31

Tom und Alain saßen vorne im Mercedes; Alexa und Jessica auf dem Rücksitz. Auf dem Weg nach Montcresse sprach niemand ein Wort, aber Alexa griff nach Jessicas Hand und drückte sie beruhigend.

Jessica saß ganz still und hielt fast den Atem an. Am liebsten hätte sie die Begegnung schon hinter sich gehabt und wäre wieder auf dem Rückweg nach Paris. Wahrscheinlich war Jean Beauvais-Cresse nur ein netter Mann, der ein zurückgezogenes Leben mit seiner Familie führte und nur zufällig eine gewisse Ähnlichkeit mit Lucien Girard hatte.

Tom durchbrach das Schweigen. »Da vor uns liegt Montcresse.«

Jessica und Alexa reckten die Hälse. Sie sahen ein prächtiges Château, das auf einer Anhöhe nicht weit von der Indre, einem weiteren Nebenfluss der Loire, stand. Die weißen Steinmauern schimmerten im Sonnenlicht, und die glockenförmigen, schwarzen Dächer der Türme verliehen dem massiven Gebäude ein verspieltes Aussehen.

Als Tom die Anhöhe hinauffuhr, fielen Jessica die gepflegten Rasenflächen entlang der kiesbestreuten Auffahrt auf. Hinter dem Schloss erstreckte sich dichter Wald. Zwei weitere Türme flankierten eine Zugbrücke, die in den Innenhof führte.

Langsam fuhr Tom in den Hof hinein und auf die Eingangstür zu.

Jessica krampfte sich der Magen zusammen, und einen Moment lang hatte sie das Gefühl, die Begegnung nicht durchstehen zu können. Fast hätte sie Tom gebeten, zu wenden und zurückzufahren. Sie warf Alexa einen hilflosen Blick zu.

Alexa drückte ihr beruhigend die Hand. »Es wird alles gut.«

Jessica nickte stumm.

Tom parkte an den Mauern des Schlosses, ein Stück von den massiven Eingangstüren entfernt. Dann drehte er sich auf seinem Sitz um und sagte zu den beiden Frauen: »Falls der Butler mich hineinbittet, wartet ihr fünf Minuten und kommt dann hinterher. Wenn ihr sagt, ihr gehört zu mir, dann lassen sie euch auch hinein.«

Er wandte sich an Alain und fuhr fort: »Am besten, du übernimmst das. Für dich ist es einfacher, mit dem Butler zu reden.«

»Natürlich, Tom, mach dir keine Sorgen«, erwiderte Alain.

Alexa fragte: »Und wenn Jean an die Tür kommt?«

»Dann verwickele ich ihn in ein Gespräch, und wenn ich euch winke, dann steigt ihr aus. Alles klar?«

»Ja«, erwiderte Alexa. Jessica nickte.

Tom stieg aus dem Wagen und ging über den gepflasterten Hof auf die Eingangstür zu. Als er näher kam, bemerkte er, dass sie nur angelehnt war. Er klopfte und wartete einen Moment, als sich jedoch nichts rührte, stieß er sie noch ein wenig weiter auf und rief: »Hallo?«

Kurz darauf erschien ein älterer Mann in einer gestreiften Schürze in der Eingangshalle. Er trug ein Silbertablett. Fragend neigte er den Kopf. »Bonjour, Monsieur.«

»Bonjour. J’aimerais voir Monsieur le Marquis.«

»Oui, oui, attendez une minute, s’il vous plaît.«

Er hatte die Worte kaum ausgesprochen, als Tom Schritte hinter sich hörte. Über den Hof kam Jean Beauvais-Cresse auf ihn zu. Offensichtlich war er gerade in den Stallungen gewesen. Er trug schwarze Reitstiefel, weiße Jodhpurs und einen schwarzen Rollkragenpullover. Grüßend hob er die Hand.

Tom erklärte: »Tom Conners ist mein Name. Ich bin Anwalt und vertrete die Produzenten eines historischen Films. Es tut mir Leid, dass ich einfach hier so eindringe, aber als ich an dem Schloss vorbeifuhr, baten mich meine Klienten anzuhalten. Sie waren bezaubert von Montcresse. Sie wollen nämlich einen Film über Maria Stuart machen und suchen hier an der Loire passende Drehorte ...«

»C’est pas possible«, unterbrach ihn Jean und lächelte bedauernd. »Viele Leute haben schon wegen Filmaufnahmen bei mir angefragt, aber es geht leider nicht, es tut mir Leid.«

»Ich verstehe«, erwiderte Tom. »Und was ist mit den Außenanlagen? Vielleicht können Sie uns Zugang zum Park gewähren.«

Jean Beauvais-Cresse zögerte plötzlich und schien zu überlegen. Dabei trat er in die Halle. »Dreharbeiten draußen wären vielleicht möglich«, sagte er schließlich.

