27

Anja Sedgwick blickte sich zufrieden in ihrem Wohnzimmer um. Es wirkte heute früh besonders gemütlich und einladend, fand sie.

Vasen mit roten und gelben Tulpen bildeten lebhafte Farbkleckse, und im Kamin prasselte ein Feuer. Obwohl es ein sonniger Maitag war, fand Anja es kühl, und sie hatte Honorine gebeten, ein Feuer zu machen.

Elegant gekleidet wie immer schritt sie durch das Zimmer und sah sich mit Adleraugen um. Es war jedoch alles in Ordnung, und sie setzte sich an den Schreibtisch.

Während sie auf ihre Gäste wartete, ging sie noch einmal die Gästeliste für ihr Geburtstagsfest durch. Sie war in den letzten Wochen deutlich länger geworden. Fast alle hatten zugesagt, und außerdem waren auch noch zahlreiche Namen hinzugekommen. Nicky hatte vor ein paar Tagen gesagt, dass es mittlerweile hundertfünfzig Personen seien. Es würde wunderschön werden.

Sie ließ die Liste sinken und starrte einen Moment lang vor sich hin. Ihre blauen Augen waren so klar und strahlend wie eh und je. Sie war voller Vorfreude auf ihren fünfundachtzigsten Geburtstag und hatte bereits sorgfältig geplant, was sie anziehen wollte.

Anja wusste, dass sie jünger aussah, und sie fühlte sich auch so, aber nichtsdestotrotz war sie eine alte Frau.

Ich war fünfundachtzig Jahre auf dieser Welt und habe jedes Jahr voll ausgekostet. Ich habe geliebt und gesorgt, war neugierig und an allem und jedem interessiert. Nie war ich gelangweilt oder missmutig, immer war ich voller Energie und Optimismus. Sie lächelte in sich hinein, als sie im Stillen hinzufügte: Und ich habe nicht die Absicht, schon zu sterben. Ich habe vor, lange zu leben.

Das Telefon klingelte, und sie nahm den Hörer ab. »Hallo?«

»Ich bin es, Nicky. Guten Morgen. Es tut mir Leid, aber ...«

»Sag bloß nicht, dass du nicht zum Mittagessen kommst.«

»Es gibt ein kleines Problem.«

»Welches?«

»Maria. Sie ist sehr nervös, weil sie Alexa gegenübertreten soll.«

»Nun, es ist sicher besser, wenn sie es jetzt hinter sich bringt – sie muss es doch sowieso bald tun. Ich möchte, dass vor dem Fest alles wieder in Ordnung ist, und das geht offenbar nur durch Konfrontation. Ich bin entschlossen, diesem Streit auf den Grund zu gehen, Nicky«, erklärte Anja in bestimmtem Tonfall.

»Du hast ja Recht«, erwiderte er rasch. Er wusste, dass man ihr nicht widersprechen durfte, wenn sie in diesem Tonfall redete.

»Es freut mich, dass du es so siehst. Sie muss heute mit zum Essen kommen. Ich will im Laufe der Woche alle vier bei mir versammeln, also ist das ein guter Anfang.«

»Kommt denn sonst noch jemand?«, fragte er besorgt.

»Nein. Nur Alexa und Tom, wie ich dir gesagt habe.«

»Sind sie wieder zusammen?«

»Ich weiß nicht ... Sie haben sich gestern Abend getroffen.«

Nicky seufzte. »Na gut. Ich hoffe, ich kann sie überreden.«

»Sei nicht so nachgiebig, Nicky. Du musst entschlossen auftreten. Warte ... hol sie mir mal ans Telefon! Ich rede selber mit ihr.«

»Oh, ich bin nicht ...«

»Lüg mich nicht an, Nicky. Ich weiß doch, dass sie bei dir ist. Du kannst mir nichts vormachen ... Hol mir Maria ans Telefon. Auf der Stelle!«

»Ist ja schon gut. Beruhige dich, Anja.«

Einen Moment später sagte Maria mit schwacher Stimme: »Guten Morgen, Anja.«

»Guten Morgen, Liebes. Ich erwarte euch um eins zum Mittagessen. Und komm bitte, Maria! Es ist mir sehr wichtig, dass du heute dabei bist.«

»Ja, Anna, wir kommen. Möglicherweise verspäten wir uns allerdings ein wenig.«

»Beeil dich bitte, Maria. Kommt bitte nicht zu spät.«

»Nein, nein, wir beeilen uns«, versprach Maria und legte auf.

