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Olivia hörte ein Geräusch, als würde eine Tür ins Schloss fallen, und eilig kam sie aus Leopolds Zimmer. Das Licht im Flur beleuchtete die Eingangstür und der Schlüsselbund glitzerte wie ein Schmuckstück. Schnell ging sie den Korridor entlang und öffnete die Tür. Im Treppenhaus brannte Licht, aber es war kein Mensch zu sehen. Nachdenklich kehrte sie in die Wohnung zurück. Auf dem Boden lag ihr geöffneter Rucksack und Olivia konnte sich nicht erinnern, ihn dort hingeworfen zu haben. Doch sicher war sie sich nicht. Sie hockte sich auf den Boden und kramte ihr Handy hervor. Dann wählte sie die Nummer von Erna. Aber die Pflegerin hatte ihr Handy abgeschaltet.
»Wieso lässt Erna Leopold alleine in der Wohnung? Das sieht ihr doch überhaupt nicht ähnlich«, murmelte sie vor sich hin, während sie nach hinten in den Salon ging.
Sie öffnete die Balkontür und blickte nach unten. Ein dunkler Wagen stand auf der anderen Seite zwischen zwei Bäumen. Ein bleiches Gesicht starrte zu ihr herauf .
»Max!« Olivia zuckte zurück und schloss hastig die Tür. Als sie nach einigen Augenblicken vorsichtig erneut hinunterblickte, war der Wagen verschwunden. Hatte sie sich vielleicht getäuscht?
Unruhig setzte sich Olivia an den Schreibtisch. Doch irgendwie hatte sie das Gefühl, als wäre jemand in ihrem Zimmer gewesen und hätte ihre Sachen durchwühlt. Ihr Moleskine-Notizbuch lag verkehrt herum und das Gummiband war nicht über den Einband gelegt. Aufmerksam blickte sie umher. Sie sah das Foto von Michael auf dem Boden. Sie hob es auf und betrachtete es lange, um es dann in der Mitte abzuknicken und in den Karton mit den anderen Fotos zu stecken.
»Mach dich bloß nicht verrückt«, sagte sie mit einem lauten Seufzer. Sie klappte das Notizbuch auf und begann damit, die Begegnung mit Kathi, der verflossenen Freundin von Andreas Sperl, niederzuschreiben. Aus dem Gedächtnis gab sie den Dialog mit Kathi wieder und machte am Schluss ein großes Fragezeichen.
Olivia ließ den Stift sinken und rieb sich die Augen. Kathi hatte zugegeben, eine Falschaussage gemacht zu haben. Damit konnte sie Sperl zusätzlich ködern. Doch der Haupttrumpf war Alma. Wenn sie es schaffte, dass Alma ihren früheren Geliebten besuchte, dann würde Sperl die Wahrheit über das sagen, was in jener Nacht wirklich passiert war. Dann bekäme sie endlich Klarheit darüber, wer Rosa ermordet hatte. Olivia warf einen Blick auf ihre Armbanduhr und griff dann entschlossen zum Telefon.
»Olivia, was gibt es?« Levi hatte so schnell abgehoben, als hätte er bloß auf ihren Anruf gewartet.
»Ich habe mich heute mit Kathi Moser, der Belastungszeugin, getroffen«, sagte Olivia .
»Und was hat sie dir erzählt?«, fragte Levi hörbar angespannt.
»Sie gibt zu, Andreas Sperl damals falsch belastet zu haben.«
»Das ist ja ungeheuerlich! Aber diese neue Aussage muss sie schriftlich bei der Polizei machen. Wann kann sie morgen auf dem Kommissariat sein?«, fragte Levi.
»Das ist nicht so einfach. Sie ist nach unserem Gespräch einfach verschwunden.« Olivia berichtete Levi von der Fahrt durch das Hotel Psycho.