Tom hörte ihm aufmerksam zu, sah jedoch aus den Augenwinkeln, wie Alexa, Alain und Jessica auf sie zukamen. Er erwiderte: »Wir würden ein sehr gutes Honorar bezahlen. Wir wären sehr vorsichtig, und außerdem ist die Produktionsfirma natürlich versichert.«

»Ich verstehe. Aber ich muss noch einmal darüber ...« Jean brach abrupt ab. Schock malte sich auf seinem schmalen Gesicht, und er wurde blass. Entsetzt riss er die Augen auf und klammerte sich an den Türrahmen.

Jessica trat vor. Sie hatte ihn sofort erkannt, genauso wie er sie erkannte. Er war es. Daran gab es keinen Zweifel.

Sie schluckte. »Ich habe oft gedacht, dass du irgendwo dort draußen noch bist ...« Tränen traten ihr in die Augen.

Jean starrte sie an, dann fiel sein Blick auf Alain und Alexa. Man sah ihm an, dass er auch sie erkannte, aber er blieb stumm.

Langsam schüttelte er den Kopf und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Tom zu. »Ihre Filmpläne sind sehr interessant«, murmelte er. Schwer seufzend zog er die Tür weiter auf. »Kommt doch herein«, sagte er.

Jessica zitterte innerlich, und ihre Knie gaben nach, aber es gelang ihr, hinter den anderen in die riesige Eingangshalle zu treten. Ihre Schritte hallten auf dem Steinboden.

Drei Stufen führten in einen langen, großen Raum mit Flügeltüren, die auf eine Terrasse gingen. Jessica achtete kaum auf die Umgebung, sie hatte nur einen vagen Eindruck von dunklen Holzmöbeln, verblichenen Stoffen und einem verschlissenen antiken Aubussonteppich. Der ganze Raum strahlte schäbige Eleganz aus.

Jean blieb mitten im Zimmer stehen und wies auf eine Sitzgruppe. »Bitte«, murmelte er. Er selbst stellte sich neben den Kamin.

Als alle saßen, blickte er Tom an und fragte: »Kennen wir uns aus Paris?«

»Nein.«

»Wie haben Sie ... In welcher Verbindung stehen Sie dazu?«

»Ich habe zufällig bei meiner Freundin Alexa ein Foto von Ihnen und Jessica gesehen. Als ich Ihren Namen erwähnte, sagte sie, der Mann auf dem Foto heiße Lucien Girard. Dann hat sie mir die Geschichte ... von Ihnen erzählt.«

»Ich verstehe.« Unruhig trat Jean von einem Fuß auf den anderen.

Jessica konnte sich nicht mehr beherrschen und fragte mit gepresster Stimme: »Warum? Warum hast du das getan? Warum bist du einfach verschwunden?«

Er antwortete nicht.

Niemand sagte etwas. Es wurde ganz still im Zimmer.

Draußen fuhr ein leichter Wind durch die Bäume, und in der Ferne zwitscherte ein Vogel. Durch die offenen Terrassentüren drang der süße Duft von Rosen herein. Ruhe und Frieden lag über dem Raum, aber man spürte doch deutlich, dass die Nerven aller zum Zerreißen gespannt waren.

»Ich glaube, du schuldest uns eine Erklärung«, durchbrach Jessica das Schweigen. »Mir und Alain. Wir haben monatelang versucht, dich zu finden, und wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht. Schließlich dachten wir, du seiest tot. Wir haben um dich getrauert.« Sie schüttelte den Kopf, und Tränen traten ihr in die Augen. »Ich glaube, ich habe seit damals nicht aufgehört, um dich zu trauern.« Ihre Stimme brach, und sie konnte nicht weitersprechen.

»Ich finde auch, du solltest Jessica erklären, warum du verschwunden bist, Lucien«, warf Alain ein.

»Ja, es stimmt. Ich schulde euch beiden eine Erklärung.« Jean setzte sich in einen Sessel am Kamin und holte tief Luft. Nach einem Moment blickte er Jessica an und begann zu sprechen.

»Ich habe dir gesagt, ich müsse wegen meiner Arbeit nach Monte Carlo, weil ich dir die Wahrheit nicht sagen konnte, Jessica.«

»Und was war die Wahrheit?«, fragte sie mit tränenerstickter Stimme.

