Solide

Wie es kommt, dass ich so stark geworden bin, Prinzessin? So stark, dass ich dich ganz einfach zerquetschen könnte. Das Grundprinzip liegt in jeder Faser von mir. Wie wenn Eier aufplatzen und kleine Krokodile rauskommen: Sie sind gleich von irgendetwas beseelt. Sie schnappen nach einem und haben trotzdem eine liebevolle Mutter. Geschickt nimmt sie alle ins Maul auf, was keiner von einem Krokodil erwartet.

Wie so ein kleines schnappendes Krokodil hatte ich wohl schon von Anfang an dieses Durchsetzungsvermögen. Obwohl nach dem Krieg die Ernährung schwierig war, kriegte ich von meiner Oma Dora, der Dorle, alles Gute in den Mund geschoben. Hefeblöcke zum Lutschen. Ich habe sie über alles geliebt. Sie war großherzig und resolut bis zum Gehtnichtmehr. Sie war vollbusig und hatte starke Arme. Sie schnitt das Brot zur Brust hin. Wenn sie mich drückte, war alles wieder gut. Aber sie konnte mir auch in die Fresse geben. Manchmal nahm sie ’ne Drahtbürste. Danach sah ich aus wie mit Pocken verziert. Das hatte ich dann wohl verdient. Sie war gerecht.

Und dann war da mein Opi Sepp, der herausragende Typ in der Gegend. Der sah mit seinem Moustache aus wie Clark Gable, als man den da überhaupt noch nicht kannte. Immer elegant, der Schneidermeister. Stell ihn dir vor, Prinzessin, wie er mit hochgeschobenen Armein, Maßhemd, Monogramm in der »Goldenen Wartburg« gefeiert wird als Billardhäuptling. Aber der Opa Sepp hat die Zeit nicht zu seiner Geliebten erwählt. Einmal hatte Oma Dora grüne Knödel gemacht. Ich sollte ihn holen aus der »Goldenen Wartburg«. Du kommst rein und siehst deinen Großvater spielen, konzentriert und elegant. Er sieht dich, und dann kommt diese durchdringende Stimme: »Mein Junge ist gekommen, mein Junge.« Er ruft den Wirt. »Was Kleines für den Kleinen.«

Das Bier war wie Weihwasser für mich. Da war ich so ein Hosenmatz, der noch nicht zur Schule ging. Mein Großvater nimmt einen Kleiderbügel und reißt den Haken ab. Er nimmt den Bügel zwischen seine schneeweißen Zähne, und ich soll mich dranhängen. Da konnte ich ja nicht wie eine Lusche rumhängen, ihn zu blamieren wäre das Letzte für mich gewesen. Er war ein Pokerspieler und wusste nicht genau, ob ich das konnte, was er mit mir vorführen wollte. Aber er hatte meine Muskeln oft in seinen Händen gehabt, an ihnen rumgedrückt und rummassiert, das war hart, wie Pferdeküsse. Ich habe gelacht und gejammert. Meine Omi schimpfte: »Hör auf, du tust ihm weh.« Aber er sagte: »Der Junge soll stark sein, aus dem soll ein harter Bursche werden.« Als ich das erste Mal an dem Bügel zwischen seinen Zähnen hing, da hab ich ihm gezeigt: Ich bin stark. Habe ihm das Letzte gegeben, meine eiserne Reserve. Ich bin hoch im Klimmzug und hab in das Weiße von seinen Augen gesehen. Zur Belohnung kriegte ich eine kleine Bockwurst. Mit Senf.

