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»Lass uns zu Fuß gehen«, schlug Tom vor, als sie sich verabschiedet hatten und auf die Straße traten.

»Gute Idee«, stimmte Alexa zu und hakte sich bei ihm ein. »Ich mag den siebten Bezirk auch so gerne. Eigentlich ist es mein Lieblingsviertel.«

Tom ergriff lächelnd ihre Hand. Sie schlenderten in Richtung Rue de Solferino und zu den Quais am Ufer der Seine.

Es war warm und sonnig, und der Himmel spannte sich klar und wolkenlos blau über ihnen.

Das siebte Arrondissement war eine elegante Gegend, und Toms Wohnung im Faubourg Saint-Germain lag ganz in der Nähe. Auch so berühmte Gebäude wie die Académie Française, die École Militaire oder der Invalidendom, der das Grab Napoleons beherbergte, waren nicht weit entfernt. Aber Tom und Alexa gingen achtlos an den Sehenswürdigkeiten vorbei.

Eine Zeit lang spazierten sie am Quai Anatole France entlang, freuten sich aneinander, am schönen Wetter und am Blick auf die Seine. Der Fluss glitzerte im Sonnenlicht, und eine leichte Brise rauschte durch die Blätter der Bäume.

Sie blieben einen Moment lang stehen, und Alexa lächelte beim Anblick der kleinen bunten Dampfer, der bateaux-mouches, die auf dem Fluss leise schaukelnd vor Anker lagen.

Sie hatte die Schiffsfahrten, die sie früher so oft mit Tom unternommen hatte, sehr geliebt, vor allem abends. Paris bei Nacht war ein romantischer, magischer Anblick mit den unzähligen Lichtern der Stadt, die sich in der Seine spiegelten.

Als ob er ihre Gedanken gelesen hätte, sagte Tom: »Wir müssen unbedingt mal wieder mit einem bateau-mouche fahren. Abends war es immer besonders schön.«

»Seltsam, Tom, ich habe gerade das Gleiche gedacht.«

Hand in Hand schlenderten sie zum Quai Voltaire. Vor ihnen ragten im nachmittäglichen Dunst die Türme von Notre Dame auf. Das Licht war weich, ein Licht, das Generationen von Künstlern fasziniert hatte.

Paris war Alexa noch nie schöner vorgekommen als heute. Die Stadt überraschte sie immer wieder. Ihr fiel ein, wie sie einmal plötzlich in ein Gewitter geraten und durch die Straßen geeilt war, um ein Taxi zu finden. Doch dann hatte es ihr so gut gefallen, durch den Regen zu laufen, dass sie zu Fuß weitergegangen war ... An jenem Abend war sie so glücklich gewesen, glücklich darüber, in Paris zu sein ...

Als sie am Quai Malaquais ankamen, sagte Tom: »Komm, wir gehen nach Saint-Germain-des-Prés und trinken dort noch etwas. Einen Kaffee oder so.«

Alexa nickte zustimmend, und sie liefen in das Gewirr schmaler, gepflasterter Straßen hinein. Schicke Boutiquen, Antiquitätenläden, Kunstgalerien und pittoreske Cafés verliehen diesem Viertel Charme und Charakter. Ab und zu blieben sie stehen, um die Auslagen eines Schaufensters zu betrachten, und sie schauten rasch bei Toms Lieblingsgalerie hinein.

Als sie die Place de L’Odéon erreichten, war Alexa klar, dass Tom mit ihr ins Café Voltaire gehen wollte.

Sie fanden einen Tisch draußen und ließen sich unter der Markise nieder. Tom lockerte seine Krawatte und öffnete den obersten Hemdknopf. »Es ist ziemlich warm geworden«, bemerkte er.

»Ja.« Sie nahm den Pullover ab, den sie um die Schultern geschlungen hatte, und legte ihn sich über die Knie. Dann fragte sie Tom: »Kommst du denn auf Anjas Fest, wenn sie dich einlädt?«

»Nur als dein Begleiter.« Er zögerte, dann hob er fragend eine Augenbraue. »Oder kommt dein englischer Freund mit?«

»Natürlich nicht!«, rief sie empört aus. »Ich bin allein eingeladen, und bei den anderen Frauen ist es bestimmt ebenso. Nicky hat mir erzählt, es seien nur ihre Lieblingsstudenten, ihre ziemlich große russische, englische und französische Familie und ein paar von ihren alten Freunden eingeladen.« Sie blickte ihn eindringlich an. »Außerdem habe ich dir doch gestern Abend gesagt, dass ich mit dir zusammen sein möchte. Wie kannst du annehmen, ich würde mit Jack dorthin gehen wollen? Wenn ich ihn gebeten hätte mitzukommen, würde ich ihm jetzt eben absagen.«

Sie klang so ärgerlich, dass er ihre Hand an die Lippen zog und sie küsste. »So eine liebe kleine Hand, ich liebe sie so«, murmelte er. »Sei nicht so streng mit mir, Alexa.«