Anja erhob sich und trat an den Kamin. Ein paar Minuten lang blieb sie dort stehen und dachte über Nicky und Maria nach. Sie hatte sie seit Marias Ankunft in Paris ein paar Mal zusammen gesehen, und es war offensichtlich, dass sie nur Augen füreinander hatten. Sie sind verliebt, dachte sie. Hoffentlich konnte Nicky so schnell wie möglich seine Probleme mit Constance regeln. Ihr war schon häufiger durch den Kopf gegangen, dass Maria und Nicky hervorragend zueinander passten. Sie sollten heiraten.

Was Alexandra und Tom Conners anging, so war es für Anja keine Frage, dass die beiden gestern Abend wieder zusammengekommen waren. Als Alexandra ihren Anruf heute früh erwidert hatte, hatte sie sie danach gefragt, und Alexa hatte die Frage bejaht und hinzugefügt, »für immer und ewig«. Anja lächelte leise. Sie hatte immer geahnt, dass ihre Lieblingsstudentin ihn noch liebte, dass er ihre große Liebe war.

Zehn Minuten später stürzte Alexa ins Zimmer, dicht gefolgt von einem strahlenden Tom.

»Guten Morgen, Anja!«, rief sie und umarmte ihre alte Lehrerin. Sie flüsterte ihr ins Ohr: »Ich bin dir so dankbar, dass du mich gedrängt hast, ihn anzurufen. Er ist so wundervoll.«

»Ich freue mich, dass ihr hier seid«, erwiderte Anja liebevoll. Sie streckte Tom die Hand entgegen. Er ergriff sie und begrüßte sie mit einem festen Händedruck.

»Danke für die Einladung, Anja. Es ist schön, Sie nach so langer Zeit endlich einmal wiederzusehen.«

»Sie sehen gut aus, Tom«, sagte Anja lächelnd. »Nun, was möchtet ihr beiden denn trinken?« Sie blickte zu einer Kommode in einer Ecke des Zimmers, auf der auf einem Tablett Flaschen und Gläser standen. Auch zwei Silberkübel mit Eis standen dort. In einem steckte eine Flasche Weißwein, in dem anderen eine Flasche Champagner.

»Alexa möchte bestimmt Champagner, und ich auch. Soll ich ihn einschenken? Was möchten Sie?«

»Ich nehme auch ein Glas Veuve Cliquot, danke. Ja, betätigen Sie sich doch als Barkeeper.«

Er nickte und trat zu der Kommode. Sie sah ihm nach, wobei sie dachte, dass sie schon lange mehr kein solches Prachtexemplar von einem Mann gesehen hatte. Er hatte nicht nur ein gut geschnittenes Gesicht, sondern auch einen außergewöhnlich gut gebauten Körper. Sie hatte ganz vergessen, wie groß und muskulös Tom war.

Ungeniert musterte Anja ihn, während er den Champagner in die Gläser einschenkte. Wie immer war er gut angezogen; er trug ein hellblau kariertes Hemd, eine dunkelblaue Krawatte, einen dunkelblauen Blazer und Blue Jeans. Maßgeschneidert, dachte Anja und nahm ihr Glas von ihm entgegen.

Sie standen vor dem Kamin und stießen miteinander an. Als Anja Tom anblickte, blendeten sie seine Augen fast. Er hatte die blauesten Augen, die sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Wenn ich nur fünfzig Jahre jünger wäre, dachte sie, musste aber insgeheim lächeln.

»Kommt Nicky auch?«, fragte Alexa.

»Ja, und er bringt Maria Franconi mit.«

»Oh nein!«, rief Alexa aus.

»Oh doch!«, gab Anja zurück. »Du solltest dich besser daran gewöhnen, Alexa. Schließlich willst du mit Nicky zusammenarbeiten. Die beiden sind ein Paar. Aber abgesehen davon hoffe ich, dass ihr, du, Maria, Jessica und Kay, euch wieder vertragt. Ich werde euch in der kommenden Woche alle zusammen zum Abendessen einladen, dann könnt ihr euren Streit beilegen. Keine von euch hat mir im Übrigen jemals erzählt, warum ihr euch eigentlich so gestritten habt.« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch.