Vielleicht stammte mein Großvater von August dem Starken ab, der Hufeisen und Goldmünzen in der Hand zerbrechen konnte. Er soll in Sachsen mindestens 246 Söhne hinterlassen haben, warum nicht auch in Gablenz, so einem gallischen Dorf am Rande von Chemnitz. Karl-Marx-Stadt hat man damals gesagt. Der Sachse macht ja über alles Witze und aus ’ner Bierdose ’ne Handgranate, und wenn da ein Schwarzer kommt, dann sagt der Apartheidsachse: »Den bürste ich weg.« So war das in meinem Dorf, davon ist noch heute was geblieben, wenn auf der Straße auch nicht mehr die Pferdeäpfel liegen, die ich für die Gurken- und Bohnenbeete meiner Omi aufgesammelt habe. Gablenz war Endstation der Straßenbahn, Ende der Welt, meine Ein-und-Alles-Welt. Doch da tobte das Leben nicht nur bei den Nachtfaltern.

Neben der Schneiderei von meinem Opi, unten die Werkstatt mit der Schneiderpuppe im Fenster, oben die Wohnung, also neben der Schneiderei war die Schmiede. Da drin am Feuer war für mich der Mittelpunkt der Welt. Stell dir vor, Prinzessin, ich durfte den Blasebalg bedienen. Der Schmied war für mich der größte Held. Ein tapferes Schneiderlein wie mein Großvater wollte ich nicht werden. Ein Mann, der das Eisen biegt, so einer wollte ich einmal sein. So wie der Schmied, der den Pferden die Hufe hochbog und beschlug. Der vor nichts Angst hatte, und um ihn herum flogen die Funken. Der diesen Riesenhammer schwang, den Hammer, den ich als Kind so gerne anfassen wollte, aber nicht hochkriegte.

Der Onkel Schmied, den ich so bewunderte, der sagte: »Ey, Stefan, gib mir mal das Eisenstück.« Ob er sich einen groben Spaß machen oder mir beibringen wollte, nicht alles zu tun, was man gesagt kriegt, was weiß ich. Das Eisenstück war vor Hitze noch halb blau. Das muss er gesehen haben. Im Vertrauen auf Onkel Schmied hab ich das Eisen angefasst und bin fast kleben geblieben. Mit den verbrannten Fingern bin ich flennend über das Weltunrecht in die Werkstatt von meinem Opa gerannt. Der saß zwischen seinen Lehrmädchen im Schneidersitz auf dem Tisch, und das Erste, was ich von ihm gekriegt habe, war eine Backpfeife, weil ich geheult habe, vor Frauen, vor seinem Personal. Dann hat er mich gefragt, was los war, hat mich an meiner unverbrannten Hand genommen und zur Schmiede geführt. Der Schmied mit seinem dicken Lederschurz war hinten am Feuer zugange. Mein Opi in seinem Anzug aus feinem Tuch, eben seiner Arbeitskleidung, ging rein und machte die Tür vor mir zu. Ich habe vor der schweren, eisenbeschlagenen Pforte gestanden und gezittert und gedacht, jetzt wird mein Opi erschlagen. Dieser starke Schmied. Mehr als 100 Kilo. Mit seiner Lederschürze. Ich habe gewartet und gewartet. Es dauerte endlos, und ich hatte nur Angst, dass mein Großvater in diesem Fegefeuer verendete. Irgendwann geht die Tür auf, und er kommt raus, nicht mehr korrekt in seinem Anzug. Der sieht völlig verwichst aus. Aber er kommt eben raus. Ich gucke, wo ist der Schmied, und kann es nicht fassen: Der liegt auf dem Rücken mit seinem gewölbten Lederschurz. Wie der dicke Obelix. Ausgestreckt auf dem Boden. Und rührt sich nicht mehr.