»Dass ich in Wirklichkeit nicht Lucien Girard war. Das war nur mein Künstlername ... Ich war, ich bin Jean de Beauvais-Cresse. Aber vor zwölf Jahren verließ ich dieses Haus und ging nach einem schlimmen Streit mit meinem Vater nach Paris. Er missbilligte meinen Wunsch, Schauspieler zu werden, und verstieß mich. Mein älterer Bruder Philippe war sowieso sein Liebling und natürlich auch der Erbe des Titels und des Besitzes. Vor sieben Jahren, kurz vor deinem Examen, kam Philippe auf tragische Weise bei einem Unfall ums Leben. Er war mit einem Privatflugzeug auf dem Weg nach Korsika, um sich dort mit seiner Verlobten zu treffen, als er in ein Gewitter geriet. Alle Passagiere des Flugzeuges starben.

Als mein Vater die Nachricht von Philippes Tod erhielt, erlitt er einen Schlaganfall. Meine Mutter, die damals auch schon krank war, bat mich, nach Montcresse zurückzukehren. Sie brauchte mich. Ich musste die Beerdigung meines Bruders arrangieren, alle Angelegenheiten regeln und mich um meine Eltern kümmern.«

»Aber warum hast du mir das denn nicht gesagt?«, fragte Jessica. »Ich hätte doch mit dir kommen und dir helfen können.«

»Das war alles viel zu kompliziert. Ich hatte keine Zeit für lange Erklärungen. Plötzlich wurde ich dringend gebraucht. Außerdem dachte ich, ich würde höchstens eine Woche hierbleiben.« Jean schwieg, lehnte sich in seinem Sessel zurück und holte tief Luft.

Jessica musterte ihn aufmerksam. Sie fand, er sah älter aus als fünfunddreißig. Sein schmales Gesicht war faltig, und sein blondes Haar war schütter geworden. Er war immer schon schlank gewesen, aber jetzt war er wirklich dünn. Er wirkte unterernährt, und unwillkürlich ging ihr durch den Kopf, dass er sein gutes Aussehen verloren hatte. Und er war sehr nervös, was allerdings in dieser Situation mehr als verständlich war. Der Schweiß stand ihm auf der Oberlippe und der Stirn, und da es nicht besonders warm im Zimmer war, lag das sicher an seinem Unbehagen ihr gegenüber.

Jean de Beauvais-Cresse war sich bewusst, dass Jessica ihn so eingehend betrachtete, und innerlich zuckte er zusammen. Sie wiederzusehen war ein großer Schock für ihn gewesen. Sie war schöner denn je, und ihm war klar, dass er sie immer noch über alles liebte. Er hatte nie aufgehört, sie zu lieben. Sie war die Liebe seines Lebens und würde es immer bleiben. Aber es durfte nicht sein. Nicht mehr.

Ein Gefühl des Verlusts, der Trauer überwältigte ihn, und er musste alle Kraft aufwenden, um sich zu fassen. Einen schrecklichen Moment lang glaubte er, er würde in Tränen ausbrechen. Er atmete tief durch und stand auf. Wieder trat er an den Kamin.

Er räusperte sich und sagte: »Wie ich eben schon sagte, ich dachte, ich würde nicht sehr lange wegbleiben. Ich hatte fest vor, dir alles zu erzählen, wenn ich wieder in Paris war, Jessica. Das musst du mir glauben.«

»Und dann?«, fragte Jessica mit zitternder Stimme.

»Ich hoffte, wir würden zusammenbleiben und alles wäre so wie vorher. Aber dann geschah kurz nach der Beerdigung meines Bruders noch etwas.«

Alain fragte stirnrunzelnd: »Was?«

»Ich wurde krank. Sehr krank. Zuerst dachte ich, ich hätte eine Grippe. Mein Hals war entzündet, ich hatte nachts Schweißausbrüche, Fieber. Als der Arzt meines Vaters am Tag nach der Beerdigung ins Haus kam, um nach meinen Eltern zu sehen, erzählte ich ihm davon. Er bestand darauf, dass ich sofort in die Praxis käme, um mich untersuchen zu lassen ...« Jean räusperte sich wieder und zögerte einen Augenblick lang, bevor er fortfuhr: »Was Dr. Bitoun herausfand, machte ihm Sorgen. Er schickte mich nach Orleans, zu einem Krebsspezialisten, einem Onkologen. Ich wurde geröntgt und musste mich einer Computertomographie unterziehen. Der Arzt entnahm auch eine Gewebeprobe von einem Knoten unter meinem Arm. Die schlimmsten Befürchtungen bestätigten sich, als die Laborergebnisse eintrafen. Ich hatte die Hodgkin’sche Krankheit, Lymphdrüsenkrebs.«

»Aber du warst doch so jung, erst Mitte zwanzig!«, rief Jessica entsetzt aus.

