Anja stand, flankiert von Nicky und Maria, in der Eingangshalle des Ledoyen und blickte sich um.
Ihre blauen Augen funkelten, und ihr Gesicht leuchtete auf. »Oh, Nicky, mein Liebling, du hast dich selber übertroffen«, rief sie aus und packte ihn am Arm. »Das ist einfach wunderschön!«
Er lächelte erfreut und dankbar. »Es freut mich, dass es dir gefällt. Ich wollte, dass du dich wie zu Hause fühlst.«
Anja lachte ihr perlendes, altersloses Lachen und trat einen Schritt vor. Nicky hatte die Front ihres Fachwerkhauses in Paris, mitsamt dem Spalier und dem Efeu, der sich dort emporrankte, nachgebildet. Eine riesige Leinwand war an die eine Wand des Foyers gespannt, und darauf war täuschend echt das Haus gezeichnet. Der Boden wirkte wie ihr gepflasterter Hof, und sogar der Kirschbaum in voller Blüte war da, mit den vier schmiedeeisernen Gartenstühlen, die darunter standen. Und in einer anderen Ecke des Foyers war ihr Blumengarten nachgebildet.
Nicky ergriff sie am Arm und sagte: »Komm, Anja, ich habe noch mehr Überraschungen für dich.«
Lächelnd ließ sie sich von ihm zur Treppe ziehen. »Wohin gehen wir?«, fragte sie neugierig.
»Wir trinken jetzt Cocktails«, erklärte Maria strahlend.
Anja warf Maria einen Blick aus den Augenwinkeln zu. Sie sah großartig aus, schlanker denn je in ihrem mitternachtsblauen Chiffonkleid mit trägerloser Korsage und einem weiten, fließenden Rock. Als Schmuck trug sie nur eine schmale Diamantenkette um den Hals und Diamantohrringe.
»Maria, du siehst wundervoll aus«, murmelte Anja hingerissen.
»Das habe ich Nicky zu verdanken; er hat das Kleid ausgesucht. Es ist von Balmain«, erwiderte Maria.
»Oh, ich rede nicht von dem Kleid, Liebes, sondern von dir.«
Maria errötete vor Freude. »Dein rotes Kleid steht dir auch wundervoll.«
»Ich habe Rot immer geliebt«, entgegnete Anja. »Die Farbe macht mich glücklich. Heute Abend allerdings ist es eigentlich egal, welche Farbe ich trage – glücklich bin ich so oder so.«
Im zweiten Stock ergriff Nicky wieder Anjas Hand und zog sie auf die großen Doppeltüren zu. Er öffnete sie schwungvoll und rief aus: »Voilà!«
Anja keuchte überrascht auf.
Das Zimmer war exakt ihrem Wohnzimmer in ihrem Haus in der Provence nachgebildet, dem Haus, das Hugo vor vielen Jahren gekauft hatte und in dem sie so glücklich gewesen waren. Kellnerinnen und Kellner in der Landestracht standen bereit, um Getränke zu servieren.
»Nicky, o Nicky«, stieß Anja hervor, während ihr Neffe sie herumführte.
Der angrenzende Raum war eingerichtet wie eine russische Datscha mit bäuerlichen Möbeln, und hier trugen die Kellner goldene Kosakentuniken und schwarze Stiefel zu den Pluderhosen.
Anja blickte sich staunend um, aber Nicky hatte ihr noch mehr zu zeigen. Er zog sie in ein drittes Zimmer. Jetzt stand sie auf einmal in dem Wohnzimmer im Haus ihrer Eltern in London, das Nicky bis ins kleinste Detail naturgetreu nachgebildet hatte. Anja war so überwältigt, dass ihr die Tränen in die Augen traten.
Mit leicht zitternder Stimme fragte sie ihn: »Wie um alles in der Welt hast du das denn geschafft?«
»Mit der Hilfe deiner Schwester. Tante Ekaterina war eine großartige Komplizin. Sie hatte ein paar alte Fotografien vom Wohnzimmer deiner Eltern, aber vor allem hat sie ein fotografisches Gedächtnis, das in all den Jahren kein bisschen gelitten hat.«
Gerührt wanderte Anja durch das Zimmer und betrachtete alles ganz genau. Nicky hatte so viele Dinge gefunden, die ihrer Mutter gehört und die sie geliebt hatte, und er hatte sie alle hier aufgestellt. Fotografien in alten Fabergé-Rahmen ... offenbar von Katti geliehen ... Fotos ihrer Eltern, von den Romanows, ihren Geschwistern ... und von ihr als junges Mädchen. Sogar die Möbel ähnelten der Einrichtung des elterlichen Wohnzimmers.