Mein Opi war nicht mein richtiger Opi, obwohl er sehr wohl der Richtige war. Ich musste zu dem Kommunisten Petzold Opa sagen. Der war auch ganz nett zu mir. Aber ich mochte ihn nicht. Ich konnte nicht leiden, dass der im Bett Pfeife rauchte und gelbe Finger hatte. Irgendwie roch der für mich schlecht. Aber dass ich zu Weihnachten von beiden was kriegte, von dem Petzold-Opa und dem Opa Sepp, fand ich gut. Der Kommunist, der hatte was zu sagen, und das war wohl schon so, als er in der Nazi-Zeit noch nicht der Kommunist war. Als er die Dora wollte. Sie ihn nicht. Aber sie musste ihn nehmen. Vor der Hochzeit sagte man ihr: »Du musst alles machen, was er will«, und das war für ein Mädchen mit heilem Trommelfell, sprich Jungfernhäutchen, nicht angenehm. Nein, das war ziemlich unheimlich. Der Petzold war ein Gummifetischist. Das hat meine Omi, da war sie schon sehr alt, mir unter Tränen gestanden. Das Bett war mit einem Gummilaken ausgeschlagen. Das Knistern machte den Petzold an. Der trug eng geschnittene Gummihosen mit ausgeschnittenen Arschbacken, revolutionär für die Zeit. Aber die Dora mochte das nicht. Sie fand das nur fürchterlich. Als der Petzold auf einen Lehrgang musste, hat er seinem Freund, dem Schneidermeister, meine Großmutter zum Aufpassen gegeben, und der hat mehr als aufgepasst. Die Dorle lernt den ersten richtigen Mann kennen, der nicht mit Gummi behaftet ist und auch nicht nach Gummi riecht, sondern nach Sepp. Der zeigt ihr, wo der Hammer hängt und was normal ist. Sie haben guten Sex, ohne Gummilaken, und das Ergebnis ist meine Mutter Ursula. Das wurde natürlich kaschiert. Als Kind glaubt man ja Marmelade an der Wand, bis zum Schluss, bis man weiß, was wirklich gelaufen ist.

Meine Mutter war 17, als sie mich gekriegt hat. Ich hab ihr wohl schon von Anfang an was angetan, denn ich war schon vom Kopf her ein Brocken, so um die neun Pfund. Dass ich mit zwei Jahren immer noch keine Haare hatte, war ihr peinlich. Kindlich, wie sie war, hat sie mir eine Pudelmütze aufgesetzt, die ich nicht abnehmen durfte, wenn wir bei ihrer Freundin waren. Das hat mir die Freundin später erzählt, ich erinnere mich nicht mehr an die Zeit, als meine Mutter noch da war. Ich habe meine Mutter nur als Fata Mor-gana gekannt. Die schwirrte zu Weihnachten an und war eine ziemlich attraktive Frau. Das konnte ich schon an ihren Nahtstrümpfen erkennen. Und an ihrem Parfüm. Wenn sie wegging, habe ich gebettelt, dass sie mir was davon auf mein Kopfkissen macht.

Von meinem Vater habe ich kein frühes Bild im Kopf. Der ging bei Nacht und Nebel in den Westen. Die Motorik ausgelöst hatte sein jüngerer Bruder, der Onkel Manfred, mit seinen sarkastischen Briefen aus dem Wirtschaftswunderland: »Meine Abzüge hier im Westen sind so hoch wie dein jämmerlicher Verdienst im Osten.« Das war der Schlüsselsatz für alles Weitere, den hab ich später noch oft gehört.

Mein Vater Heinz war der Ältere, der wollte erreichen, was der Jüngere schon hatte. Dann holte mein Vater meine Mutter nach und meinen kleinen Bruder, mich nicht. Meine Eltern verlor ich völlig aus der Birne. Meine Oma Dorle war meine Mutter und mein Opi Sepp mein Vater. Ich vermisste nichts und niemanden. Bis die Geschichte mit Gerda geschah.

Sie war Jung-Gesellin bei meinem Opa und die lockerste von all den Mädchen, die mit ihren Nadelkissen und Pieksern auf dem Tisch der Schneiderei saßen, in meiner Kopfhöhe. Sie wollte, dass ich das Mäuslein suchen sollte, was weiß ich, ob sie das angemacht hat. Ich kleiner Spargel ganz naiv: »Ja, wo ist denn hier ein Mäuslein?« Irgendwo unter ihren Röcken, kicherten die Mädchen. Da bin ich mit der Hand so hin und her gegangen. Irgendwie bin ich dann bei der Gerda an die Haare gekommen und hab ihr feuchtes Fell zu fassen gekriegt. Zutiefst erschrocken zog ich meine Hand blitzschnell zurück. Tante Gerda wollte sich totlachen, weil ich von Tuten und Blasen keine Ahnung hatte.

