26

Für den Bruchteil einer Sekunde war Alexa sprachlos. Sie ließ sich auf den Sessel ihm gegenüber sinken und schaute ihn verblüfft an. Schließlich stieß sie hervor: »Tom, bist du dir da sicher?«

Er lehnte sich auf dem Sofa zurück, und ein nachdenklicher Ausdruck huschte über sein Gesicht. »Nun, es heißt ja, jeder Mensch hätte irgendwo einen Doppelgänger, aber eigentlich bin ich mir ziemlich sicher, dass das Jean Beauvais-Cresse ist.« Er beugte sich vor und streckte die Hand nach dem Album aus. »Lass mich das Foto bitte noch einmal ansehen, Alexa.«

Sie reichte ihm das Album und wartete.

Sorgfältig studierte er das Bild von Jessica und Lucien, und schließlich legte er das Album auf den Tisch. »Weißt du, Alex«, sagte er, »zwischen zwanzig und dreißig verändern sich die Leute nicht so sehr, dass man sie nicht mehr wiedererkennt. Der Mann auf dem Foto scheint Mitte zwanzig zu sein. Hast du es aufgenommen?«

»Ja.«

»Wann? Vor etwa sieben oder acht Jahren?«

»Ja. Kurz vor unserem Abschlussexamen.«

»Der Mann, den ich kenne – na ja, eigentlich kenne ich ihn nicht, ich bin nur mit ihm bekannt –, ist jetzt ungefähr Mitte dreißig.« Tom legte die Hände auf die Knie und beugte sich leicht vor. »Ich weiß, dass das Jean ist.«

Alexa biss sich auf die Lippe. Kopfschüttelnd erwiderte sie: »Dann muss er eine Zeit lang ein Doppelleben geführt haben.«

»Erzähl mir von ihm und Jessica.«

»Es gibt nicht viel zu erzählen. Jessica und Lucien lernten sich kennen und verliebten sich ineinander. Bald waren sie unzertrennlich. Sie sagte mir damals, sie wollten heiraten und zusammenbleiben. Und dann löste sich Lucien eines Tages in Luft auf. Er verschwand einfach, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie hat ihn nie wiedergesehen.«

Verblüfft rief Tom aus: »Es verschwindet doch niemand einfach so! Er hat ihr doch bestimmt später alles erklärt, oder?«

»Nein. Sie hat ihn nie wiedergesehen. Jessica brach es das Herz. Sie und ein Freund von Lucien unternahmen alles, um ihn wiederzufinden, aber ohne Erfolg. Schließlich gab sie die Suche auf und kehrte in die Staaten zurück.«

»Und sie hat nie mehr von ihm gehört?«

»Ich ... wir ... nun, wir hatten dann keinen Kontakt mehr zueinander. Aber zumindest Anja hätte gewusst, wenn Lucien wieder aufgetaucht wäre. Und Anja oder Nicky hätten es mir bestimmt erzählt. Schließlich habe ich ja nach dem Examen noch lange genug hier gewohnt, ehe ich wieder in die USA zurückgegangen bin.«

Tom nickte nachdenklich. »Was für eine seltsame Geschichte.« Stirnrunzelnd fragte er: »Was hat dieser Lucien Girard damals eigentlich gemacht? War er auch Student?«

»Er war Schauspieler. Nicht besonders bekannt – er hatte immer nur kleine Rollen, aber nach allem, was ich gehört habe, muss er ganz gut gewesen sein.«

»Was weißt du sonst noch von ihm?« Jetzt kam der Anwalt in Tom zum Vorschein. »Die Sache reizt mich, muss ich gestehen.«

»Nicht viel. Lucien und Jessica waren oft miteinander allein, wir haben nur ein paar Mal etwas gemeinsam unternommen.« Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

Tom schwieg. Nachdenklich rieb er sich das Kinn. »Nun, es geht mich ja nichts an«, murmelte er schließlich. »Allerdings ist es ziemlich unwahrscheinlich, dass sich zwei Männer so ähnlich sehen, es sei denn, sie sind eineiige Zwillinge.«

»Das könnte es doch sein!«, rief Alexa aus. »Vielleicht hat ja dieser Jean, der neben deinen Eltern wohnt, wirklich einen Zwillingsbruder.«

»Ja, das wäre möglich. Ich weiß nicht besonders viel über die Familie.«

Alexa stand auf und trat ans Fenster. Eine Weile blickte sie auf die Tuilerien. Dann setzte sie sich wieder und sagte zu Tom: »Und wenn nun Lucien und Jean doch ein und dieselbe Person sind? Meinst du nicht auch, dass Jessica Pierce ein Recht darauf hätte, es zu erfahren? Zu hören, dass er gesund ist, dass er lebt? Dann könnte sie das Ganze endlich abschließen.«

»Das könnte sein. Aber vielleicht würden wir damit auch nur alte Wunden aufreißen. Vielleicht ist es ihr längst völlig egal, weil sie mit jemand anders verheiratet ist.«

»Nein, das ist sie nicht. Anja hat mir erzählt, dass außer Kay Lenox keine von uns geheiratet hat. Ich glaube, ich sollte Jessica davon erzählen, auch wenn wir im Streit auseinandergegangen sind. Anja möchte sowieso, dass wir uns wieder versöhnen.«

»Das musst du dir gut überlegen«, warnte Tom sie. »Könnte es Jessica nicht sehr verletzen, wenn sie erfährt, dass ihr ehemaliger Freund wohlauf und munter ist und an der Loire lebt?«