Sie trat auf Nicky zu und umarmte ihn. »Danke, danke«, sagte sie mit erstickter Stimme. »Ich danke dir, dass du so viele meiner teuren Erinnerungen heute Abend hier zusammengetragen hast.«
Ein Kellner, der wie ein englischer Butler gekleidet war, trat mit einem Tablett voller Champagnergläser auf sie zu. Sie stießen miteinander an und Nicky sagte: »Ich möchte, dass dies heute dein schönster Abend wird, Anja.«
»Das wird es bestimmt. Es ist so außergewöhnlich ...«
Er lachte. »Es gibt noch mehr Überraschungen, Anja.«
»Das ist ja nicht zu glauben! Wo denn?«
»Warte es ab«, neckte er sie. »Wo möchtest du denn deine Gäste begrüßen? In welchem Zimmer?«
»Ich weiß nicht, mein geliebter Junge, sie sind alle ganz besonders.«
»Vielleicht warten wir am besten im Provence-Zimmer«, schlug Maria vor.
»Gute Idee«, erwiderte Nicky. Sie gingen in das provenzalische Wohnzimmer mit den kleinen Tischen, die mit bunten provenzalischen Stoffen eingedeckt waren. Auf einer langen Anrichte standen braune Keramikkrüge mit Sonnenblumen, und der Duft von Lavendel hing in der Luft.
Anja lächelte, als eine der Kellnerinnen auf sie zutrat mit einem Tablett, auf dem ihre Lieblingsspeisen angerichtet waren. Warme Piroschki, die kleinen russischen mit Hackfleisch gefüllten Pasteten, winzige gebackene Kartoffeln mit einem Klecks Kaviar, Toast mit Räucherlachs und englische Würstchen im Teigmantel.
»Das sieht ja unwiderstehlich aus!«, rief sie. »Ich muss alles probieren.«
»Das habe ich gehofft«, erwiderte Nicky. »Ich schließe mich dir an.«
Ein paar Minuten später trafen die ersten Gäste ein.
Anja war auf einmal von ihrer Familie umgeben.
Ihre Schwester und ihr Schwager, Katti und Sascha und alle anderen Lebedews küssten sie und gratulierten ihr. Dann kam ihr Bruder Wladimir mit seiner Frau Lili und den Kindern. Und dahinter ihre eigenen Kinder, Olga und Dimitri, mit ihren Familien. Alle umarmten sie und wünschten ihr alles Gute.
Bald war sie auch von allen Sedgwicks umringt und von zahlreichen alten Freunden und Studenten.
Und dann kamen schließlich ihre Lieblingsmädchen.
Ihre Lieblinge aus dem Abschlussjahrgang von 1994. Alexa, Jessica, Kay und Maria. Wie schön sie alle aussahen!
Alexa, Kay und Jessica begrüßten sie, und Tom, Ian und Mark ebenfalls. Aber dann traten die Männer, einschließlich Nicky, einen Schritt zurück, sodass Anja mit ihrem Quartett alleine war.
»Ihr seht alle vier wundervoll aus!«, rief Anja strahlend aus. »Und ich möchte mich gleich für eure Geschenke bedanken. Kay, der antike Schal ist wunderschön. Wie du siehst, trage ich ihn bereits, und er passt perfekt zu meinem Kleid. Und, Jessica, die Ikone ist so kostbar. Sie hat einen Ehrenplatz in meinem Wohnzimmer erhalten, genau wie deine Lackschachtel, Alexa. Das Gemälde von St. Petersburg auf dem Deckel ist ein kleines Juwel. Danke, danke.« Anja lächelte Maria zu und fuhr fort: »Und dir danke ich für dein Bild, Maria. Es ist großartig. Ich habe es in meinem Schlafzimmer aufgehängt. Es ist sehr großzügig von dir, dass du dich davon trennst.«
Maria lächelte errötend.
Anja ließ ihren Blick über die vier Frauen gleiten, und dann sagte sie ganz leise: »Ich bin so glücklich, dass ihr alle schon so früh nach Paris gekommen seid. So hatten wir Zeit füreinander, und ihr hattet die Gelegenheit, euren Streit beizulegen.«
»Es ist wieder wie früher«, erwiderte Alexa. »Wir sind füreinander da, nicht wahr, Mädels?«
Alle pflichteten ihr bei, und Kay fügte hinzu: »Mir kommt es wie gestern vor, dass wir auf deiner Schule waren, Anja.«
»Du hast uns so viel beigebracht, uns gefördert und uns geholfen, unsere Träume zu verwirklichen«, warf Jessica ein. »Dafür werden wir dir auf ewig dankbar sein.«
Anja nickte. »Ihr seid alle auch noch aus anderen Gründen nach Paris gekommen. Jede von euch hatte hier noch etwas zu erledigen. Und ich bin so glücklich, dass ihr alle gefunden habt, was ihr gesucht habt ...« Sie blickte Alexa an. »Du und Tom ... seid ihr jetzt wieder ein Paar?«
Alexa nickte und zeigte Anja strahlend ihre linke Hand. Am Ringfinger funkelte ein Diamantring. »Wir haben uns heute Abend, bevor wir herkamen, verlobt.«
»Ich freue mich für dich, mein Liebes. Tom war schon immer der richtige Mann für dich.«
Mit einem Blick auf Maria fuhr Anja fort: »Du und Nicky, ihr macht einen sehr glücklichen Eindruck zusammen.«
»Ja, das stimmt. Nicky möchte, dass wir heiraten, sobald er geschieden ist. Ich gehe nicht mehr zurück nach Mailand, sondern werde hier in Paris bei Nicky bleiben und malen. Nie mehr Stoffe entwerfen ...«, verkündete Maria.
