35
Greta saß in dem dunkelgrünen Rover, der zwischen zwei Bäumen parkte, und blickte zu der erleuchteten Wohnung in dem Haus auf der anderen Straßenseite hoch.
»Was hast du ihr erzählt? Denk einfach nach«, sagte sie zu Max, der am Steuer saß und die Stirn in Falten legte.
»Ich weiß es einfach nicht mehr. Immer wenn ich mit Olivia ins Gespräch komme, möchte ich mein Gewissen erleichtern. Es ist ihre Aura, die mich dazu zwingt«, antwortete Max.
»Das ist ihr psychologisches Können«, korrigierte ihn Greta. »Hofmann bringt die Menschen dazu, sich zu öffnen. Du bist das ideale Opfer für sie.«
»Es tut mir leid«, sagte Max zerknirscht. »In Zukunft werde ich mich zusammenreißen. Das verspreche ich.«
»Du redest einfach nicht mehr mit ihr. Ist das klar?« Greta drehte sich zu ihrem Bruder. »Ich trage die Verantwortung für die Familie. Das darfst du nie vergessen.«
»Natürlich.« Gehorsam nickte Max und umklammerte das Lenkrad. »Was wirst du jetzt tun?«
»Wegen deiner Dummheit werde ich mich in ihre Wohnung schleichen. Ich muss nachsehen, ob Hofmann etwas Belastendes
über dich notiert hat. Du wartest so lange im Wagen und warnst mich, wenn die Psychiaterin unerwartet auftaucht. Hast du das verstanden?«
»Ja, du kannst dich auf mich verlassen.«
Greta öffnete die Tür des Wagens und stieg aus. Sie blickte noch einmal kurz hinauf, ehe sie mit schnellen Schritten die Straße überquerte.
Die erleuchteten Fenster der Wohnung warfen breite Lichtstreifen hinunter auf die dunkle Straße und verwandelten die Regenpfützen in schimmernde Inseln. Greta stand auf dem Bürgersteig, das Licht flutete über ihr Gesicht und tauchte ihren Körper in eine gleißende Helligkeit. Sie zog ihre Mütze vom Kopf und schloss die Augen. Überlegte in Gedanken die nächsten Schritte, denn wie immer wollte sie nichts dem Zufall überlassen. Dann näherte sich Greta zielstrebig dem imposanten Jahrhundertwendehaus.
»Dr. Leopold Hofmann«, murmelte sie und drückte auf die Klingel. Sekunden später summte der Türöffner und Greta betrat das Foyer. Lautlos schlich sie die breite Treppe nach oben und sah schon von Weitem die geöffnete Tür am Ende der Galerie.
»Ja bitte?«, fragte eine ältere Frau, die durch den Türspalt blickte.
»Hallo, ich bin Bella, die Schwester von Olivia«, sagte sie fröhlich. »Olivia hat gemeint, dass ich hier bei Vater auf sie warten kann. Sie müssen die Pflegerin sein.«
»Ja, ich bin Erna. Olivia hat nie etwas von einer Schwester erzählt«, erwiderte die Frau vorsichtig.
»Kein Wunder, ich war auch lange nicht mehr in Österreich«, antwortete Greta freundlich. »Aber jetzt will ich meine große Schwester überraschen. Darf ich eintreten?«
»Ich weiß nicht so recht …« Erna zögerte, aber öffnete dann doch die Tür. Die Flurlampe beleuchtete das Gesicht von Greta und die Pflegerin blickte sie überrascht an
.
»Mein Gott, diese Ähnlichkeit«, entfuhr ihr. »Bitte treten Sie ein. Es tut mir leid, dass ich zunächst so abweisend war, aber man weiß ja nie, welche Leute um diese Zeit ins Haus kommen«, sagte Erna entschuldigend. »Sie sehen ja genauso aus wie die Frau Doktor.«
»Nur dass ich viele Jahre jünger bin«, erwiderte Greta gut gelaunt. »Sie können übrigens jetzt gehen, Erna, ich kümmere mich um Vater.«
»Das ist aber nett von Ihnen, ich habe zu Hause ja noch einiges zu tun. Dann bis morgen. Richten Sie bitte der Frau Doktor schöne Grüße aus.«
»Das werde ich machen.« Greta schenkte der Pflegerin ihr sympathischstes Lächeln und wartete mit verschränkten Armen im Flur, bis Erna ihre Strickjacke angezogen und die Wohnung verlassen hatte.