Mein Opi Sepp war ein Luftikus und hat sich in Gerda verrannt. Die war zwanzig Jahre jünger als er. Meine Omi muss irgendwann dazugekommen sein, als der Sepp an seiner Gesellin rumgemust hat. Die Gerda ohne Schlüpfer. Da hat die Omi gezetert, und der Opa hat ihr ein blaues Auge gehaun. Ich sehe meine Großmutter mit der Farbe im Gesicht und bin mittendrin im Scheidungskrieg. Sie macht mir meinen Lieblingsopa schlecht. Ganz böse wird er mit einem Mal. Mit dem blauen Auge ist meine Omi sofort weg. Die hat sich nicht noch einmal schlagen lassen. Mein Opi ist bis an sein Lebensende mit der Gerda zusammengeblieben. Meine Omi blieb allein, nach dem Sepp fand sie alle anderen Männer ekelig.

Für mich waren die glücklichen Tage in der Schneiderei zu Ende. Danach lebte ich in so einer Chaossituation. Meine Omi und ich, wir müssen ein trostloses Gespann abgegeben haben. Wir kamen in zwei Zimmerchen auf dem Hinterhof einer Mangelwirtschaft unter. Meine vollbusige Omi, an die ich mich immer anlehnen konnte, war mit einem Mal geschwächt. Hochrot stand sie von morgens bis abends an der Heißmangel. Als Frau vom Schneidermeister hatte sie Kostüme mit Nadelstreifen und frisch gebügelte Blusen getragen. In ihrem neuen Unglück verschwand sie in unförmigen Kittelschürzen.

Völlig durcheinander, wie ich durch die Trennung meiner Großeltern war, wurde ich eingeschult. Ich war ein starker Junge und hatte nie Bock zu verlieren. Ob ich schon damals gefährlich wirkte? Gefühlt hab ich was ganz anderes: Die Schule hat mich grausam gequält. Ich hab das alles nicht verstanden. Warum werde ich so ausgegrenzt? Warum darf ich nicht mit den anderen rausrennen, wenn es schellt? Warum muss ich warten und nur mit dem aufsichtsführenden Lehrer gehen und mein Pausenbrot essen? Mein Makel war, dass meine Eltern republikflüchtig waren. Dann hab ich noch verbrochen, am heiligen Ersten Mai der DDR Präser aufzublasen. Wozu die da waren, wusste ich nicht. Mein Onkel Manfred aus dem Westen hat den Familienruf noch mehr versaut: Er konnte sich nicht verkneifen, mit der Isetta vorzufahren und Kaugummi zu verteilen. So kam es, dass ich in der Schule meine Nietenhosen – die hießen noch nicht Jeans – runterziehen musste, weil die ein amerikanisches Element waren. Man wollte sehen, ob ich noch was Fremdes drunter hatte, und so musste ich meinen blanken Arsch zeigen. Das war für mich eine Demütigung hoch drei. Da krieg ich heute noch einen Kackreiz.

Mein Opa Petzold, der Kommunist, hat mir auch nicht geholfen. Der war ein Hasenfuß.

