21

Wie schön sie geworden ist, dachte Anja, als sie Kay Lenox erblickte.

Weil es so ein warmer Tag war, hatte Honorine, die Haushälterin, Kay in den Garten geführt, wo der Teetisch bereits gedeckt war. Aber Kay setzte sich gar nicht erst hin, sondern schlenderte über den gepflasterten Hof.

Jetzt wartete sie unter dem Kirschbaum, eine Hand auf den Stamm gelegt. Sie wusste nicht, dass sie beobachtet wurde, und ihr Gesicht wirkte verträumt.

Kay ist so groß und schlank, sie sieht fast ätherisch aus, dachte Anja und wünschte sich, sie hätte ihre Kamera dabei, weil es so ein bezauberndes Bild war.

Sonnenstrahlen glitten durch die Blütenäste und ließen Kays Haare wie einen rotgoldenen Heiligenschein aufleuchten. Sie trug ihre Haare immer noch lang, so wie damals, und aus dieser Entfernung sah sie nicht einen Tag älter aus. Ihr leuchtend blauer Anzug mit schmaler Hose und dreiviertellangem Jackett, zu dem sie hochhackige Pumps trug, war geschnitten wie die Tunika eines Maharadschas. Der Stehkragen stand ihr gut.

Der Anzug war völlig schlicht, wirkte aber ungeheuer elegant. Nun, sie war ja schon damals eine kleine Modeschöpferin, dachte Anja.

Sie trat in den Hof und rief: »Kay, meine Liebe, hier bin ich! Tut mir Leid, dass du warten musstest.« Strahlend lief sie auf sie zu, und die Freude darüber, Kay nach so langer Zeit endlich wiederzusehen, leuchtete in ihren Augen.

Kay drehte sich um und stürzte auf Anja zu, wobei sie auf ihren hohen Absätzen fast stolperte. Sie umarmten sich zärtlich. »Es ist so wundervoll, dich zu sehen!«

»Das finde ich auch, Kay. Komm, mein Liebes, setzen wir uns und trinken eine Tasse Tee, genau wie in alten Zeiten. Du musst mir alles erzählen.«

Die beiden Frauen traten zu dem schmiedeeisernen Tisch. Alles für den Nachmittagstee stand bereit. Die große silberne Teekanne mit dem dazugehörigen Milchkännchen und der Zuckerdose, ein Teller mit Zitronenscheiben. Auf einer silbernen Etagere hatte Honorine ein paar kleine Tee-Sandwiches und Kekse angeordnet. Auch eine Biskuitrolle, mit Marmelade und Sahne gefüllt, stand dort und ein englischer Früchtekuchen, der mit geschälten Mandeln verziert war.

Anja ergriff die Silberkanne und schenkte ihnen Tee ein. Dann lehnte sie sich zurück und betrachtete Kay liebevoll aus der Nähe.

»Kay, du siehst großartig aus!«, rief Anja bewundernd aus. »Und so erwachsen! Äußerst elegant!« Sie strahlte sie an. »Es ist wunderbar, dich so zu sehen.«

Kay erwiderte ihr Lächeln. »Damals war ich vermutlich noch ein bisschen ungelenk und linkisch, oder?«

»Nein, das warst du nie«, protestierte Anja und gab eine Zitronenscheibe in ihren Tee. »Herzlichen Glückwunsch übrigens zu deinem außergewöhnlichen Erfolg. Du bist der Stolz der Schule. Aber wir wussten ja alle, dass du deinen Weg machst.«

»Ich verdanke es dir und den anderen Lehrern, dass ich das erreicht habe. Und natürlich meiner Mutter. Ohne sie wäre ich ... nichts gewesen.«

Anja fiel auf, dass ein Schatten über Kays Gesicht glitt, als sie ihre Mutter Alice erwähnte, die vor einigen Jahren gestorben war. Mutter und Tochter hatten sich sehr nahegestanden und sich sehr geliebt. Anja wusste, dass Alice viel für Kay geopfert hatte.

»Wir konnten dir nur den Weg zeigen«, erwiderte sie nach kurzem Schweigen. »Deinen Erfolg kannst du ganz alleine dir selbst zuschreiben, Kay.«

»Ich weiß noch, wie du uns immer gesagt hast, wir seien verantwortlich für unser Leben, und Erfolge wie auch Niederlagen dürften wir nur uns selbst zuschreiben.«

»Das war doch schon deine Philosophie, bevor du an die Schule gekommen bist, Kay. Ich habe es nur in Worte gefasst.«

Kay nickte und trank einen Schluck Tee. Ein paar Sekunden lang verweilte sie in Gedanken an die Vergangenheit.