Als sie endlich alleine war, ging Greta den breiten Korridor entlang, um sich in der Wohnung umzusehen. Sie öffnete die Tür zu einem im Dunkeln liegenden Zimmer. Greta tastete nach dem Lichtschalter und blickte sich interessiert um. Es war ein unbenutzter Raum, der früher offenbar einmal Olivias Kinderzimmer gewesen war. Das war deutlich an dem Mobiliar und den verstaubten Plüschtieren zu erkennen. Sanft strich Greta mit den Fingerspitzen über die abgewetzten Teddys und Kuschelhasen. An der Wand hing noch ein Transparent mit »Happy Birthday Olivia«.
»Damals war dein Leben noch unbeschwert. So wie meins«, flüsterte Greta und ging wieder nach draußen. Plötzlich erhellte ein Lichtstrahl den Korridor. Er kam aus einem Zimmer, das hinter einer Tür mit Milchglasscheibe lag. Lautlos huschte Greta darauf zu und spähte vorsichtig hinein. Sie sah die verschwommenen Umrisse eines Mannes, der ruhelos in dem Zimmer auf und ab ging und dabei immer wieder »Schiff legt ab, Schiff legt ab« murmelte. Das musste der an Alzheimer erkrankte Vater von
Olivia sein. Bedrückt beobachtete Greta dieses Schattenspiel eines Mannes, der die Kontrolle über sein Leben verloren hatte und der nur noch als Hülle in seinen Erinnerungen dahinvegetierte. Die Traurigkeit, die sie beim Anblick von Olivias Vater verspürte, verwandelte sich in eine gnadenlose Leere, die ihr Herz zusammenpresste und ihr den Atem raubte.
Doch Greta riss sich zusammen und schlich schnell weiter. Am Ende des Korridors waren zwei breite Schiebetüren zu sehen. Vorsichtig schob Greta sie auf, die Scharniere waren verzogen und quietschten. Nervös drehte sie sich um. Aber niemand hatte sie gehört. Olivias Vater war so sehr in seine eigene Welt versunken, dass er nicht erfasste, was rings um ihn geschah.
Der Raum, den sie jetzt betrat, war riesig und nahm fast die ganze Breite der Wohnung ein. Große Flügeltüren führten hinaus auf einen kleinen Balkon und von unten hörte man dumpf den Verkehrslärm. Sie trat an das Fenster und sah den Wagen mit Max zwischen den Bäumen. Die Straßenlaternen draußen erleuchteten den Salon nur unzureichend und die Lichtspuren fraßen sich wie dünne Schlangen durch den vollgestellten Raum.
»Wie sieht es denn hier aus?«, flüsterte Greta und blickte sich erstaunt um. Überall standen Pappkartons und dazwischen Garderobenständer mit Kleidern, Blazern und Mänteln. Vor einem französischen Fenster befand sich ein moderner Glasschreibtisch und auf einem niedrigen Tisch daneben lag eine Unmenge von Papieren.
»So also lebst du«, murmelte Greta. »Nach außen hin wirkst du so strukturiert, aber dein wirkliches Leben ist ziemlich ungeordnet.«
Immer weiter erforschte sie den Raum, drang tiefer in die Geheimnisse von Olivia ein, sie kramte in einer Kiste, fand Fotos, auf denen über das Gesicht von Michael ein großes Fragezeichen gemalt war
.
»Wie recht du doch hast. Michaels Verschwinden ist ein großes Geheimnis.« Nachdenklich legte sie die Fotos wieder zurück in die Kiste. Sie widerstand der Versuchung, ein Porträtfoto von Michael einzustecken, und ließ es auf den Boden gleiten.
Hinter mehreren aufeinandergestapelten Bücherkartons entdeckte sie ein niedriges Futonbett. Sie setzte sich an den Rand der Matratze und griff nach der Decke. Fest presste sie ihr Gesicht in das kühle Leinen und atmete den Geruch ein.