»Diese Krankheit trifft vor allem junge Männer in den Zwanzigern«, erwiderte Jean. »Ich wurde sofort ins Krankenhaus eingewiesen und bekam Bestrahlungen. Abgesehen von ...«

»Warum hast du mich denn nicht angerufen?«, unterbrach Jessica ihn. »Ich wäre doch sofort zu dir gekommen. Ich liebte dich.«

»Ich weiß, und ich liebe ...« Er hustete hinter vorgehaltener Hand. »Ich liebte dich auch, Jessica. Und gerade deswegen beschloss ich, dass es besser ist, einfach zu ... verschwinden.«

»Aber warum denn nur?«, fragte sie. Tränen liefen ihr über die Wangen. »Ich habe dich so sehr geliebt ...«

»Ich weiß«, entgegnete er mit schwankender Stimme. »Mir wurde aber auf einmal klar, dass ich dir gar nichts bieten konnte. Ich war mir sicher, dass die Behandlung nichts nützen würde. Meine Mutter war bettlägerig, mein Vater hatte einen Schlaganfall gehabt, und ... falls ich überleben sollte ... würde ich den Besitz verwalten müssen. Mir kam es so vor, als sei das alles zu viel für dich. Du warst noch so jung. Und außerdem, wie gesagt, dachte ich, dass ich bald sterben würde.«

»Aber du lebst noch«, warf Alain ein.

Jean nickte. »Ja. Nach vielen schrecklichen Behandlungen kam die Krankheit nach ungefähr acht Monaten zum Stillstand. Aber trotzdem war die Prognose nicht günstig. Der Onkologe erklärte mir, der Krebs könne jeden Moment wieder ausbrechen.« Er warf Jessica einen Blick zu. »Eine Ehe kam für mich nicht mehr in Frage.«

»Aber du hast doch geheiratet. Und du hast ein Kind«, erwiderte sie leise.

»Das stimmt, ja. Ich habe vor drei Jahren geheiratet. In der Nähe wohnte eine Freundin aus meiner Kindheit, und als ich aus dem Krankenhaus entlassen wurde, kam sie nach Montcresse, um mir zu helfen. Dann starb plötzlich mein Vater, und ich erbte den Besitz. Meine Verantwortung wuchs. Meine Mutter starb wenige Monate nach meinem Vater. Ich war völlig am Boden. Annick, meine liebe alte Freundin, war mir damals eine große Stütze. Mit der Zeit wurden wir ein Paar, aber ich hatte nie vor zu heiraten.«

»Und warum hast du sie dann geheiratet?«, fragte Jessica. »Und nicht mich? Ich wäre auch hierhergekommen und wäre dir eine Stütze gewesen.«

»Zu meiner großen Überraschung wurde Annick schwanger«, erwiderte Jean. »Ich hatte das nicht für möglich gehalten, weil die Bestrahlungen einen häufig ... zeugungsunfähig machen. Aber Annick erwartete auf einmal ein Kind. Ich mochte sie. Sie liebte mich und wollte mich heiraten, also tat ich das, was anständig war. Außerdem erwartete sie einen Erben für den Titel und den Besitz, jemand, der meine Nachfolge antreten konnte, wenn ich einmal starb. Sie wusste, dass ich es wahrscheinlich nicht mehr erleben würde, das Kind aufwachsen zu sehen, aber das akzeptierten wir beide.«

»Wie alt ist der Junge jetzt?«, fragte Alexa.

Jean blickte sie an, ein schwaches Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Drei.«

»Und du bist zur Zeit in Remission, oder?«, fragte Alain.

»Nein, ich bin wieder in Behandlung. Dieses Mal Chemotherapie.«

»Das tut mir Leid«, erwiderte Alain. »Es tut mir Leid, dass es wiedergekommen ist.«

Jessica sah ihn mit Tränen in den Augen an und sagte langsam: »Ich hätte das alles verstanden. Ich wäre zu dir gekommen, Lucien, wirklich. Du warst mein Leben.«

Jeans blaugraue Augen füllten sich mit Tränen. Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, brachte aber keinen Ton heraus.

Jessica, die ihm immer noch so nahe stand, erhob sich und war mit drei Schritten bei ihm. Jean streckte die Hände nach ihr aus.

Er sah nur noch sie. Sanft zog er sie in die Arme. Sie klammerte sich an ihn und schmiegte ihr tränennasses Gesicht an seine Brust. Und plötzlich hatte sie alle Fragen vergessen, die sie ihm noch hatte stellen wollen. Nichts spielte mehr eine Rolle.

