18
Levi saß in seinem kleinen Büro in der Akademie. Vor sich auf dem Schreibtisch lagen die Seminararbeiten seiner Studenten, die korrigiert werden mussten. Doch in Gedanken war er noch immer bei Brenner und dessen Andeutungen, dass etwas an dem Fall merkwürdig war. Da Levi immer wieder abschweifte, schob er seufzend die Hefte zur Seite und klappte seinen Laptop auf, um nach Berichten über den Prozess gegen Andreas Sperl zu suchen.
Interessant war, dass keines der Geschwister von Rosa vor Gericht aussagen musste. Einzig die Belastungszeugin wurde angehört, ansonsten nur die Kriminaltechniker und Gutachter. Auch war kein Mitglied der Familie Hohenwald im Gerichtssaal erschienen, und so gab es von der Verhandlung nicht ein einziges Foto von ihnen. Levi durchsuchte mehrere Bilddatenbanken, bis er schließlich doch noch auf ein gemeinsames Foto der Hohenwald-Kinder stieß. Es war kurz vor dem Sommerfest bei einer Benefizveranstaltung in der Staatsoper aufgenommen worden und zeigte die vier Geschwister, damals noch mit ihrer Mutter Lila und dem jetzigen Staatsoperndirektor Johannes Arnheim
.
Levi beugte sich tief über das Foto, um die Gesichter näher zu betrachten. Rosa war eindeutig ein Nachzügler, denn die anderen Geschwister waren wesentlich älter als sie. Max und Greta hatten dunkle Haare, während Alma und Rosa blond waren. Levi kopierte das Foto auf seine Festplatte, zoomte das Bild so weit auf, bis ihn die Augen der vier Geschwister riesig auf seinem Bildschirm anstarrten. Gretas Augen sahen aus, als wären sie aus dunklem Stahl, hinter dem ein Geheimnis sicher verwahrt ist. Der Blick von Max war abwesend; dahinter verbarg sich eine schwache, sensible Persönlichkeit.
Almas Blick wirkte unsicher und verletzlich, während aus Rosas Augen die pure Lebensfreude funkelte.
Levi lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Hände im Nacken. »Was ist damals wirklich passiert?« Er wusste, dass er nicht eher ruhen würde, bis er eine Antwort auf diese Frage gefunden hatte. Früher, als Ermittler, hatte er nächtelang an seinem Schreibtisch gesessen und sich sehr zum Missfallen von Rebecca in seine Fälle verbissen. Jetzt spürte er wieder diese Unruhe in sich aufsteigen.
Er packte seinen Laptop in die Tasche und verließ das Büro. In Gedanken versunken fuhr er mit seinem Saab durch die dunkle Stadt. An einer Ampel musste er stoppen und plötzlich hatte er das Gefühl, als würden ihn die Augen von Max und Greta durch das rote Signallicht anstarren.
»Warum musste Rosa sterben?«, fragte er zu der Ampel hinauf, die gerade auf Grün umschaltete, und fuhr los, ohne eine Antwort darauf gefunden zu haben.
Als Levi in seine Wohnung kam, war es fast schon Mitternacht, und Rebecca saß noch immer am Klavier.
»Hallo, mein Liebling«, sagte Levi und küsste den Nacken seiner Frau
.
»Du kommst spät. Hast du so lange mit dem toten Mädchen geredet?« Rebecca stand auf, nahm ihr Rotweinglas und folgte ihm ins Wohnzimmer.
»Nur ein bisschen, die meiste Zeit habe ich mit meinen Studenten verbracht«, meinte Levi lächelnd.
»Heute will ich dir glauben«, sagte Rebecca. »Übrigens, denkst du an Freitagabend? Ich begleite Noah am Erew Schabbat in die Synagoge, anschließend werden wir hier gemeinsam unser traditionelles Essen einnehmen. Wir haben ja schon darüber gesprochen.«
»Und ich frage mich immer noch, seit wann du freitags in die Synagoge gehst. Sind da Frauen überhaupt erlaubt?«, stellte Levi sich absichtlich dumm.
Immer wieder dieser Noah.
Levi spürte, dass er sich seine Frische und Energie erhalten musste, um nicht ins Hintertreffen gegen diesen jüngeren Mann zu geraten.
»Frauen können in einem eigenen Raum beten«, antwortete Rebecca und stieß ihn in die Seite. »Aber das weißt du doch.«
»Wie passt das in dein modernes Frauenbild?«, konnte sich Levi eine Bemerkung nicht verkneifen.
»Das ist einfach Religion«, erwiderte Rebecca und küsste ihn mit ihren nach Rotwein schmeckenden Lippen. »Meine Emanzipation besteht darin, dass du für uns das Schabbat-Abendessen zubereitest.«
»Ich soll für diesen Noah kochen? Natürlich alles koscher und dreimal vom Rabbi abgesegnet. Ein Essen zu dritt macht mir aber keinen Spaß«, ereiferte sich Levi.
»Genau, du lernst schnell. Deswegen sollst du auch Olivia, deine Bekannte, dazu einladen. Dann sind wir zu viert«, meinte Rebecca und drückte sich geschmeidig an Levis Körper. »Gehen wir ins Schlafzimmer«, flüsterte sie plötzlich und griff nach der Rotweinflasche.
Als sie gemeinsam im Bett lagen, vergrub Levi sein Gesicht in Rebeccas Haaren. Noch immer übte ihr Duft eine
unwiderstehliche Wirkung auf ihn aus, und seine aufkommende Eifersucht verflüchtigte sich unter Rebeccas Küssen.
Nachdem seine Frau eingeschlafen war, lag Levi noch wach und starrte an die Decke. Unruhig wälzte er sich hin und her und stand schließlich auf, um Rebecca nicht zu wecken. Noch immer geisterte das Lügengespinst der Familie Hohenwald durch seine Gedanken. Während Levi darüber nachdachte, erinnerte er sich an eine Geschichte von seiner Großmutter Esther. »Lügen haben mir das Leben gerettet«, hatte sie an einem heißen Sommertag zu dem kleinen Levi gesagt und sich mit einem alten zerdrückten Kuvert Luft zugefächelt. Levi ging in sein Arbeitszimmer und öffnete den neuen Kleiderschrank, in dem der alte zerschlissene Mantel hing. Er holte ihn vorsichtig heraus und breitete ihn auf seinem Schreibtisch aus. Die vielen Taschen waren zum Großteil leer, nur die rote Samttasche, in der Esther ihre persönlichen Schätze aufbewahrte, leuchtete verheißungsvoll.
Levi griff hinein und zog das Kuvert hervor. Er setzte sich an seinen Schreibtisch und glättete das brüchige Papier. Die Worte »Esther Leopoldstadt Wien«, die in schön geschriebenen Kurrentbuchstaben auf dem Umschlag standen, waren bereits verblasst. Er dachte zurück an die Abende, an denen er aus seinem Kinderzimmer heimlich zu seiner Großmutter schlich.
Esther hatte wie immer am Fenster in ihrem Schaukelstuhl gesessen und der kleine Levi hatte gespannt zu ihren Füßen gehockt. Mit leiser Stimme erzählte Esther ihm dann eine Geschichte aus einer dunklen Zeit, als Lügen ihr geholfen hatten.