»Ja, vermutlich. Außerdem wissen wir ja gar nicht genau, ob Jean wirklich Lucien ist. Aber wenn er es nun doch wäre? Dann hat er sich wirklich mies verhalten.«

Tom teilte ihre Meinung und erwiderte: »Könnte es nicht sein, dass Lucien mit Jessica Schluss machen wollte und einfach abgehauen ist, weil er die Auseinandersetzung scheute?«

»Das ist durchaus möglich. Ziemlich feige. Ich frage mich noch was anderes, Tom. Wenn Lucien tatsächlich Jean Beauvais-Cresse ist, warum hat er sich dann hier Lucien Girard genannt?«

»Keine Ahnung ... ich kann mir auch keinen Grund dafür vorstellen ...«

»Ein Rätsel«, murmelte sie und sprang auf. »Ich ziehe mich rasch an. Es dauert nur ein paar Minuten, dann können wir zu Anja fahren. Wir dürfen nicht zu spät zum Sonntagsessen kommen, das wäre ein Sakrileg.«

Während der Fahrt zu Anjas Haus schwieg Alexa, und Tom warf ihr ab und zu einen Blick von der Seite zu. Sie wirkte nachdenklich, und er wusste, dass er sie dann am besten in Ruhe ließ.

Er lehnte sich in den Sitz zurück und dachte an ihren gemeinsamen Morgen. Sie waren früh aufgewacht und hatten Frühstück gemacht. Später war Alexa durch die Wohnung gewandert und hatte staunend die Veränderungen der letzten drei Jahre betrachtet. Dann hatte sie in ihrem Hotel angerufen, um sich nach Nachrichten zu erkundigen; es gab nur eine einzige von Anja, die sie zum Mittagessen einlud. Alexa hatte zurückgerufen, um zu fragen, ob sie Tom mitbringen könne, und als sie aufgelegt hatte, hatte sie einen Jubelschrei ausgestoßen. »Sie kann es nicht erwarten, dich wiederzusehen, Tom! Du bist auch eingeladen.«

Auf dem Weg zu Anja hatten sie am Hotel Halt gemacht, damit Alexa sich umziehen und schminken konnte. Während er sie jetzt betrachtete, dachte er, dass man an ihrer Kleidung deutlich ihre Nationalität erkannte. In ihrer Blue Jeans, der weißen Seidenbluse und den braunen Mokassins konnte sie nur eine Amerikanerin sein. Um die Schultern hatte sie einen dunkelblauen Kaschmirpullover geschlungen, und sie trug die braune Kelly-Bag, die er ihr einmal geschenkt hatte.

Er liebte ihr Aussehen. Er liebte die ganze Frau, und er wusste, dass sie ihn liebte. Daran hatte er nie einen Zweifel gehabt: Er war derjenige gewesen, der sich in der Vergangenheit schlecht benommen hatte.

Tom war klar, dass Alexa Anja von der Ähnlichkeit zwischen Lucien Girard und Jean Beauvais-Cresse erzählen würde. Alexa hatte das kleine rote Fotoalbum in die Tasche gesteckt, als sie aufgebrochen waren. Seine Gedanken wanderten zu Jessica, die auf dem Foto so jung und schön aussah. Es hatte sie bestimmt zutiefst getroffen, als ihr Freund auf einmal verschwand. Ob es wirklich klug war, ihr von Jean zu erzählen?

»Warum seid ihr, Jessica und du, eigentlich im Streit auseinandergegangen?«, fragte er unvermittelt.

Alexa wandte sich zu ihm. »Nicht nur Jessica und ich, Tom. Wir waren zu viert, und wir haben uns alle gestritten. Es war ein einziges Chaos.«

»Worum ging es?«

»Es wäre zu kompliziert, dir das jetzt zu erklären. Ich erzähle es dir später. Aber Anja hat Recht – wir sollten uns vor ihrem Fest auf jeden Fall treffen und versöhnen.«

»Das halte ich auch für eine gute Idee.« Tom ergriff ihre Hand. »Ich habe über Jean Beauvais-Cresse nachgedacht. Ich habe dir ja gesagt, dass ich ihn kaum kenne. Aber ich könnte meinen Vater anrufen und ihn fragen, was er weiß.«

Alexas Gesicht hellte sich auf. »Würde es dir was ausmachen?«

»Nein. Ich rufe ihn nach dem Essen an. Kommt übrigens sonst noch jemand heute Mittag?«

»Anja hat nichts gesagt. Möglicherweise ist Nicky da. Er steht ihr sehr nahe.«

»Ich würde ihn gerne wiedersehen.«

»Mir ist gerade etwas eingefallen. Wenn ich mich richtig erinnere, hat Larry Sedgwick Lucien Jessica vorgestellt. Aber das braucht nichts zu bedeuten.« Sie biss sich auf die Unterlippe. »Die Vorstellung, dass Lucien irgendwelche Spielchen gespielt hat, ärgert mich. Aber ich weiß auch nicht, was wir am besten tun sollen.«

»Im Moment bestimmt nichts«, erwiderte Tom. »Du kannst nicht einfach herumlaufen und irgendwelche Leute beschuldigen, früher einmal jemand anders gewesen zu sein. Du hättest ganz schnell eine Klage am Hals.«

»Das hatte ich ja auch gar nicht vor«, entgegnete sie schnippisch und schaute aus dem Fenster. Dann aber wandte sie sich wieder zu ihm und sagte fröhlich: »Aber du würdest mich immer verteidigen, oder?«

»Mit meinem Leben«, antwortete er und legte den Arm um sie.