nicht daran freuen, weil ich ständig Angst habe, es zu verlieren. Das ist das Problem.

Aber es wird schon alles in Ordnung kommen, sagte sie sich. Es konnte gar nicht anders sein.