»Wovon träumst du nachts, Olivia?«, fragte sie in die Leere des Zimmers hinein. »Denkst du an Michael und vielleicht auch daran, dass er mich vor Augen hatte, während er mit dir schlief? Dass er es nicht mehr erwarten konnte, sich endlich wieder in meinen Armen zu vergessen?«
Langsam ließ sich Greta auf die Matratze sinken und betrachtete die feine Stuckatur an der Zimmerdecke, die sich in der Dunkelheit zu Michaels Gesicht formte und dann langsam auflöste.
»Aber die Vergangenheit muss endlich begraben werden.« Greta klopfte sich auf die Schläfen, um die Traurigkeit und die Leere zu vertreiben, um wieder stark zu sein. Zielgerichtet ging sie zu dem niedrigen Tisch und überflog die Papiere. Je mehr sie davon las, desto finsterer wurde ihre Miene. Es waren Berichte über den Autounfall vor fünf Jahren. Auf manche Seiten hatte Olivia Fragezeichen gesetzt, dann war der Name Rosa dick umrandet und der Satz »Greta war als Einzige verletzt und saß auf dem Rücksitz« unterstrichen.
Verstört ließ Greta die Papiere sinken und ging zum Schreibtisch. Dort lag ein schwarzes Notizbuch, das mit einem Gummiband zusammengehalten wurde. Greta öffnete das Buch und blätterte wahllos darin herum. Plötzlich stutzte sie, als sie ihren Namen auf einer Seite entdeckte. Er war eingekreist und ein Pfeil wies nach unten
.
Dort stand »Gretas Autounfall = Motiv für den Mord an Rosa?
eher nicht«.
Hastig blätterte Greta um.
Auf der nächsten Seite las sie: »Was verschweigt Max? Wo sind die Versteckplätze von Rosa im Wald? Wo war Max beim Sommerfest wirklich? Vor wem fürchtet sich Max? Max ist bereit, die Wahrheit zu sagen. Muss an seine Moral appellieren. Max hält sich nur moralisch für schuldig. Er hat ein Verbrechen im Kopf begangen! Wann ist er bereit zu reden?«
Die nächste Seite betraf Sperl: »Andreas Sperl – Geständnis widerrufen?«, darunter »Wen deckt er?« und »Alma? Greta? Max?«.
Eine Seite weiter standen die Sätze: »Mit Adele Bauer reden über Sperls Fortschritte bei der Psychotherapie.« Daneben war eine Telefonnummer vermerkt.
Und ein weiterer Satz: »Sperl jetzt im Allgemeinen Krankenhaus. Ihn aufsuchen und fragen, was auf dem Sommerfest passiert ist.«
Nervös wollte sie das Notizbuch zuklappen, doch dann sah sie auf der nächsten Seite einen einzigen Satz: »Alle lügen.«
Die beiden Wörter waren mit rotem Stift eingekreist, die Linie so dick, dass sie wie eine Mauer wirkte, hinter der diese Aussage eingekerkert war und niemals entkommen würde.
Nervös ging Greta zwischen den Kartons auf und ab.
»Olivia, was machst du denn hier?« Greta erstarrte, als sie die Stimme hörte. Unerwartet hell flammte der Kronleuchter auf und die vielen Lampen verwandelten das Chaoszimmer in einen glitzernden Ballsaal. Olivias Vater stand zwischen den aufgeschobenen Flügeltüren. Er trug einen schief geknöpften Schlafanzug und hatte einen Panamahut aufgesetzt.
»Ach Vater, ich arbeite, das siehst du doch«, sagte Greta geistesgegenwärtig und ging auf Olivias Vater zu. Sie überlegte, ob sie an ihm vorbeischlüpfen sollte, um schnell die Wohnung
zu verlassen. Aber dann blieb sie direkt vor ihm stehen und legte ihren Kopf an seine Brust. »Vater, ich habe dich so vermisst«, flüsterte Greta.
»Seit wann sagst du Vater zu mir? Jetzt bin ich ja bei dir, mein Kind, und werde dich immer beschützen.« Sanft strich er Greta über die Haare und da wurde ihr bewusst, wie sehr sie sich nach Liebe und einer schützenden Hand sehnte.
»Ich hab dich lieb.« Sie küsste seine faltige Hand.