»Das bin ich ja gar nicht.« Sie räusperte sich und wechselte das Thema. »Hat dein Vater sonst noch was erzählt? Hast du bei Anja irgendetwas verschwiegen?«

»Eigentlich nicht. Dad hat allerdings gesagt, dass Jean Beauvais-Cresse sehr zurückgezogen lebt, man sieht ihn wohl nur selten im Ort oder in der Kirche. Übrigens ist er verheiratet und hat ein Kind. Aber mehr wusste Dad wirklich nicht. Wie ich schon sagte, meine Eltern leben noch nicht so lange dort, und das meiste wissen sie nur durch den Dorfklatsch.«

»Ich verstehe.« Alexa schwieg und blickte vor sich hin.

Nach einer Weile sagte Tom: »Ist irgendetwas, Alex? Du siehst so nachdenklich aus.«

Ein leises Seufzen entschlüpfte ihr. »Ich habe gerade über Lucien Girard nachgedacht. Wenn er tatsächlich Jean Beauvais-Cresse ist und eines Tages einfach so beschlossen hat, wieder in sein altes Leben zurückzukehren, dann muss er ein sehr grausamer Mann sein. Überleg dir doch mal, was er Jessica angetan hat. Sie hat damals furchtbar gelitten, Anja hat mir erzählt, dass sie nie geheiratet hat. Wahrscheinlich träumt sie immer noch von Lucien.«

Er runzelte die Stirn. »Glaubst du?«

»Ja, das glaube ich.« Sie lachte leise. »Frauen neigen dazu, weißt du.« Mich eingeschlossen, dachte sie, sagte es jedoch nicht. »Und außerdem, Tom, überleg dir doch, was für Ängste sie gehabt haben muss, weil sie glaubte, es sei ihm etwas Schreckliches geschehen.« Sie seufzte. »Es macht mich rasend.«

»Das kann ich gut verstehen. Nicky hat Lucien offenbar nicht besonders gut gekannt, und wenn mein Vater nichts herausbekommt, dann sollten wir wahrscheinlich einfach vergessen, dass ich Jean je erwähnt habe.«

»So leicht geht das nicht.« Alexa kniff die Augen zusammen. Sie wandte sich zu Tom und legte ihm die Hand auf den Arm. »Ich glaube, ich habe eine Idee ... wie wir die Wahrheit herausfinden können.«

Der Kellner kam mit ihrem Kaffee, und als er wieder weg war, sagte Alexa leise: »Pass auf, ich denke, das Beste wird sein, wir fahren hin und reden mit diesem Mann.«

Tom war offensichtlich nicht wohl bei dieser Idee. Er holte tief Luft und erwiderte: »Das gibt bestimmt Probleme ... vielleicht sogar juristischer Natur.«

»Nein, nein, so habe ich es nicht gemeint«, rief Alexa aus. »Wenn du dir einen Tag freinehmen kannst, fahren wir nächste Woche mit Jessica an die Loire. Vielleicht auch am Wochenende. Wenn wir bei Jean angekommen sind, bleiben Jessica und ich erst einmal im Auto, und du läutest. Wenn Jean die Tür öffnet, kannst du ihm ja erst einmal erzählen, du seiest mit einer Klientin unterwegs, die auf der Suche nach geeigneten Schauplätzen für einen historischen Film ist. Sobald ihr in ein Gespräch verwickelt seid, steigen Jessica und ich aus dem Wagen und kommen zu euch. Wenn er wirklich Lucien ist, dann wissen wir es auf der Stelle, weil er nämlich einen Schock bekommen wird.«

Tom nickte. »Ich verstehe. Und wenn er nicht Lucien ist, dann erkennt er euch beide eben nicht. Meinst du das?«

»Genau.«

»Aber, Alex, Lucien war Schauspieler. Er kann sich bestimmt gut verstellen.«

»So ein toller Schauspieler war er nun auch wieder nicht.«

Tom lachte und schüttelte den Kopf. »Allerdings musst du es Jessica dann erzählen, und wer weiß, was das für Folgen für sie hat.«

»Ja, sicher. Aber es ist doch auch gut, wenn wir dieses Rätsel endlich lösen können – dann kann sie alles abschließen, oder?«

»Ja«, gab Tom zu. »Aber ich möchte noch einmal darüber schlafen, Alex, bevor ich eine Entscheidung treffe. Im Moment sagen wir Jessica also besser noch nichts.«

»Ja, da hast du Recht«, erwiderte sie.

»Wo ist denn das Haus deiner Eltern an der Loire?«, fragte Alexa auf dem Heimweg.

