Eine Woche später fuhren sie an einem warmen Samstagmorgen ins Loiretal.
Tom saß am Steuer seiner großen, dunkelroten Mercedeslimousine, und neben ihm auf dem Beifahrersitz saß Mark Sylvester. Alexa, Jessica und Alain Bonnal saßen hinten.
Obwohl es warm war, verschwand die Sonne immer wieder hinter dicken, dunklen Wolken. Tom hoffte inständig, dass es nicht regnen würde, da er so schnell wie möglich zum Haus seiner Eltern in der Nähe von Tours gelangen wollte.
Dort würden sie sich frisch machen und frühstücken, bevor sie dann nach Montcresse fuhren, dem Schloss, das Jean Beauvais-Cresse gehörte. Nur Tom, die beiden Frauen und Alain wollten mitfahren, das hatten sie gestern beim Abendessen beschlossen. Mark würde bei Toms Eltern bleiben. Nach der Begegnung mit Jean würden sie zum Mittagessen zurückkommen und dann am Nachmittag wieder nach Paris fahren.
Es war noch früh am Morgen, und niemand war so recht zum Reden aufgelegt. Tom legte eine CD ein, und leise Hintergrundmusik aus großen Hollywoodfilmen ertönte.
Jessica hatte die Augen geschlossen; sie schlief jedoch nicht. Sie tat nur so, um ungestört ihren Gedanken nachhängen zu können.
Sie war fest entschlossen gewesen, sich diesen Mann, der Lucien so täuschend ähnlich sah, anzuschauen, aber jetzt war sie doch ein wenig nervös.
Andererseits waren ja Mark und Alain dabei, und das half ihr sehr. Alain hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, und sie hatte sich damit einverstanden erklärt. Ohne ihn hätte sie die erste Zeit nach Luciens Verschwinden kaum überstanden. Abgesehen davon kannte er Lucien fast genauso gut wie sie, und falls sie sich unsicher über die Identität des Mannes sein sollte, so konnte sie sich immer noch mit Alain besprechen.
Ob es wirklich Lucien war? Lebte er und war wohlauf? Vielleicht. Sie hatte ja die ganze Zeit so ein komisches Gefühl gehabt, dass Lucien irgendwo dort draußen war, das hatte sie ja auch Alain bei ihrem ersten Mittagessen in Paris erzählt. An jenem Tag war sie sich sicher gewesen, dass Alain auch nicht mehr wusste als sie, und das hatte er auch am letzten Montag in der Galerie Bonnal bewiesen.
Im Taxi hatte Alexa ihr von dem Foto von ihr und Lucien und von Toms Reaktion darauf erzählt. Zwar war Jessica im ersten Moment ein wenig verblüfft gewesen, aber wirklich schockiert hatte sie die Nachricht nicht. Seit Mark einige Wochen zuvor die Möglichkeit ins Spiel gebracht hatte, Lucien sei vielleicht absichtlich verschwunden, war sie auf alles gefasst.
Alain jedoch hatte die Geschichte mit Jean Beauvais-Cresse als unwahrscheinlich abgetan. Als er aber hörte, dass sie an die Loire fahren wollten, hatte er sie gebeten, mitfahren zu dürfen, und Jessica hatte eingewilligt, weil sie das Gefühl hatte, es ihm schuldig zu sein.
Die Vergangenheit, dachte sie jetzt. Vor sieben Jahren war ich vierundzwanzig und so unschuldig. Als ich Lucien mit zweiundzwanzig kennen lernte, war ich sogar noch naiver. Aber Lucien war auch nicht besonders kompliziert, nur ein gut aussehender, angenehmer junger Mann, der gerne Schauspieler war. Er liebte das Leben, und sie hatten gut zueinander gepasst. Und sie hatte sich wohl bei ihm gefühlt, sie hatten viele Pläne geschmiedet ... Kalifornien, wir kommen, hatten sie immer gesagt. Das war ihr Ziel gewesen. Ein Inneneinrichtungsgeschäft für sie, Hollywoodfilme für ihn ...
Alexa war am vergangenen Montag wundervoll gewesen, so lieb und mitfühlend. Sie hatte ihr Dilemma verstanden. Aber sie hatte auch darauf gedrängt, an die Loire zu fahren, um den Mann zu stellen, und schließlich hatte auch Jessica das Gefühl gehabt, es sei notwendig.
Sie wollte, nein, sie musste dieses Kapitel endlich abschließen ... und das konnte sie nur, wenn sie zu Jean Beauvais-Cresse fuhr. Wenn er es nicht war, dann war kein Schaden entstanden, und vielleicht konnte sie es trotzdem abschließen.
Wenn er jedoch Lucien war, dann würde sie endlich Antworten bekommen auf die bohrenden Fragen, die sie seit Jahren quälten.