In diesem Moment hörte sie, wie draußen der Schlüssel ins Schloss gesteckt wurde. Sekunden später wurde die Tür geöffnet. Die traumverlorene Atmosphäre verpuffte und die harte Realität kehrte zurück.
Verdammt, warum hat Max mich nicht gewarnt?
Greta hatte gerade noch Zeit, sich von Olivias Vater loszureißen und sich hinter einem Karton zu verstecken.
»Papa, wieso bist du in meinem Zimmer?«, hörte sie die aufgeregte Stimme von Olivia. »Und warum bist du alleine? Wo ist denn Erna?«
»Olivia? Aber du warst doch ganz jung. Warum nennst du mich Vater?« Leopold drehte sich verwirrt im Kreis. »Gerade eben hast du noch gesagt, dass du mich liebst!«
»Natürlich mag ich dich, Papa«, hörte Greta Olivia ruhig antworten. »Aber jetzt komm. Ich bringe dich wieder in dein Zimmer.«
»Nein, das bist nicht du. Olivia versteckt sich.«
»Was redest du da, Papa? Das bildest du dir bloß ein.«
»Kommen Sie. Ich zeige Ihnen, wo Olivia ist.« Seine Stimme bekam plötzlich einen aggressiven Tonfall und langsam schlurfte er auf den Karton zu, hinter dem sich Greta versteckt hielt. Greta stockte der Atem und sie kauerte sich klein zusammen, hörte die zögernden Schritte des alten Mannes, sah seine Hand den Rand des Kartons packen und mit lautem Ächzen
ein wenig verrücken. Gleich war es so weit, gleich würde Olivia sie entdecken und dann musste Greta handeln.
»Nein, hier ist keine Olivia, Papa.« Die Stimme von Olivia war jetzt direkt vor Greta, klang laut und bestimmt. Greta sah Olivias Hand, die nach dem Arm ihres Vaters griff und ihn wegzog. Mit angehaltenem Atem hockte Greta hinter dem Karton auf dem Boden und wartete. Langsam entfernten sich Olivia und ihr Vater, das Licht wurde abgedreht und Greta blieb alleine in dem düsteren Chaoszimmer zurück. Sie wartete noch ein, zwei Minuten, dann schlich sie vorsichtig aus dem Salon, huschte über den Korridor und erreichte die Eingangstür. Aber die war abgeschlossen und kein Schlüssel steckte. Aus dem hinteren Zimmer hörte sie Olivia beruhigend auf ihren Vater einreden, während Greta hektisch umherblickte, dann Olivias Rucksack entdeckte. Hastig öffnete sie ihn, fand einen Schlüsselbund, steckte den ersten Schlüssel ins Schloss, aber er passte nicht. Schnell probierte sie den nächsten, doch jetzt begannen ihre Hände zu zittern. Schließlich schaffte sie es, den richtigen Schlüssel in die schmale Öffnung zu stecken, ihn umzudrehen und die Tür zu öffnen. Hinter sich hörte sie Olivia, die gerade im Begriff war, aus dem Zimmer zu gehen. Im letzten Moment huschte Greta aus der Wohnung, schloss die Tür leise hinter sich, raste die Treppe hinunter und weiter nach draußen. Auf der Straße presste sie sich eng an die Hausmauer und holte tief Luft.
Max saß in dem alten Rover und kaute ein Sandwich.
»Spinnst du! Wieso hast du mich nicht gewarnt?«, herrschte sie ihn an. »Beinahe hätte mich die Hofmann erwischt.«
»Es tut mir leid. Aber ich hatte plötzlich Hunger und fühlte mich elend. Da bin ich nur schnell in den Supermarkt und habe mir ein Sandwich gekauft.«
»Du mit deiner Esssucht! Fahr endlich los!«, sagte Greta
.
»Nein, ich will noch einen Blick auf Olivia werfen«, widersprach Max.
Greta antwortete nicht, sondern legte den Kopf an die Nackenstütze. Die verwirrenden Gedanken in ihrem Kopf ordneten sich langsam wieder und ein klares Ziel leuchtete auf wie die Neonanzeige eines Drive-ins: »Ich weiß jetzt, wie wir die Familie retten können.«