»Es hat alles mit Maria angefangen«, stieß Alexa hervor. »Aber da sie heute Mittag kommt, reden wir jetzt besser nicht darüber.« Sie und Anja setzten sich aufs Sofa, Tom ließ sich auf dem Sessel daneben nieder und stellte sein Glas auf den Couchtisch. Dann wandte er sich an Anja und sagte: »Ich glaube, Alexa möchte etwas Wichtiges mit Ihnen besprechen. Nicht wahr, Alex?«

Alexa konnte nur nicken. Als sie endlich ihre Stimme wiedergefunden hatte, sagte sie: »Am besten erzählt dir Tom zuerst, was wir heute früh entdeckt haben.« Sie stellte ihr Glas ab, griff nach ihrer Tasche und öffnete sie.

Tom sagte: »Alexa hat sich im Hotel umgezogen und ich habe in der Zwischenzeit in ihrem kleinen Fotoalbum geblättert. Und dabei entdeckte ich das Foto eines Mannes, der in der Nähe meiner Eltern an der Loire wohnt. Er war mit dieser schönen Blonden zusammen fotografiert. Oh, und er sieht auf dem Foto etwa acht Jahre jünger aus als heute. Es überraschte mich ein wenig, weil ich mir gar nicht vorstellen konnte, warum Alex ausgerechnet ein Foto von ihm in ihrem Album haben sollte.«

Anja hatte aufmerksam zugehört, und jetzt fragte sie Alexa: »Wer war die blonde Frau? Ich nehme an, Jessica.«

»Genau.« Alexa reichte ihr das Album mit dem Foto von Lucien und Jessica.

Anja betrachtete es eine Weile, dann sagte sie zu Tom: »Das ist Lucien, so wie ich mich an ihn erinnere. Wer sollte es denn Ihrer Meinung nach sein?«

»Jean Beauvais-Cresse, ein Mann Mitte dreißig, der in der Nähe meiner Eltern lebt. Er ist kein Freund, nur ein Nachbar, und ich weiß nicht besonders viel über ihn. Aber Lucien Girard sieht ihm unglaublich ähnlich.«

»Er könnte mit ihm verwandt sein«, erwiderte Anja.

»Das ist möglich«, stimmte Tom zu. »Sein Zwilling, ein Bruder, ein Cousin.« Das Wahrscheinlichste war wirklich eine rein familiäre Ähnlichkeit. Tom holte tief Luft und schloss: »Alex möchte gerne mit Jessica reden. Was halten Sie davon, Anja?«

»Im Augenblick gar nichts!«, rief Anja aus. Sie ergriff Alexas Hand und drückte sie beschwörend. »Im Moment solltest du Jessica noch nichts davon erzählen. Es würde sie furchtbar aufregen.«

»Ich wollte ja auch erst mit ihr reden, wenn wir ein paar Nachforschungen angestellt haben. Tom möchte gerne seinen Vater anrufen und ihn fragen, was er über diesen Mann weiß«, erklärte Alexa.

Anja nickte. »Das ist eine gute Idee, Tom.«

Alexa warf ein: »Anja, du denkst wahrscheinlich, ich spinne, aber ich habe ein komisches Gefühl bei dem Foto ... ich glaube, es ist wirklich Jean-Beauvais Cresse als junger Mann, und er und Lucien sind ein und dieselbe Person. Ich kann es auch nicht erklären, aber ich habe so ein Gefühl.«

»Ich war schon immer der Meinung, man soll sich auf seinen Instinkt verlassen«, erwiderte Anja. »Es kann durchaus sein, dass du Recht hast, Alexa. Aber du darfst Jessica noch nichts davon erzählen.«

»Genau«, rief Tom aus. »Wir haben noch keine Beweise, noch nichts Konkretes in der Hand. Vielleicht kann Dad uns ja weiterhelfen, vielleicht kommen wir dem Rätsel um Jean und Lucien Girard ja noch anders auf die Spur ...« Tom brach ab, da Nicky mit Maria Franconi ins Zimmer trat.

»Ich hoffe, wir sind nicht allzu spät«, sagte Nicky. Er küsste Anja, drückte Alexas Schulter und schüttelte dann Tom begeistert die Hand. »Tom, wie schön, dich zu sehen! Das ist Maria Franconi. Ich glaube nicht, dass ihr euch kennt.«

Lächelnd schüttelte auch Maria Tom die Hand und murmelte: »Ich freue mich, Sie kennen zu lernen.«

»Die Freude ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte Tom lächelnd.

