Es dauerte eine Zeit lang, bis Kay sich gefasst hatte.
Sie trank den Tee, den Anja ihr gerade eingeschenkt hatte, und versuchte, sich zu entspannen. Langsam ließ ihre Erregung nach.
Ihre Stimme klang nicht mehr so aufgewühlt, als sie sagte: »Am besten fange ich wohl von vorne an. Meine Mutter arbeitete für eine Modedesignerin in Glasgow namens Allison Rawley. Ich war ungefähr sieben, als sie als Verkäuferin dort anfing. Nach ein paar Jahren jedoch leitete Mam das Geschäft. Sie konnte hervorragend organisieren und managen. Allison hatte eine gute Freundin, eine englische Adelige. Sie waren zusammen im Internat gewesen, und manchmal kam sie Allison besuchen und kaufte natürlich auch im Laden ein. Diese Frau, die reizend war, bot meiner Mutter eine Stelle als Haushälterin bei sich an, mit Allisons Einwilligung natürlich. Ich war damals zehn.«
»Und deine Mutter nahm den Job an?«
»Ja. Wie hätte sie ihn ablehnen können? Es klang fantastisch. Das Haus lag am Firth of Forth, in der Nähe eines Ortes namens Gullane, ungefähr eine halbe Stunde mit dem Auto von Edinburgh entfernt. Ihre Ladyschaft sagte Mam, sie könne uns – Sandy und mich – ohne weiteres mitnehmen, da wir eine eigene Wohnung im Haus hätten. Meine Mutter sah dies als Chance, ihre Stellung zu verbessern, mehr Geld zu verdienen und uns ein Leben auf dem Land zu ermöglichen. Im Ort war eine Schule, und alles klang sehr gut.«
Kay schwieg. »Ich glaube, ich werde dieses Haus niemals vergessen, Anja ... es war wunderschön. Der Park war prachtvoll und auch die Aussicht auf die Hügel von Lammermuir und den Firth of Forth. Es war zauberhaft. Es gab jedoch ein Problem für mich dort ... Seine Lordschaft.«
»Hat er dich belästigt?«, fragte Anja leise.
Kay nickte. »Erst nach einiger Zeit. Und er ging sehr vorsichtig vor. Aber seine Frau war viel unterwegs. Sie hatten eine Wohnung in London und ein Landhaus in Gloucestershire, daher war sie oft weg. Es begann alles nach einem Jahr. Damals war ich zehneinhalb. Zuerst wirkte es wie zufällig, er streifte mich, berührte mich an der Schulter, strich mir väterlich über den Kopf. Aber dann begann er, mir im Park und im Wald aufzulauern. Er ... berührte mich ... an den intimen Stellen.«
Anja nickte stumm.
»Nach ein paar wirklich schlimmen Zwischenfällen begann ich, mich gegen ihn zu wehren, und protestierte. Er schwor, er würde meine Mutter entlassen und uns alle fortschicken, wenn ich nicht tat, was er wollte. Er sagte, er würde uns ins Armenhaus bringen. Ich wusste nicht, was das bedeutete, und war außer mir vor Angst. Mir war klar, wie wichtig die Stelle für meine Mutter war. Wo sollten wir denn hin, wenn sie entlassen würde?«
»Und du hast es nie deiner Mutter oder jemand anders erzählt?«, warf Anja ein.