Es war etwas ... Königliches an Kay, dachte Anja. Ja, das war das richtige Wort dafür. Ihre Eleganz war angeboren. Sie war wirklich in jeder Hinsicht eine Lady – sowohl dem Titel als auch ihrer Haltung nach. Erstaunlich, was das Leben aus manchen Menschen machte. Die schüchterne kleine Kay, die damals auf der Schule immer so unterernährt ausgesehen hatte und still wie ein Mäuschen gewesen war, war jetzt eine weltberühmte, erfolgreiche Modedesignerin und die Frau eines reichen Aristokraten.

Nun, man kann nur über sie staunen, dachte Anja. Als Kay vor zehn Jahren nach Paris gekommen war, hatte sie nicht viel von ihr gewusst. Ihre persönliche Geschichte und ihr Hintergrund waren ein wenig mysteriös, aber ihre Zeugnisse vom Harrogate College sprachen eine deutliche Sprache. Das Mädchen war brillant, daran konnte es keinen Zweifel geben.

Anja hatte instinktiv gewusst, dass Kay aus armen Verhältnissen kam. Das hatte sie ihrer Mutter angesehen. Alice war zwar hübsch, wirkte jedoch ein wenig verhärmt und sah müde aus. Sie war so dünn, als habe sie nie in ihrem Leben eine ordentliche Mahlzeit bekommen. Und sie strahlte eine Traurigkeit aus, die Anja tief berührte.

Schließlich durchbrach Anja das Schweigen und sagte: »Ich freue mich, dass du schon so früh nach Paris gekommen bist. So haben wir vor dem Fest noch Zeit, um uns ein paar Mal zu sehen.« Schmunzelnd fügte sie hinzu: »Die anderen hatten den gleichen Gedanken wie du, Kay. Alexa, Jessica und Maria sind auch schon hier.«

»Oh«, stieß Kay hervor. Wie mochte es wohl sein, die ehemaligen Freundinnen nach so langer Zeit wiederzusehen?

Anja dachte an Alexa und Jessica, die beide in Paris noch etwas zu erledigen hatten, und als sie Kay anschaute, fragte sie sich, ob sie nicht auch ein geheimes Problem hatte.

Sie beugte sich leicht vor und blickte die junge Frau aufmerksam an. »Bist du aus einem besonderen Grund so früh gekommen, Kay?«

»Ja, eigentlich schon.« Kay wandte sich Anja zu. »Ich denke daran, in Paris ein Geschäft zu eröffnen. Meine anderen Läden sind sehr erfolgreich, und wir denken, dass sich meine Kleider hier auch gut verkaufen würden.«

»Da bin ich mir sogar ganz sicher. Das ist ja eine großartige Idee.«

»Außerdem muss ich nach Lyon und mich mit dem Textilfabrikanten treffen, der meine Seiden- und Brokatstoffe produziert. Ich möchte für meine nächste Kollektion ein paar besondere Farben haben.«

»Du konntest schon immer gut mit Farbe umgehen. Dieses leuchtende Blau gefällt mir sehr gut, dadurch wirken deine Augen noch strahlender. Und wie geht es deinem Mann?«

Kay setzte sich aufrechter hin. »Es geht ihm gut.« Sie schüttelte den Kopf. »Das hoffe ich zumindest. Er ist geschäftlich in New York, aber Ian kann mit Städten nichts anfangen. Wahrscheinlich ist er völlig deprimiert und sehnt sich nach Schottland zurück.«

»Ah ja, der typische Landedelmann.«

»Ja.« Kay schwieg, dann fragte sie: »Die anderen sind also auch hier? Hast du sie schon gesehen?«

»Maria schon ein paar Mal, und Alexa hat mich gestern besucht.«

»Sind die beiden mittlerweile verheiratet?«

»Nein.«

»Und was ist mit Jessica?«

»Ich habe sie bis jetzt noch nicht gesehen. Aber sie ist auch noch nicht verheiratet. Anscheinend bist du die Einzige aus eurem Quartett, die den Mann ihrer Träume gefunden hat.«

Kay sank in ihrem Stuhl zurück und warf Anja einen bekümmerten Blick zu. Auf einmal traten ihr Tränen in die Augen.

»Was ist denn los?«, fragte Anja besorgt.

Kay antwortete nicht, sondern begann stattdessen zu weinen.

»Liebling, um Himmels willen, was ist los?« Anja beugte sich über den Tisch und legte Kay tröstend die Hand auf den Arm.