Maria gab Anja einen Kuss auf die Wange, dann warf sie Alexa, die noch auf dem Sofa saß, einen Blick zu und rang sich ein Lächeln ab. »Hallo, Alexa.«

»Hallo, Maria«, erwiderte Alexa kühl.

»Sei so lieb, Nicky, und schenk Maria ein Glas Champagner ein«, sagte Anja.

»Oh nein, Anja, danke, ich hätte lieber Wasser«, erklärte Maria.

Nicky erwiderte: »Kommt sofort, meine Süße, aber ich glaube, ich trinke einen Schluck Champagner.« Er trat auf die Kommode zu.

»Setz dich doch, Maria«, forderte Anja sie auf und wies auf den Sessel neben sich. »Ich hatte noch keine Gelegenheit, es dir zu sagen, aber ich habe mir die Fotos angesehen. Deine Bilder sind außergewöhnlich gut! Aber du warst ja schon auf der Schule eine großartige Malerin.«

Erfreut antwortete Maria: »Danke, Anja. Dein Urteil bedeutet mir viel.«

Nicky brachte Maria ihr Wasser und stellte sich dann vor den Kamin, um sie alle zu betrachten. Er hob sein Glas und sagte: »Cheers, auf euch!«

»Cheers«, erwiderte Tom.

»Santé, mein lieber Nicky«, murmelte Anja.

Alexa hob nur lächelnd ihr Glas. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie Maria, wobei sie dachte, dass Anja nicht übertrieben hatte. Maria Franconi sah ganz anders aus als vor sieben Jahren. Sie war jetzt wirklich eine schöne Frau.

Nicky warf Tom einen Blick zu und fragte: »Habe ich eben gehört, wie du von Lucien Girard gesprochen hast, oder habe ich mir das nur eingebildet?«

Es wurde still im Zimmer. Tom und Alexa wechselten einen Blick.

Anja entgegnete rasch: »Oh, es war nichts Wichtiges, Nicky, Tom hat ihn nur zufällig erwähnt. So, ich möchte euch nicht drängen, aber wir sollten hier nicht mehr so lange herumstehen. Honorines Tochter, Yvonne, ist heute zum Kochen da, und für den ersten Gang hat sie sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Also, trink aus, Nicky.«

Kurz darauf erschien Honorines grauer Lockenkopf an der Tür zum Wohnzimmer. Strahlend verkündete sie: »Le déjeuner est prêt, Madame.« Damit verschwand sie wieder.

Sie tranken aus und gingen alle die Treppe hinunter. Alexa blieb hinter den anderen zurück und flüsterte Anja zu: »Wie viel hat Nicky gehört, was meinst du?«

Anja zuckte mit den Schultern und erwiderte leise: »Ich weiß nicht ...« Zögernd fügte sie hinzu: »Aber vergiss nicht, er und Larry kannten Lucien auch, schließlich hat Larry ihn Jessica vorgestellt. Vielleicht lohnt es sich ja, ihm ein paar Fragen zu stellen.«

»Nicky ist in Ordnung, aber Maria traue ich nicht. Möglicherweise erzählt sie es Jessica, und das wäre eine Katastrophe.«

»Sie weiß ja gar nicht, wo Jessica wohnt«, murmelte Anja.

»In welchem Hotel ist sie denn?«

»Im Plaza Athénée.«

Tom rief zu ihnen herauf: »Nun kommt schon – Nicky und Maria warten bereits im Esszimmer.«

Die beiden Frauen stiegen die Treppe hinunter, und unten angekommen, rief Anja aus: »Entschuldigt, meine Lieben, ich bin leider heute ein wenig steif. Alexa hat mir geholfen.«

Nicky ergriff Anjas Arm und führte sie ins Esszimmer, von dem aus man über den gepflasterten Hof und den Garten blickte. Der Raum war mit verschiedenen Schattierungen von Hell- und Dunkelgrün eingerichtet, die durch Weiß ergänzt wurden. Die weißen Stores, das dunkle Holzparkett und zahlreiche weiß blühende Pflanzen ließen den Raum frisch und kühl erscheinen.