»Die Gegend, in der sie wohnen, wird das Tal der Könige genannt«, erwiderte Tom. »Sie liegt zwischen Orleans und Tours und heißt so, weil dort so viele prächtige Schlösser stehen.«

»Ja, das habe ich bei Anja gelernt«, sagte Alexa. »Es gibt dort fast dreihundert Schlösser, darunter auch die bekanntesten und prachtvollsten ... Chambord, Cheverny, Chinon, Chaumont, Amboise, Azay-le-Rideau, Close-Lucé und Chenonceaux. Es muss wirklich wunderschön dort sein.«

»Herrlich«, erwiderte Tom. »Aber meine Eltern haben kein großes Schloss, Alex. Nur ein kleines Landhaus am Cher, einem Nebenfluss der Loire. Es ist wirklich nicht besonders groß, aber gerade deshalb lieben sie es. Und es ist nur anderthalb Stunden von Paris entfernt, sodass sie schnell in ihrer Stadtwohnung sind.«

»Dann könnten wir also auch an einem Tag hin und wieder zurück fahren?«

»Ja. Falls wir Jean besuchen«, erwiderte er ruhig. »Aber lass uns nichts überstürzen. Außerdem muss ich auch meinen Vater vorbereiten. Ich möchte nicht, dass meine Eltern Probleme bekommen.«

»Das verstehe ich natürlich. Hast du eigentlich deinem Vater die ganze Geschichte erzählt? Von Lucien und Jessica, meine ich.«

»Ja; du kennst doch Dad. Er war ja nicht umsonst fünfundzwanzig Jahre Top-Manager. Er wusste genau, welche Fragen er stellen muss, um der Sache auf den Grund zu gehen. Er war übrigens sehr verständnisvoll.«

»Das habe ich mir gedacht. Ich habe deinen Vater schon immer gern gemocht ... Er erinnert mich an dich. In ein paar Jahren wirst du genauso sein.«

Tom lachte. »Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm, was?«

»Genau. Wo liegt denn übrigens Jeans Haus?«

»Ganz in der Nähe. Aber es ist kein Haus, Alex, sondern eins dieser prächtigen Schlösser, von denen wir eben geredet haben. Uralt. Es gehört schon seit Jahrhunderten der Familie Beauvais-Cresse. Ich glaube, es wurde so um 1600 erbaut. Heute wird es größtenteils landwirtschaftlich genutzt.«

»Bei Anja hast du was von einem Titel erwähnt.«

»Ja. Mit vollem Namen heißt Jean Marquis de Beauvais-Cresse.«

»Ich verstehe.« Sie seufzte. »Das ist wirklich eine irre Geschichte, oder? Wenn man bedenkt, dass Lucien über Nacht einfach verschwunden ist ...«

»Das kommt ja im Grunde häufig vor«, entgegnete Tom. »Weltweit verschwinden jeden Tag Hunderttausende von Menschen. Aber lass uns von etwas anderem sprechen. Warst du schon mal in Chenonceau?«

»Nein.«

»Da müssen wir unbedingt zusammen hin. Aber wir können nicht alles auf einmal machen, dafür müssen wir extra ein Wochenende planen. Dann könnten wir bei meinen Eltern übernachten – es ist nicht weit von dort. Chenonceau hat nämlich eine Verbindung zu Maria Stuart ... der petite Reinette d’Écosse, wie man sie damals in Frankreich genannt hat.«

»Was für eine Verbindung?«

»Das legendäre Schloss hat einmal Henri II. gehört, der es seiner Maitresse, Diane de Poitiers, schenkte: Henri, sein Sohn François II. und dessen Frau Maria Stuart waren häufig zu Besuch.«

»Wie interessant. Ich würde es mir gerne anschauen und auch ein paar andere Schlösser. Vielleicht gibt es ja auch noch ein paar Schlossbesitzer, die uns bei sich drehen lassen würden.«

»Mit Sicherheit.«

Schweigend gingen sie eine Weile nebeneinander her. Auf einmal blieb Tom stehen, ergriff Alexas Arm und drehte sie zu sich. Er blickte ihr tief in die Augen und sagte: »Streit hin oder her – du bist Jessica wirklich eine gute Freundin. Ich bewundere dich dafür.«

»Als Lucien verschwand, hat sich ihr Leben radikal geändert«, erwiderte Alexa. »Und nichts ist jemals wieder so geworden wie vorher. Da nie eine Leiche gefunden wurde, konnte sie die Sache auch nicht abschließen. Wahrscheinlich hat sie sich deshalb nie mehr mit einem anderen Mann eingelassen. Und jetzt habe ich die Chance, ihr zu helfen. Warum sollte ich es nicht tun?«

Tom blickte sie forschend an und zog sie in die Arme. Mit den Lippen auf ihren dunklen Haaren sagte er leise: »Ich sehe in dein Herz, meine süße Alex ... Du bist ein guter Mensch.« Sie antwortete nicht, und er hielt sie eine Zeit lang fest umschlungen. Dabei dachte er: Sie heilt die Wunden in meinem Herzen und macht mich wieder ganz.