Anstatt in der Schule stillzusitzen, wollte ich in der Gegend rumstromern. Ich war ein Träumer und hab oft die Zeit vergessen. Manchmal bin ich erst nach Hause gekommen, wenn es schon dunkel war. Wenn es sehr spät wurde, war meine Omi fast krank vor Angst um mich. Dann hat sie mich fürchterlich verdroschen, was ich heute verstehen kann, damals natürlich nicht. Einmal, als ich mit Kopfschmerzen aus der Schule kam, hat sie mir angesehen, dass irgendetwas nicht in Ordnung war. Sie hat gebohrt und rausgekriegt, dass mir ein Lehrer einen schweren Weltatlas an den Kopf geballert hat, weil ich gepennt und nicht das richtige Interesse gezeigt habe. Daraufhin ist sie zur Schule gegangen und hat Zoff gemacht. Als Kind wusste ich nicht, dass sie riskiert hat, eingesperrt zu werden. Das haben unsere Nachbarn meinen Eltern in den Westen geschrieben: »Hier muss was geschehen, sonst geht es mit der Dorle und dem Stefan nicht gut aus.«

Es ist dann was geschehen. Es war wie Feueralarm. Ich wurde aus dem Schlaf gerissen. Mein Vater, den ich gar nicht kannte, stand an meinem Bett. Er kam so elitär daher und roch irgendwie fein, nach Westen. Ich wurde überfallartig angezogen. Wir fahren nach Leipzig, wurde mir gesagt. Meine Omi ist noch mitgekommen bis Leipzig. Der Bahnhof war furchtbar zugig, kalt, die Riesenlokomotive schüchterte mich ein. Ich konnte meine Tränen nicht zurückhalten und wusste: Alles, was meine Omi sagte, war Lüge. »Wir sehen uns bald wieder, ich komme nach.« Alles Lüge. Alles Bullshit. Ich wurde wie ein Gepäckstück an meinen Vater abgegeben. Da war ich neun Jahre alt.

Was aus mir geworden wäre, wenn ich im Osten geblieben wäre? Ein Spitzensportler oder ein Häftling in Bautzen, lebenslänglich. Ich kam renitenter im Westen an, als ich je im Osten gewesen war. Ankunft am Hamburger Hauptbahnhof: Das war für mich gigantisch. Da stand ein weiß Uniformierter auf einem Sockel und hat den Verkehr geregelt. Verkehr – so was kannte ich nicht. Wo ich herkam, spielten wir Kinder Kippelkappel auf der Straße. Wenn ein Auto kam, war das was Besonderes. Und auf einmal dieser brausende Verkehr. Ich hab vor Aufregung bald einen Gehfehler gemacht.

Ich werde nie vergessen, wie ich in mein neues Zuhause kam. Das Einfamilienhaus mit der weißen Vorderfront war nicht unseres, da wohnte ein Russenehepaar. Wir gingen in den Hof, zu so einem Garagenanbau. Von meiner Mutter lag ein Zettel in der Küche: Sie war im Krankenhaus. Keine Ahnung, warum. Wir hatten fließend Wasser in der Küche, aber das kam von den Wänden. Im Wohnzimmer stand ein Gitterbett. Da lag mein kleiner Bruder drin, dreieinhalb Jahre jünger als ich, der wird wach und erkennt mich nicht. Neben seinem Gitterbett gab’s ’ne Couch, die konnte man hochklappen, knicken und ausziehen, auf Rädern. Das war die Ausziehcouch. Darauf machte mein Vater das Bett für mich. Was ich da literweise Wasser reingeweint habe, das möchte ich nicht wissen. Was ein Seemann oder ein Fremdenlegionär kennen lernt, habe ich als Kind erfahren. Heimweh. Jede Nacht habe ich das Kissen zugeheult. Ich brauchte gar nicht mehr auf Toilette.

Zum Klo musste man raus aus der Wohnung durch zwei Türen. Die erste war schwer aufzumachen. Dann war da so ein Strick, mit dem man die Glühbirne anmachte. Daran zu ziehen, war mir unangenehm. Was glaubst du, Prinzessin, was sich da für Fliegen ansammelten, gefangen in Spinnennetzen. Du hörst das Gesumm, dieses irre Gesumm. Du wagst nur ganz kurz an dem Strick zu ziehen, damit es hell wird. Du gehst durch die nächste Tür zum Plumpsklo. Ohne Spülung. Du hast Angst, in das Loch reinzufallen, wenn du auf dem Sitz rumrutscht. Du musst aber, wenn du fertig bist, sofort zur Seite rutschen, weil dann der Abschaum hochschießt. Dann ziehst du dir vom Zeitungspapier die Druckerschwärze bis zum Rückgrat hoch.