Das hatte sie auch gestern zu Mark gesagt, als sie sich im Le Relais zum Abendessen trafen. Er hatte sie zu der Fahrt ermutigt und gleichzeitig darum gebeten, sie begleiten zu dürfen. »Ich mag dich, Jessica«, hatte er gesagt, »und falls du mich brauchst, möchte ich gerne da sein. Ich bin nämlich dein Freund, weißt du?« Lächelnd hatte sie seinen Arm gedrückt und gesagt, sie wäre erleichtert, wenn er mitkäme. Und das hatte sie ernst gemeint.
Tom verließ die Autobahn in Tours, fuhr um die Stadt herum, an Amboise vorbei und von dort Richtung Loches. »Wir sind gleich da«, sagte er, und alle blickten erwartungsvoll aus dem Fenster.
Eine Viertelstunde später bog Tom in eine Einfahrt ein. Das Eisentor stand einladend offen. Am Ende der kurzen Auffahrt befand sich ein reizendes altes Herrenhaus, wie es typisch für die Gegend war. Hell und elegant hob es sich vor dem Laub der Bäume und dem strahlend blauen Himmel ab.
Als Tom vor der Haustür den Motor abstellte, ging die Tür auf, und sein Vater eilte die Treppe herunter.
Nachdem er seinen Sohn, der eine jüngere Ausgabe von ihm war, umarmt hatte, begrüßte er Alexa liebevoll, und dann stellte Tom die Übrigen vor.
»Kommt, lasst uns hineingehen und frühstücken«, schlug Paul Conners vor und führte sie in die Eingangshalle mit ihren Terrakottafliesen und weiß getünchten Steinwänden, an denen Wandteppiche hingen.
Christiane Conners, Toms Mutter, kam ihnen entgegen, und auch ihr stellte Tom die Gäste vor.
»Vielleicht möchtet ihr euch gerne ein wenig frisch machen«, schlug Christiane Jessica und Alexa vor. »Paul und Tom, kümmert ihr euch bitte um Mark und Alain?«
Die Frauen gingen über die gewundene Treppe ins Obergeschoss, und Christiane führte sie in ein hübsches Gästezimmer, das ganz in Blau gehalten war.
Jessica dachte, wie frisch und luftig doch das Zimmer wirkte, sagte jedoch nichts. Sie war angespannt und nervös, weil sie ihrem Ziel näher kam.
»Alles, was ihr braucht, findet ihr hier, Alexa«, sagte Christiane und wies auf die Tür zum Badezimmer.
»Danke.« Alexa wandte sich an Jessica. »Möchtest du als Erste hineingehen, Jess? Ich würde gerne ein wenig mit Toms Mutter reden.«
»Ja, gerne«, erwiderte Jessica und verschwand im Badezimmer.
Als sie alleine waren, trat Christiane zu Alexa und nahm sie in die Arme. Alexa hatte Toms Eltern immer gerne gemocht, und sie wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte. Sie gaben ihr immer das Gefühl, willkommen zu sein.
Christiane betrachtete sie forschend und sagte leise: »Ich war so glücklich, als ich gehört habe, dass du in Paris bist, ma petite, und dass ihr, du und Tom, wieder zusammen seid.« Fragend zog sie eine Augenbraue hoch: »Du bist doch auch glücklich, oder?«
»Ja, sehr«, erwiderte Alexa. »Wir gehören zusammen, und ich denke, das weiß Tom jetzt auch.«
»Ich hoffe es, chérie. Du tust ihm gut, das weiß ich ... ah, les hommes ... Manchmal können sie wirklich dumm sein.« Sie schüttelte den Kopf. »Aber was würden wir ohne sie anfangen?«
Als Jessica aus dem Badezimmer trat, sagte Christiane zu ihr: »Tom wollte, dass ich Ihnen alles über Jean Beauvais-Cresse erzähle, aber da gibt es nicht viel zu erzählen, Jessica.«
»Tom sagt, dass er ein rätselhafter Mann ist«, erwiderte Jessica und setzte sich in den Sessel gegenüber von Christiane, während sie auf Alexa warteten.
»Ein rätselhafter Mann?«, wiederholte Toms Mutter, schüttelte dann aber entschieden den Kopf. »Ich halte ihn eher für einen reclusé. Man sieht ihn nicht häufig in der Öffentlichkeit. Seine Frau auch nicht. Sie leben sehr zurückgezogen.«
»Vielleicht ist das ja ein Hinweis«, meinte Alexa, die gerade aus dem Badezimmer trat. »Das glaube ich jedenfalls.«
»Ich hoffe nur, dass wir bald eine Antwort bekommen«, murmelte Jessica.