Kay wischte sich die Tränen von den Wangen und sagte zögernd: »Ich mache mir solche Sorgen ... um meine Ehe.«

»Möchtest du darüber reden?«

Kay nickte. Sie holte tief Luft und begann mit leiser Stimme: »Ich werde einfach nicht schwanger.«

»Oh, ich verstehe, Liebes. Ian möchte einen Sohn und Erben. Der Titel ... der Besitz ... natürlich. Ja, ich verstehe.«

Kay schluckte und räusperte sich. »Ian ist lieb, und er redet gar nicht darüber. Er hat noch nie etwas gesagt. Aber ich weiß einfach, dass er den Gedanken ständig im Hinterkopf hat. Und ich empfinde es als schrecklichen ... Druck. Ich kann an gar nichts anderes mehr denken.«

»Ich weiß, was du meinst.«

»Ich bin aus einem anderen Grund nach Paris gekommen«, gestand Kay. »Ich habe einen Termin bei einem Spezialisten gemacht, François Boujon. Du hast sicher schon von ihm gehört.«

Anja nickte. »Ja, er soll hervorragend sein. Er ist einer der angesehensten Fertilitätsexperten auf der Welt, er kann dir sicher helfen.«

»Oh, Anja, ich hoffe es so sehr.«

»Warst du schon bei ihm?«

»Gestern. Er hat mich untersucht und Tests ...« Kay brach ab und biss sich auf die Unterlippe.

Anja blickte sie aufmerksam an.

Wieder wischte Kay sich die Tränen ab.

»Geht es dir wieder besser?«

»Ich habe Dr. Boujon angelogen«, sprudelte Kay gequält hervor.

Erstaunt erwiderte Anja: »Was meinst du damit ...«

»Er hat mir ein paar Fragen gestellt, und ich habe ihm keine ehrlichen Antworten gegeben. Ich habe gelogen.«

»Warum denn?« Anja runzelte die Stirn. »Das sieht dir doch gar nicht ähnlich.«

Kay schwieg eine Weile. Dann erklärte sie langsam: »Ich wollte nicht, dass er meine Geheimnisse kennt. Bestimmte Dinge über mich sollen die Leute einfach nicht wissen.«

»Was für Geheimnisse?«

»Vor langer Zeit hast du einmal Alexa und mir erzählt, dass du immer nach einer Regel gelebt hast ...«

»An den Tag kann ich mich noch gut erinnern«, warf Anja ein. »Ich sagte, ich hätte nie Schwäche gezeigt, niemanden hinter meine Fassade blicken lassen, und das hätte vor allem im Beruf gut funktioniert, und manchmal sogar in meinem Privatleben.«

»Nun, diese Regel habe ich mir zu Eigen gemacht. Deshalb habe ich gelogen.«

»Ich verstehe.« Anja lehnte sich zurück, blickte sie aber weiter unverwandt an. »Und was sind das für Geheimnisse?«

»Als er mich fragte, ob ich schon einmal schwanger gewesen sei, sagte ich nein. Aber das stimmt nicht. Ich war schon einmal schwanger. Glaubst du, er hat es gemerkt, als er mich untersucht hat?«

»Ich weiß nicht ...« Anja schwieg bekümmert. Dann fragte sie: »Hast du das Baby verloren?«

Kay holte tief Luft. »Ich habe es abgetrieben.«

»Oh, Kay.«

»Sieh mich nicht so an, Anja. Bitte. Ich wurde missbraucht, als ich noch ganz jung war. Ich war erst ... zwölf.«

Anja schloss entsetzt die Augen. Eine Weile saß sie ganz still da. Als sie die Augen wieder öffnete, kam ihr der Garten auf einmal nicht mehr so sonnig vor. Es war, als ob das Licht irgendwie schwächer geworden sei. In was für einer Welt leben wir nur, dachte sie, was für Ungeheuer manche Männer doch sind. Ernst und mitleidig blickte sie Kay an.

Kay rief aus: »Es war nicht meine Schuld, wirklich nicht!« Ihre Stimme klang hoch und erregt.

»Kay, Liebes, natürlich war es nicht deine Schuld. Das brauchst du mir doch nicht zu sagen.« Anja legte ihre Hand über Kays und streichelte sie liebevoll.

»Meinst du, es hilft dir, darüber zu sprechen?«, fragte sie besorgt mit einem Blick auf Kays blasses Gesicht.

»Ich habe es noch nie jemandem erzählt ... nur Mam wusste es«, flüsterte Kay.

Anja drückte ihre Hand. Dann schenkte sie ihnen beiden noch eine Tasse Tee ein. Schweigend wartete sie, bis Kay in der Lage war, ihr von den schmerzlichsten Ereignissen in ihrem Leben zu erzählen.