Unser gemischtes Familienbild: Von sieben Tagen hat es mindestens an vieren geknallt, nicht immer nur verbal. Mein Vater hat meine Mutter gehauen, und oft hat sie zurückgeschlagen, nicht gehauen, die haben sich geprügelt. Meine Mutter hat dann bei Onkel Manfred übernachtet, das war nicht gut, weil der reichlich amerikanischen Whisky hatte.

Mein Vater war ein korrekter Typ, Kf z-Elektriker. Ich hör noch heute, wie er von der Arbeit kommt: Er schließt auf. Er putzt sich die Schuhe ab. Alle anderen Schuhe sind aufgenordet, keiner darf aus der Reihe stehen. Steht doch ein Schuh falsch? Er ruft: »Ursula!« Das ist schon die Alarmstufe. Wir hatten jeder unsere Aufgaben zu erfüllen, ich musste immer den Ascheimer runterbringen und mit einem Zettel einkaufen. Habe ich was vergessen? Hat sie was falsch gemacht? Alle sind elektrisiert, wenn es kommt, sein lang gezogenes: »Ursula!«

Meine Mutter war ’ne lebenslustige Frau, sehr stark in ihrer Persönlichkeit. Auch sehr kreativ darin, Männer anzumachen. Mein Vater hing trotzdem oder gerade deswegen an ihrer Schnur. Sie war eine Art Vorstadtschönheit, meistens hatte sie kastanienrote lange Haare, Locken. Aber sie war variabel mit den Haaren und der Farbe. Großen Wert hat sie immer drauf gelegt, was herzumachen. Wenn sie aus dem Haus zur Arbeit ging, sie war Sekretärin, sah sie nach was Besserem aus. Nicht so einfach wie die Frauen in unserer Nachbarschaft.

Und dann, Prinzessin, wird meine Mutter nach einem Betriebsausflug von zwei Männern nach Hause gebracht. In ihrem Klappverschnitt, also der Tasche, findet sich ihr Höschen. Und sie ist vielleicht von den zwei Männern durchgevögelt worden. Was sich meine Eltern da gewichst haben, grauenvoll haben die sich geschlagen.

In der erbärmlichsten Verfassung habe ich meinen Vater erlebt, als er meine Mutter mit hoch geschobenem Rock gesehen hat. Wie sie an ein Fahrzeug gelehnt gerade gefickt wird. Da hat er geflennt: »Was soll ich nur machen, Ursula? Ich kann dich doch nicht totprügeln.« Das ist vor uns Kindern ausgetragen worden, weil wir ja schliefen.

Jedes Wochenende hat mein oberkorrekter Vater die Sau rausgelassen und sich betrunken. Meine Mutter auch. Meine Eltern haben jede Woche Party gehabt. Onkel Sigi, Tante Thea, Onkel Manfred, Erika und die Sachsen, die hier angesiedelt waren, haben sich getroffen. Und dann ist die Post abgegangen. Die sind alle ihrem gegenseitigen Wettbewerb unterlegen. Ich hab ’nen Ford Cabrio, Heinz muss den Daimler haben, sein Bruder noch was Besseres. Alle haben sie in ihrer unterschiedlichen Art und Weise versucht, meinen Bruder und mich zu erziehen und auf uns einzuwirken. Auch da war ein Wettbewerb zwischen meinen Verwandten und meinem Vater. Wenn mein Vater ’ne Uhrzeit gesetzt hatte und der eine Sprössling war nicht da, oder der andere hatte was gemacht, was er nicht sollte, dann wollte er vor den anderen nicht bloßgestellt sein. Dann musste er den anderen zeigen, wie das so ging, die saubere Erziehung der Söhne.