»Ich hatte zu viel Angst ... Angst vor ihm oder dem, was er uns antun würde. Er hatte so viel Macht, und wir waren arm und allein. Dad war schon seit Jahren tot, und wir hatten nur noch Grandma in Glasgow, und sie war auch arm.«
»Oh, Kay, mein Liebes«, murmelte Anja. »Wie schrecklich das für dich gewesen sein muss.«
»Es war grauenhaft und Angst einflößend. Mit der Zeit wurde er immer zudringlicher. Ich versuchte, ihn aufzuhalten, und schrie und wehrte mich, aber er hielt mir einfach den Mund zu. Er war stark und hartnäckig und drohte mir schreckliche Dinge an. Ruhe vor ihm hatte ich nur, wenn seine Frau zu Hause war.«
»Hast du nie daran gedacht, es ihr zu erzählen?«
»Hätte sie mir denn geglaubt? Der Tochter der Haushälterin? Sie hätte mich sicher für eine Lügnerin gehalten. Vielleicht hätte sie mir auch vorgeworfen, mich ihm an den Hals zu werfen, Anja. Meine Mutter wäre entlassen worden. Also ertrug ich seine Attacken, und jedes Mal, wenn er nach London fuhr, betete ich darum, dass er nie wieder zurückkommen möge. Aber er kam immer wieder. Als ich fast zwölf war, ging er schließlich aufs Ganze. Eines Samstagnachmittags, als meine Mutter mit Sandy in Edinburgh war, vergewaltigte er mich.«
Kay schwieg und trank einen Schluck Tee. Nach einer Weile murmelte sie: »Das geschah mehrmals, und ich war voller Panik. Rückblickend denke ich, dass ich traumatisiert war. Und dann blieb eines Tages meine Regel aus, und ich wusste, dass das, was ich gefürchtet hatte, nun eingetreten war. Ich war schwanger. Ich war außer mir vor Angst und Entsetzen.«
»Und da hast du es endlich deiner Mutter erzählt?«
»Ja, ich hatte ja keine andere Wahl. Sie war sehr lieb zu mir und natürlich völlig entsetzt über das Geschehene. Wütend stellte sie ihn zur Rede und sagte ihm, dass sie ihn anzeigen würde. Sie drohte damit, an die Öffentlichkeit zu gehen und sich einen Anwalt in Edinburgh zu nehmen, um ihn vor Gericht zu bringen. Zuerst stritt er alles ab, aber es gab keinen anderen Mann auf dem Besitz, und wir lebten dort sehr einsam. Na ja, es gab noch zwei Gärtner, aber die waren schon alt, und das übrige Personal bestand nur aus Frauen.«
»Also ging deine Mutter zur Polizei?«
Kay schüttelte den Kopf. »Nein. Sie war drauf und dran, aber Seine Lordschaft bot ihr einen ... eine Art Handel an. Er sagte, er würde uns zu einem Arzt in Edinburgh vermitteln, der eine Abtreibung vornehmen könnte, und er würde alles bezahlen. Außerdem versprach er meiner Mutter drei Monatsgehälter, unter der Bedingung, dass wir alle sofort das Haus verließen.«
»Und hat deine Mutter das angenommen?«
»Nein. Sie erwiderte ihm, sie würde darüber nachdenken, aber dann lehnte sie es ab. Meine Mutter war wirklich eine kluge Frau, obwohl sie keine Bildung besaß. Sie hatte verstanden, dass sie alle Trümpfe in der Hand hielt. Seine Lordschaft saß im House of Lords in London, er war Geschäftsmann und eine bekannte Persönlichkeit. Er bewegte sich in den ersten Kreisen, ebenso wie seine Frau. Meine Mutter machte ihm ein Gegenangebot.«
»Und was?« Anja beugte sich vor.
»Er musste den Termin bei dem Arzt in Edinburgh machen, und dann erklärte sie ihm, für das, was er mir angetan habe, habe er bei weitem nicht genug als Entschädigung angeboten ... für all die Jahre des Missbrauchs und für die Vergewaltigung, die schließlich zu meiner Schwangerschaft geführt hatten. Sie sagte ihm, sie wolle eine Million Pfund.«
Anja riss die Augen auf. Einen Moment lang war sie sprachlos. Schließlich fragte sie: »Und hat Alice das bekommen? So viel Geld?«
»Nein. Sie hatte die Summe so hoch angesetzt, weil sie Verhandlungsspielraum haben wollte. Schließlich willigte er ein, ihr vierhunderttausend Pfund zu zahlen.«
»Du meine Güte!«
Kay nickte und lächelte schwach. »Das war viel Geld, Anja. Ich glaube, selbst meine Mutter war überrascht. Sie hätte sich auch mit weitaus weniger zufrieden gegeben.«
»Wahrscheinlich hatte er ziemliche Angst.«
»Ja, das glaube ich auch. Er war zwar ein erfolgreicher Mann, aber er besaß nicht so viel Geld wie seine Frau. Sie hatte ein riesiges Vermögen geerbt. Er wollte auf keinen Fall im Mittelpunkt eines Skandals stehen. Und seine Frau durfte auf keinen Fall etwas erfahren. Ich habe dir ja gesagt, dass sie sehr nett war, und wenn meine Mutter zur Polizei gegangen wäre, dann hätte sie sich sicher von ihm scheiden lassen – letztlich hätte sie uns und nicht ihm geglaubt. Das war ihm bestimmt klar.«
»Und er hat bezahlt?«
»Ja. Meine Mutter ging erst, als seine Schecks eingelöst waren. Wir zogen nach Edinburgh, wo Mam eine kleine Wohnung für uns gefunden hatte.« Kay lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und seufzte. »Es war Erpressung, das wurde mir später klar. Meine Mutter hat eine Chance gesehen, mir nicht nur in diesem Moment zu helfen, sondern auch meine Zukunft zu sichern. Und deshalb hat sie ihn erpresst.«
Sie schwiegen.