Christiane nickte. »Lasst uns hinuntergehen und frühstücken. Ihr brennt bestimmt darauf, nach Montcresse aufzubrechen.« Sie eilte aus dem Zimmer, und die beiden Frauen folgten ihr.
Trotz ihrer sorgenvollen Gedanken nahm die Designerin in Jessica alle Details des Hauses wahr, als sie Toms Mutter und Alexa die Treppe hinunter folgte. Sie durchquerten die Eingangshalle und gelangten in einen ungewöhnlichen, kreisrunden Raum, der im hinteren Teil des Hauses lag und dessen zahlreiche Fenster auf den Garten hinausgingen. Weiter hinten glitzerte der Fluss in der Sonne.
»Wie schön!«, rief sie aus.
»Das ist das Sommeresszimmer«, erklärte Christiane und führte sie zu einem runden Tisch in der Mitte des Raums.
Als sie sich hinsetzten, betraten die Männer das Zimmer. »Setzt euch«, forderte Toms Vater die anderen auf. Er selbst setzte sich neben Alexa, ergriff ihre Hand und drückte sie.
Alexa lächelte ihn an. Sie dachte, wie gut er doch aussah. Tom wird genauso aussehen, wenn er fünfundsechzig ist. Ich möchte immer mit Tom zusammen sein. Ich möchte mein Leben mit ihm verbringen.
Paul sagte: »Na, was hast du gerade gedacht, Alex?«
Sie lachte. »Das kann ich dir unmöglich sagen.«
»Dann sage ich es dir«, erwiderte er mit einem wissenden Lächeln. Er beugte sich zu ihr und flüsterte ihr ins Ohr: »Du möchtest für den Rest deines Lebens mit ihm zusammen sein.«
Alexa blinzelte verwirrt. »Woher weißt du das?«
»Es steht dir ins Gesicht geschrieben, meine Kleine.«
Christiane schenkte Kaffee ein, und Tom ging mit einem Brotkorb um den Tisch herum.
»Was möchtest du, Alexa?«, fragte er, als er neben ihrem Stuhl stehen blieb.
»Dich«, formte sie stumm mit dem Mund und griff nach einem Croissant.
Tom küsste sie auf den Scheitel, erwiderte jedoch nichts.
Paul wandte sich an Alain. »Tom sagte mir, dass Sie Lucien Girard gut gekannt haben.«
»Oui, oui.« Alain nickte.
»Und wie war er damals so?«
»Oh, er war ein sehr ehrlicher und offener Mensch«, rief Alain aus. Ich kann mir kaum vorstellen, dass er ... dass er absichtlich verschwunden ist.«
»Das wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert«, warf Tom ein.
Paul nickte zustimmend. »Meistens gibt es einen guten Grund dafür. Kaum vorstellbar, wie seine Familie gelitten haben muss, von Jessica einmal ganz abgesehen.«
»Er hat mir erzählt, er sei Waise. Seine Eltern seien tot«, sagte Jessica.
»Mir hat er das Gleiche erzählt«, fügte Alain hinzu. »Keine Eltern oder Geschwister.«
»Und anscheinend auch keine Vergangenheit«, bemerkte Mark.
»Wenn man beabsichtigt, ein Doppelleben zu führen, dann ist es immer das Beste, die Geschichte so einfach wie möglich zu halten. Dann kann man auch nicht so viele Fehler machen«, erwiderte Paul.
»Das ist wohl wahr«, murmelte Christiane.
Alexa betrachtete Toms Mutter und dachte, wie hübsch sie doch war. Christiane hatte immer schon zu den Frauen gehört, die auch in Jeans und T-Shirt gut aussehen. Alexa bewunderte sie sehr, und sie war froh, dass Toms Mutter ihre Verbündete war.
Jessica hatte der Unterhaltung schweigend gelauscht, aber jetzt sagte sie: »Glaubst du, wir könnten möglichst bald aufbrechen, Tom? Ich bin schrecklich nervös, und ich möchte das Ganze nicht unnötig hinauszögern ...«
Tom und Alexa sprangen auf, und Tom erwiderte: »Natürlich können wir jetzt fahren.« Zusammen mit Alain und Jessica verließen sie das Zimmer.
Auch Mark schob seinen Stuhl zurück und eilte hinter Jessica her. Sie stand schon auf der Treppe vor dem Haus, als er sie eingeholt hatte. Er ergriff sie am Arm und zog sie an sich. Dann sagte er: »Es spielt keine Rolle, was du dort tatsächlich vorfindest, Jess, mein Liebling. Du wirst das Kapitel so oder so endlich abschließen können.«
Jessica rang sich ein Lächeln ab. »Du hast Recht, Mark, ich weiß. Ich bin nur so schrecklich nervös.«
Er nahm sie in die Arme und murmelte: »Es wird schon alles gut werden, Jessica. Dafür werde ich schon sorgen.«