»Tja, das hilft uns leider nicht weiter«, meinte Levi resigniert. »Ihre bisherige Aussage muss von ihr persönlich widerrufen werden.«
»Was machen wir dann?« Olivia griff nach ihrem Stift und malte Kreise, die wie Luftblasen aussahen, auf die Schreibtischunterlage. Und genauso fühlte sie sich. Der ganze Abend mit Kathi war umsonst gewesen. Aber dann kam ihr eine Idee. »Was hältst du davon, wenn wir jetzt sofort zu Andreas Sperl fahren?«, fragte sie Levi.
»Es ist aber schon spät«, gab Levi zu bedenken.
»Das macht doch nichts. Ich habe noch die Besuchserlaubnis von Adele. Therapeuten können auch abends zu den Häftlingen. Außerdem liegt Sperl jetzt in einem bewachten Trakt im Allgemeinen Krankenhaus.«
»Wieso das denn?«, fragte Levi.
»Adele hat es geschafft, Sperl dorthin zu verlegen. Und da ist es wie in einem normalen Spital. Es herrscht ein ständiges Kommen und Gehen.«
»Na gut, ich hole dich gleich ab.«
Olivia legte das Handy zur Seite und ging hinaus auf den Flur. Sie öffnete die Eingangstür und klingelte bei ihrer Nachbarin, mit der sie ein freundschaftliches Verhältnis pflegte.
»Hallo Roswitha«, sagte sie. »Ich habe eine Bitte an dich. In wenigen Minuten werde ich abgeholt wegen eines dringenden Termins. Kannst du in der Zwischenzeit auf Leopold achten? Er schläft zwar, aber ich will ihn nicht alleine lassen.«
»Mache ich doch gern, Olivia«, sagte Roswitha, die Witwe war und ihre Abende meist vor dem Fernseher verbrachte. »Hast du jetzt endlich eine Verabredung? Zeit wird’s«, meinte sie augenzwinkernd. »Ich komme gleich rüber.«
Als es sich Roswitha im Kabinett vor dem Fernseher gemütlich gemacht hatte, trat Olivia auf den Balkon hinaus und dachte wieder an Max, der unten im Wagen gesessen hatte. Max war der Schlüssel zu dem Geheimnis, das über seiner Familie schwebte. Aber alles zu seiner Zeit. Das Hupen eines Autos riss sie aus ihren Gedanken. Olivia blickte hinunter und sah den weißen Saab vor dem Eingang stehen.
»Bin gleich bei dir«, rief sie Levi zu und griff nach ihrem Rucksack.
»Bis später«, verabschiedete sie sich von Roswitha.
»Amüsiere dich gut«, hörte sie Roswithas Antwort, als sie schon bei der Eingangstür war.
Als das Allgemeine Krankenhaus vor ihnen auftauchte, verlangsamte Levi den Wagen und bog auf den Parkplatz ein.
Zügig gingen sie auf den Eingang der Krankenstation für Häftlinge zu. Nichts unterscheidet diesen Gebäudeteil von einem normalen Krankenhaus , dachte Olivia, als sie durch eine gläserne Drehtür in das Foyer traten. Nur dass anstelle des Empfangstresens ein Glaskasten mit einem uniformierten Beamten steht, bei dem man sich ausweisen muss.
»Inspektor Kant, lange nicht gesehen«, sagte der Beamte erfreut, als er Levi erkannte. »Ich bin heute Abend nur als Vertretung hier.«
»Hallo Beier, wie geht’s Ihnen?«, begrüßte Levi ihn. »Heute begleite ich nur die Kollegin vom psychologischen Dienst. «
»Guten Abend«, sagte Olivia und schob ihre Besuchserlaubnis durch einen Schlitz in den Glaskasten.
»Sie wollen zu Andreas Sperl?«, brummte der Beamte. »Der hat heute aber regen Besuch.«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Olivia erstaunt.
»Da hat sich zuvor bereits eine junge Frau bei ihm angemeldet. Eine Psychologin mit Namen Dr. Adele Bauer.«