Im Garten war es ganz still. Es ging kein Windhauch, und noch nicht einmal die Vögel zwitscherten.
Anja dachte darüber nach, dass Alice Smith auf so etwas Schreckliches wie Erpressung zurückgegriffen hatte, aber eigentlich fand sie das nur zu verständlich. Was dieser widerliche Mann Kay angetan hatte, war unendlich viel schlimmer, und niemand konnte Alice einen Vorwurf daraus machen, dass sie Wiedergutmachung verlangte. Auge um Auge, Zahn um Zahn, dachte sie. Der Mann war ein Ungeheuer gewesen.
»Alice hat das Geld für deine Ausbildung verwendet, nicht wahr?«
»Ja, für meine und Sandys. Sie hat die Miete für unsere kleine Wohnung davon bezahlt, die Schulgebühren für das Harrogate College und für deine Schule. Mam selber hat nie einen Pfennig davon angerührt. Sie hat immer hart gearbeitet, und sie hat gespart. Was von dem Geld übrig blieb, hat sie auf die Bank getragen, sodass ich später einen Grundstock für die Eröffnung meines Modegeschäftes hatte.«
»Alice war klug, sehr klug, Kay. Aber was war denn mit der Abtreibung? Darüber hast du noch gar nicht geredet. Ist dabei etwas schiefgelaufen?«
»Das weiß ich nicht genau. Aber gerade das bereitet mir Sorgen. Der Arzt damals wirkte ein wenig schmuddelig, und er roch nach Alkohol. Danach habe ich viel Blut verloren, und ein paar Tage lang hatte ich schreckliche Schmerzen. Meine Mutter wollte mich schon ins Krankenhaus bringen, aber dann ging es mir auf einmal besser ...«
Kay brach ab, und ihre Augen waren dunkel vor Sorge. »Und wenn der Arzt nun damals wirklich etwas kaputt gemacht hat?«
»War denn seitdem immer alles in Ordnung?«
»Ja, aber das braucht ja nichts zu heißen. Meinst du, Dr. Boujon sieht, dass ich abgetrieben habe?«
»Da bin ich mir nicht sicher, Liebes. Wenn jedoch etwas nicht in Ordnung ist, dann stellt er das sicher bald fest.«
Kay traten wieder die Tränen in die Augen. Sie schlug die Hand vor den Mund und begann zu weinen.
Anja erhob sich und trat zu ihr. Liebevoll nahm sie sie in den Arm und streichelte ihr über die Haare, bis sie sich ein wenig beruhigte.
Nach einer Weile murmelte Anja: »Ian weiß nichts davon, nicht wahr? Du hast es ihm nie erzählt.«
»Das konnte ich doch nicht«, flüsterte Kay. »Er weiß gar nichts von meiner Vergangenheit. Meine Mutter hat mir eine völlig neue Identität besorgt, mit Hilfe des Geldes. Er würde sterben, wenn er wüsste, wo ich herkomme ...« Sie lachte hohl auf. »Aus den Slums von Glasgow. Er würde sich auf jeden Fall scheiden lassen, das weiß ich genau.«
»Das kannst du gar nicht wissen, Kay. Menschen können manchmal sehr verständnisvoll sein.«
»Das Risiko gehe ich lieber nicht ein, Anja.«
»Worte sind oft nur ein schwacher Trost«, begann Anja sanft und streichelte wieder über Kays Haare. »Es reicht nicht, wenn ich dir sage, wie Leid mir das alles tut. Ich kann nicht ausdrücken, wie sehr ich mit dir fühle, mein Liebling. Es muss schrecklich gewesen sein, und ich kann gut nachvollziehen, wie traumatisiert und verängstigt du gewesen sein musst. Du warst ja noch so klein.« Anjas Stimme bebte, und sie konnte nicht weitersprechen.