Am runden Tisch aus glänzend poliertem Eibenholz, der von fünf Louis-XV.-Stühlen mit weiß-grün karierten Polstern umgeben war, stützte Anja sich mit einer Hand auf einem Stuhl ab und sagte: »Maria, setz dich links neben mich, und Sie, Tom, bitte rechts von mir. Alexa, Liebes, du setzt dich neben Tom, und du, Nicky, du kannst zwischen Maria und Alexa sitzen.«

Lächelnd ließ sie sich nieder. »Ja, ich glaube, so ist es angenehm.« Sie wandte sich an Nicky. »Würdest du bitte den Weißwein ausschenken? Zum Hauptgang gibt es dann einen Rotwein.«

Nicky hatte ihren Wunsch gerade erfüllt, als Honorine mit einem großen Tablett ins Zimmer trat. Ihre Tochter Yvonne folgte ihr mit einem kleineren Tablett. Leise begrüßte sie die Gäste und trat mit ihrer Mutter an den Serviertisch.

Kurz drauf saßen sie alle vor einem Käsesoufflé, das sie einmütig als köstlich bezeichneten. Nicky verkündete: »Es ist so leicht wie Babyatem!« Alle lachten, und das Eis war gebrochen, aber Anja bemerkte dennoch, dass Alexa und Maria es vermieden, miteinander zu sprechen. Tom und Nicky jedoch waren in ein lebhaftes Gespräch über die Filmbranche vertieft.

Anja wandte sich an Maria und sprach mit ihr über ihre Bilder, während Alexa sich am Gespräch der beiden Männer beteiligte. Nicky erzählte von dem neuen Film über Maria Stuart, und Tom lauschte fasziniert.

Nachdem die Vorspeisenteller abgeräumt worden waren, servierte Nicky allen außer Maria den Mouton Rothschild, und Tom schenkte Mineralwasser ein. Kurz darauf erschien Honorine wieder, dieses Mal mit gebratener Lammkeule, wieder gefolgt von Yvonne, die Schüsseln mit Gemüse und Bratkartoffeln brachte. Die beiden Frauen legten ihnen vor, dann gingen sie wieder. Kurz darauf kam jedoch Honorine noch einmal mit der Sauciere, die sie auf den Tisch stellte.

Anja bat noch um eine andere Sauce, wobei sie erklärte: »Bei Lamm bin ich sehr englisch ... Das liegt wohl an meiner Erziehung. Ich liebe es dünn geschnitten und mit Mintsauce.« Sie lachte. »Die Franzosen schaudert es, wenn sie das sehen.«

»Sie können sich eben einfach nicht vorstellen, wie jemand eine Sauce über sein Fleisch gießen kann, die mit Essig zubereitet wird«, erwiderte Nicky grinsend. »Du weißt ja, dass ich Lamm genauso esse.«

Während sie den Hauptgang verzehrten, plätscherte die Unterhaltung locker dahin. Ab und zu blickte Anja sich um und freute sich, dass sie heute alle bei ihr waren und dass die Atmosphäre gelöst war. Maria allerdings schien sich weniger wohl zu fühlen als Alexa. Zweifellos hatte Alexa die Wahrheit gesagt, als sie Maria die Schuld am Zerbrechen ihrer Freundschaft gegeben hatte, aber es war doch schon so lange her. Anja wünschte sich, die Mädchen könnten den Vorfall einfach vergessen. Und was Maria anging, so war sie eine so große Künstlerin, dass es wirklich eine Schande war, sie in einem Textilunternehmen in Mailand versauern zu lassen. Aber eigentlich ging sie das ja nichts an, dachte Anja. Sie hoffte nur, dass Nicky sich für das Mädchen als der Ritter in glänzender Rüstung erweisen würde, der sie aus der Gefangenschaft befreite.

Nach dem Mittagessen bat Anja alle nach oben. Sie schenkte gerade den Kaffee aus, als Tom fragte: »Darf ich einmal Ihr Telefon benutzen, Anja?«

»Aber natürlich«, erwiderte sie. Mit einem Blick auf Alexa fuhr sie fort: »Zeigst du bitte Tom das kleine Zimmer hinten am Flur, Alexa?«

Alexa nickte und ging mit Tom aus dem Zimmer. Als sie auf dem Flur standen, zog er sie in die Arme und küsste sie. Als er sich wieder von ihr löste, meinte er: »Wir sollten doch nicht ins Kino gehen. Was hältst du davon, wenn wir direkt zu mir nach Hause fahren?«

Liebevoll lächelte Alexa ihn an. »Abgemacht, Tom Conners.«

Alexa öffnete die Tür zu der kleinen Kammer und sagte: »Bleib nicht zu lange.«

Während sie zurückging, fragte sich Alexa, ob sie Nicky von Lucien Girard erzählen sollte. Normalerweise hätte sie es getan, aber Marias Anwesenheit hielt sie davon ab. Sie traute ihr eben nicht mehr. Schon damals hatte sie nichts für sich behalten können.