Leise sagte er: »Ich dachte, dass es so für dich am besten ist. Vielleicht habe ich mich ja geirrt.«

Als sie nicht antwortete, murmelte er: »Verzeih mir, Jessica.«

»Ja«, flüsterte sie. »Ich verzeihe dir, Lucien.« Mühsam rang sie um Fassung. »Ich werde dich immer als Lucien in Erinnerung behalten.«

»Ich weiß.«

Plötzlich hörte man das Trappeln kleiner Füße, und ein kleiner Junge kam in die Bibliothek gestürzt. »Papa! Papa! Je suis là!«, schrie er, blieb jedoch abrupt stehen, als er sah, dass andere Leute da waren.

Jean trat zu ihm, nahm ihn an der Hand und führte ihn zu Jessica. »Das ist mein Sohn ... Lucien«, sagte er zu ihr und sah ihr dabei tief in die Augen.

Sie erwiderte seinen Blick. Dann hockte sie sich vor das Kind, strich ihm über die weiche Wange und lächelte ihn an. »Bonjour. Je suis Jessica«, sagte sie.

Der Junge erwiderte ihr Lächeln. »Bonjour«, piepste er mit seiner hohen Kinderstimme.

Jessica bezwang ihre Rührung, stand auf und blickte zu Alexa und den beiden Männern. »Ich glaube, wir sollten jetzt fahren«, sagte sie. An Jean gewandt fügte sie hinzu: »Danke, dass du mir alles erklärt hast.«

»Und du hast alles verstanden, ja?«

»Ja.«

Leise fuhr er fort: »Du bist also nicht verheiratet, Jessica?«

»Nein.«

Traurig seufzend blickte er sie an. »Das tut mir Leid. C’est dommage.«

»Es ist schon in Ordnung.«

Jean begleitete sie aus der Bibliothek, eine Hand auf Jessicas Schulter, an der anderen seinen kleinen Sohn. An der Eingangstür küsste er sie auf die Wange.

»Au revoir, Jessica. Bonne chance.«

»Auf Wiedersehen.«

Er senkte den Kopf.

Ohne noch abzuwarten, bis die anderen sich verabschiedet hatten, ging sie zum Auto. Dort blieb sie stehen und blickte sich noch einmal um.

Er stand an der Tür und hielt sein Kind an der Hand. Mit der anderen Hand blies er ihr einen Kuss zu und winkte dann. Das hatte Lucien auch immer getan.

Auch sie schickte ihm einen Luftkuss. Dann stieg sie in den Wagen.

Niemand sagte etwas, als sie aus Montcresse herausfuhren.

Alexa hielt Jessicas Hand und blickte sie ein paar Mal prüfend an. Als sie das Schloss hinter sich gelassen hatten, fragte sie: »Geht es dir gut?«

»Ja, mir geht es gut«, erwiderte Jessica leise. Sie räusperte sich. »Jetzt, wo ich endlich weiß, was mit Lucien geschehen ist, kann ich meinen Frieden damit machen.«

»Es war so traurig«, sagte Alexa. »Er tat mir so Leid.«

»Mir auch«, murmelte Alain und drehte sich zu ihnen um. »Es ist schlimm, dass der Krebs wieder ausgebrochen ist. Aber vielleicht ... nun ja, lasst uns hoffen, dass die Behandlung anschlägt.«

»Ich glaube, er hat die richtige Entscheidung getroffen. Für dich, Jessica«, sagte Tom. »Er dachte, er würde dich schützen.«

»Ja, ich weiß. Aber er hat für mich gedacht, und das war nicht richtig.« Jessica stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich habe jahrelang eine Erinnerung geliebt. Eine Erinnerung an Lucien, an meine erste Liebe. Aber jetzt ist er völlig anders. Ich bin anders. Ich wünschte nur, er hätte mir vertraut. Er hätte unserer Liebe vertraut und mir die Wahrheit gesagt.«

»Was hättest du dann getan?«, forschte Alexa.

»Ich wäre zu ihm gefahren. Daran zweifle ich keinen Augenblick«, erwiderte Jessica.

»Und glaubst du, es wäre gut gegangen?«, fragte Tom.

»Das weiß ich nicht. Aber ich bin froh, dass ich ihn wiedergesehen habe. Jetzt kann ich endlich weiterleben.« Ein Teil von mir wird ihn immer lieben, dachte Jessica und schloss die Augen. Und ein Teil von mir wird ihm immer gehören, so wie es umgekehrt auch der Fall ist. Das hat er ganz deutlich zum Ausdruck gebracht. Er liebt mich immer noch.