Nach einer Weile löste Kay sich von ihr und sah sie an. »Ich hatte ständig nur Angst. Aber ich flüchtete mich in meine Träume, weißt du ... Ich lernte schon früh zu träumen, um überleben zu können. In meinen Träumen war ich an einem schöneren Ort.«
»Du hast deine Sache sehr gut gemacht ... Du hast so viel mitgemacht ...«
»Ich habe noch etwas gelernt, Anja.«
»Was?«
»Ich habe gelernt, mich gegen die Welt zu wappnen.«
Honorine war nach draußen gekommen, um Anja ans Telefon zu holen, und jetzt war Kay alleine im Garten.
Ihre Tränen waren versiegt, und sie musterte prüfend ihr Gesicht in ihrem kleinen Taschenspiegel. Unter den Augen waren ein paar Mascaraspuren. Sie wischte sie mit einem Taschentuch weg, legte frischen Puder auf und zog sich die Lippen nach. Dann steckte sie die Puderdose und die anderen Dinge wieder in ihre Tasche und lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück.
Als Anja zurückkam, rief sie aus: »Du siehst so gut wie neu aus, Liebes. Geht es dir besser?«
Kay lächelte. »Ja. Danke, dass du mir zugehört hast, Anja. Es hat mir sehr geholfen.« Kopfschüttelnd fuhr sie fort: »Weißt du, ich habe außer mit meiner Mutter nie mit jemandem darüber gesprochen. Ich glaube, ich habe alles ganz tief verdrängt; niemand sollte mein Geheimnis je erfahren.«
»Ich möchte dir noch einen Rat mit auf den Weg geben. Wenn du wieder bei Dr. Boujon bist, fragt er dich vielleicht, ob du eine Abtreibung hattest. Kay, ich finde, du solltest ihm die Wahrheit sagen.«
Kay zuckte leicht zusammen. »Das fällt mir sicher sehr schwer ...«
»Du musst ihm ja nicht alle Details erzählen«, unterbrach Anja sie. »Einfach nur die Fakten. Wenn wirklich etwas nicht in Ordnung ist, muss er doch deine Geschichte kennen, um eine Diagnose stellen zu können.«
»Ja, da hast du Recht«, gab Kay widerwillig zu.
»Allerdings ist es viel wahrscheinlicher, dass er dir mitteilt, alles ist in Ordnung, und es gibt keinen Grund, warum du keine Kinder bekommen solltest.« Anja warf ihr einen forschenden Blick zu. »Dann solltest du nicht mehr so verkrampft versuchen, schwanger zu werden. Eine Adoption kommt vermutlich nicht in Frage?«
Kay schüttelte den Kopf.
Anja fuhr fort: »Wenn ein Paar ein Kind adoptiert, wird die Frau häufig kurz darauf schwanger. Der Druck ist weg, und deshalb kann sie leichter empfangen.«
»Ian möchte bestimmt nur ein leibliches Kind als Erben.«
Damit hatte Kay sicher Recht, dachte Anja, aber andererseits konnte es ja auch an ihm liegen. Vielleicht konnte er ja gar keine Kinder zeugen. Sie überlegte, ob sie etwas sagen sollte, entschied sich dann jedoch dagegen.
Stattdessen ergriff sie Kays Hand. »Du warst dein ganzes Leben lang so stark und tapfer, Kay, und ich bin so stolz auf dich. Ich werde immer für dich da sein.«
Gerührt erwiderte Kay: »Danke für deine Worte, Anja. Du bist wirklich meine Freundin, meine einzige wahre Freundin.«
Stirnrunzelnd rief Anja aus: »Ich hoffe, ich bin nicht deine einzige Freundin!«
»Nun ... mit meiner Assistentin, Sophie, und auch mit Ians Schwester Fiona verstehe ich mich sehr gut, aber eine enge Freundin bist nur du.«
Wie traurig, dachte Anja. Laut sagte sie: »Es ist so schade, dass euer Quartett zerbrochen ist. Ihr habt einander drei Jahre lang so nahegestanden, und plötzlich hat es diesen Knall gegeben. So etwas habe ich noch nie erlebt, und ich hoffe wirklich, dass ihr euch wieder versöhnt. Lass dir von einer alten Frau sagen, das Leben ist zu kurz, um geheimen Groll zu hegen.«
»Du hast Recht«, erwiderte Kay, wobei sie dachte, dass sie sicher am wenigsten Schuld an der Situation trug. Die anderen hatten die Probleme geschaffen, nicht sie.