Äußerlich jedoch hatte sie sich sehr verändert. Sie hatte immer gerne und viel gegessen, und während ihres Studiums war sie ein wenig mollig gewesen. Jetzt aber hatte sie eine blendende Figur, und mit ihrem schönen Gesicht und den dicken schwarzen Haaren wirkte sie wie ein Filmstar. Sie sah fast aus wie Penelope Cruz.

Als Alexa ins Wohnzimmer trat, stand Maria am Fenster. In ihrer dunkelroten Hose, der Seidenbluse und dem dazu passenden Jackett wirkte sie lässig und elegant. Ihre schwarzen Haare trug sie offen, und ihr Gesicht wirkte im Profil unglaublich schön.

Kein Wunder, dass Nicky sich in sie verliebt hat, dachte Alexa und setzte sich neben ihm auf das Sofa. Man sah ihm deutlich an, dass er völlig in Marias Bann stand.

Sie warf Nicky einen Blick zu. »Ich kann es kaum erwarten, das Drehbuch zu sehen. Wenn ich es gelesen habe, fährt Tom mit mir an die Loire. Er meint, dort finden wir bestimmt einen geeigneten Drehort.«

»Da hat er Recht. Vielleicht sollten wir alle für ein Wochenende dorthin fahren«, schlug Nicky vor.

Alexa riss die Augen auf. »Machst du Witze?«

»Oh, ich weiß, dass du wütend auf Maria bist«, erwiderte Nicky. »Sie hat mir alles erzählt. Aber ehrlich gesagt, ist es langsam an der Zeit, dass ihr den Streit vergesst und euch wie erwachsene Frauen benehmt.«

»Hört! Hört!«, rief Anja aus. »Zeit für eine Aussprache!«

Maria setzte sich zögernd auf die Kante eines Sessels und sagte leise: »Es tut mir Leid, Alexa, dass ich dir so viel Ärger gemacht habe. Ich bedauere es wirklich. Aber ich war damals noch jung, ich wollte nicht ...«

»Du hast mich verraten!«, unterbrach Alexa sie. Es hatte all die Jahre so geschmerzt, und jetzt war sie nicht bereit, Maria auch nur einen Zollbreit entgegenzukommen.

»Das war nicht meine Absicht! Es war Zufall. Ein Irrtum meinerseits. Ich habe immer ... es tut mir so Leid, Alexa.«

Alexa musterte sie finster. »Ich hatte niemals Interesse an Riccardo. Das hast du dir nur eingebildet. Und du hast daraus eine Riesensache gemacht. Du hast die Geschichte so aufgebauscht, dass sogar Jessica sich gegen mich gestellt und dir den Rücken gestärkt hat. Sie hat dir geglaubt und hat mir die Freundschaft aufgekündigt. Du hast meine Freundschaft mit Jessica zerstört, Maria.«

»Es tut mir schrecklich Leid, Alexa«, entschuldigte sich Maria noch einmal. Sie war ganz blass geworden und blickte Alexa bekümmert an.

»Du warst einfach nur neidisch und eifersüchtig«, fuhr Alexa sie an. »Eifersüchtig auf meine Freundschaft mit Jessica.«

»Das stimmt nicht. Das ist nicht wahr.« Maria standen die Tränen in den Augen.

»Das reicht, Mädchen«, warf Anja in bestimmtem Tonfall ein. »Ich möchte, dass ihr beiden morgen früh zum Kaffee zu mir kommt. Jessica und Kay werden auch da sein, und dann wird die Angelegenheit ein für allemal geklärt. Ich möchte nicht, dass mein Fest unter eurem Streit leidet. Lassen wir es jetzt dabei bewenden. Das ist nicht der richtige Zeitpunkt.«

In diesem Moment trat Tom wieder ins Zimmer, und an seinem Gesichtsausdruck erkannte Alexa, dass sein Vater ihm offenbar etwas erzählt hatte, was er für interessant hielt. Er wollte es ihr sicher mitteilen, deshalb sagte sie rasch: »Tom, du kannst vor Nicky und Maria sprechen.«

Überrascht blickte er sie an und zog fragend eine Augenbraue hoch.