Anja klatschte leise in die Hände. »Gott sei Dank, Maria. Mit deinem Job zu Hause hast du dein Talent vergeudet. Herzlichen Glückwunsch! Und wenn ihr heiratet, richte ich die Hochzeit aus. Das wird mir ein Vergnügen sein. Und, Kay, was ist mit dir und deinem reizenden Ian? Es scheint wieder alles in bester Ordnung zu sein.«
»Ja, Anja, und außerdem bin ich völlig gesund, und es gibt keinen Grund, warum ich kein Baby bekommen sollte.« Kay lachte leise. »Aber Ian ist das sowieso egal. Er sagt, er will nur mich.«
»Da hat er auch Recht. Er kann sich glücklich schätzen, dass er dich hat«, erwiderte Anja. Ihr Blick ruhte nun auf Jessica, und ihr fiel auf, dass die Traurigkeit aus ihren Augen noch nicht verschwunden war.
»Ich bin froh, dass du Lucien wiedergefunden hast«, begann Anja. »Ich weiß, es war ein Schock für dich, aber jetzt kannst du dieses Kapitel endlich abschließen, Liebes. Endlich, nach all diesen Jahren.«
»Ja, du hast Recht«, erwiderte Jessica. »Und ich habe das Glück, dass Mark an meiner Seite steht. Vielleicht gibt es ja eine gemeinsame Zukunft für uns.«
»Ich glaube schon. Er ist ein reizender Mann. Eure Männer sind wunderbar ...«
Kurz darauf gingen sie alle hinunter zum Dinner.
Nicky und Maria begleiteten Anja, und als sie sie ins Speisezimmer führten, traten ihr erneut die Tränen in die Augen.
Der Raum war in den schönsten englischen Garten verwandelt worden, den sie je gesehen hatte. Er war über und über mit Blumen geschmückt. In den Ecken standen Orangenbäume in Kübeln, aus Brunnen sprudelten schimmernde Wasserfontänen, steinerne Statuen und Sonnenuhren standen an strategischen Punkten. Auf jedem Tisch waren rosafarbene Rosen arrangiert und ein Meer von Kerzen und winzigen Lichtern tauchte den Raum in ein magisches Licht.
»Oh, Nicky.« Mehr brachte Anja nicht hervor. Kopfschüttelnd klammerte sie sich an seinen Arm, während er sie an den Haupttisch führte, wo sie mit ihren Kindern und Geschwistern zusammensaß. »Ich danke dir, ich danke dir, mein Liebling«, flüsterte sie, als er ihr den Stuhl zurechtrückte.
»Es war mir eine Freude, Anja, eine sehr große Freude«, sagte er. Dann trat er mit Maria an den Tisch, an dem auch Kay, Jessica und Alexa mit ihren Männern saßen.
Ich bin eine so glückliche Frau, dachte Anja und trank nachdenklich einen Schluck Wasser. Was für ein erfülltes Leben ich doch gehabt habe. Fünfundachtzig wundervolle Jahre. Liebe und Glück. Schmerz und Leid. Und auch viel Kummer. Aber ich habe immer alle Probleme überwunden. Ich habe weitergelebt. Vielleicht geht es im Leben nur darum. Weiterzuleben.
Und meine vier Mädchen werden auch weiterleben. Sie blickte zur Tanzfläche. Dort waren sie alle ...
Maria und Nicky. Er hielt sie in den Armen und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Kay schmiegte sich mit verträumtem Gesichtsausdruck an Ian. Die beiden wirkten völlig zufrieden.
Jessica tanzte mit Mark, und ihre Augen blickten nicht mehr so traurig. Lachend sah sie zu ihm auf.
Alexa und Tom wiegten sich im Takt der Musik. Er blickte sie an und küsste sie leicht auf die Lippen. »Lass uns so bald wie möglich heiraten«, sagte er leise. »Ich kann es kaum erwarten, dass du endlich meine Frau bist. Ich liebe dich so sehr.«
»Ich liebe dich auch, Tom«, erwiderte Alexa und schmiegte sich noch enger an ihn. Nichts wollte sie lieber, als sein langweiliges Leben, wie er es nannte, teilen. Sie lächelte vor sich hin. Sehr langweilig, wirklich, dachte sie.
Anja beobachtete sie und hätte gerne gewusst, was sie gerade zueinander gesagt hatten. Sie lachte vergnügt. Natürlich erzählten sie einander herrliche Dinge ... genauso wie sie es vor vielen Jahren getan hatte. Zuerst mit Michel Lacoste und dann mit Hugo Sedgwick.
Liebe, dachte sie. Die Liebe ist das Wichtigste. Am Ende zählt nur die Liebe.