Alexa wandte sich an Maria. »Wir werden jetzt etwas besprechen, das mit Lucien Girard zu tun hat. Aber du darfst Jessica nichts davon verraten. Verstehst du das, Maria?«

»Ja. Ich werde kein Sterbenswörtchen sagen.«

Nicky fragte interessiert: »Um was handelt es sich denn, Tom?«

Fragend blickte Tom Alexa an. Sie nickte leicht, und er erklärte den beiden, wie er auf das Foto in Alexas Album gestoßen war.

»Oh«, keuchte Maria auf, »dann lebt Lucien also noch?«

»Das wissen wir nicht sicher«, erwiderte Tom und fuhr fort: »Aber nach dem, was mein Vater mir erzählt hat, könnten die beiden Männer tatsächlich ein und dieselbe Person sein.«

Nicky runzelte die Stirn. »Ich kannte Lucien nicht besonders gut, Tom, aber er war eigentlich nicht der Typ, um ein – wie soll ich es formulieren? –, um ein Doppelleben zu führen oder Spielchen zu spielen. Und wer ist das, der ihm so ähnlich sieht?«

»Ein Mann namens Jean Beauvais-Cresse. Er ist Anfang dreißig. Zuerst habe ich angenommen, er sei vielleicht Luciens Bruder und Lucien Girard möglicherweise nur ein Bühnenname. Mein Vater hat mir jedoch erzählt, dass Jeans einziger Bruder vor ungefähr sieben Jahren starb.«

Maria und Alexa wechselten einen Blick, schwiegen aber beide.

»Er sagte mir, der Bruder sei der älteste Sohn gewesen und bei einem schrecklichen Autounfall ums Leben gekommen. Meine Eltern wohnten damals noch nicht dort. Das ist nur der übliche Dorfklatsch, und daher kennt Dad nicht alle Einzelheiten. Nach dem tragischen Tod seines Ältesten erlitt der Vater einen Schlaganfall. Der ältere Sohn war der Erbe gewesen. Jean, der jüngere Sohn, galt als schwarzes Schaf, hat mein Vater gehört. Er lebte jahrelang in Paris und kam erst wieder nach Hause, als sein Vater nach dem Schlaganfall nach ihm verlangte. Als der alte Mann starb, erbte Jean alles. Mehr wusste Dad auch nicht.«

»Meinst du nicht auch, dass das zu Luciens Verschwinden passt?«, fragte Alexa. Sie blickte Tom eindringlich an.

Er nickte. »Zumindest passt der zeitliche Rahmen«, erwiderte er vorsichtig.

Nicky sagte: »Lasst uns doch noch einmal zusammenfassen. Vor sieben Jahren verschwindet Lucien Girard spurlos. Vor sieben Jahren stirbt Jeans älterer Bruder plötzlich, sodass Jean auf einmal der Erbe ist. Aber kann es denn nicht sein, dass Lucien der ältere Bruder ist und dieses schreckliche Schicksal erlitten hat?«

»Daran habe ich auch gedacht«, erwiderte Tom. »Aber mein Vater sagte, der älteste Sohn sei sehr viel älter gewesen als Jean, ungefähr fünfzehn Jahre, weil er aus der ersten Ehe stammte.«

»Dann könnten also Jean und Lucien durchaus ein und dieselbe Person sein«, warf Anja ein.

»Ja, das könnten sie.« Tom setzte sich und fuhr fort: »Aber es ist auf jeden Fall eine schwierige Situation. Mein Vater hat gesagt, er zieht noch ein paar Erkundigungen ein. Ich rufe ihn morgen noch einmal an. In der Zwischenzeit darf Jessica nichts davon erfahren. Es wäre nicht fair, weder ihr noch Jean Beauvais-Cresse gegenüber.«

»Wir brauchen jemanden, der überprüfen kann, ob Jean jemals Schauspieler war und den Künstlernamen Lucien Girard verwendete«, sagte Alexa. »Dann hätten wir etwas Konkretes in der Hand.« Nachdenklich blickte sie Nicky an.

»Oh nein, nicht ich«, rief er aus. »Ich kenne doch Lucien kaum. Und Larry kannte ihn eigentlich auch nicht besonders gut.«