Sonntags, Prinzessin, krieg ich noch heute Depressionen, wenn ich mich an meine Kindheit erinnere.

Nie habe ich mich mit meinem Vater umarmt oder gedrückt. Das Vater-und-Sohn-Ding hat er schon gewollt, aber das hab ich nicht hingekriegt. Abends die Tür nur fünfzehn Zentimeter aufgemacht und »Gute Nacht« durch den Spalt geschoben. Die Kälte war zum Gänsehautkriegen.

Die erste Dresche von meinem Vater hab ich gekriegt, als ich mit meinem einzigen Paar Stiefel Fußball gespielt hab. Die nächste, als ich mit meinem Ball ein Loch in eine Hecke geworfen hab. Oder ich hab beim Spaghettiessen geschlürft. Da hat er mir ins Gesicht gehauen, so doli, dass mir die Gabel im Gaumen stecken geblieben ist. Ich hab so ’ne Angst gehabt, sie rauszuziehen. Dass dann das Blut rausspritzt. Ehrlich Prinzessin, ich hab ihn selber schlürfen gehört.

Schlimmer noch ist die Sache mit dem Hühnchen gewesen. Das Russenehepaar hat hinter dem Anbau, wo wir gewohnt haben, Geflügel gehalten. Das Schnattern der Gänse und das Glucken der Hühner, das Piedelpiedelpiedelpiel der Russin, wenn sie Körner gestreut hat – das hab ich von Anfang an nicht leiden können. Irgendwie hab ich zu dem Federvieh ein gestörtes Verhältnis gehabt. Dann hat der Russe vor mir einem Huhn den Kopf abgehauen, und das ist ohne Kopf hinter mir hergelaufen. Tagelang hat mich dieses Elendstier verfolgt. Ich hab dann angefangen, kleine Kieselsteine nach den Hühnern zu werfen. Und geguckt, wie sie weggelaufen sind. Obwohl ich eigentlich tierlieb bin, hab ich einen größeren Stein genommen und auf ein Huhn gezielt, das nicht die Flatter gemacht hat. Als das Huhn breit dagelegen hat, bin ich vor lauter Angst abgehauen. Der Russe muss das beobachtet haben. Er hat das Huhn geschlachtet und verlangt, dass mein Vater es kauft. Ich komme nach Hause und sehe, wie mein Vater das Hühnchen am Gasherd abbrennt. Was man bezahlt hat, soll man ja nicht verkommen lassen. Mein Vater sieht mich und zerdrischt das ganze Hühnchen, angefasst an den Beinen, auf meinem Kopf und meinen Schultern. Immer wieder, immer wieder, bis mir die Gedärme über der Fresse und den Ohren hängen. Es hat mich zwanzig Jahre gekostet, bis ich wieder ein halbes Hühnchen essen konnte.

Mein erster Schultag in der neuen Stadt war grausam und himmlisch zugleich. Niemand hat Zeit für mich, weil meine beiden Eltern berufstätig sind. Da erbarmt sich die Russin aus dem Vorderhaus und bringt mich hin. Sie ist stolz, mich an der Hand zu halten. Mir ist unangenehm, dass sie so einen festen Händedruck hat, richtig derbe. Das Schlimmste jedoch ist ihr Überbiss. Angst erregende Zähne ragen da raus. Jeder hält sie für meine Mutter. Das ist mir peinlich, weil das Einzige, was mir an meiner neuen Familie gefällt, das gute Aussehen meiner Mutter ist, ein bisschen auch mein kleiner Bruder.

Meine Klassenlehrerin Frau Fieger – Prinzessin, ich weiß noch heute ihren Namen, so muss sie mich beeindruckt haben –, Frau Fieger hat ein grünes Kleid an. Sie ist so höflich zu mir. Das ist mir fremd. Ihr Gesicht hat einen slawischen Einschlag. Sie spricht sehr hochdeutsch. Als ich meinen Mund aufmache und das reine Sächsisch quillt raus, geht die Klasse ab. Alle kichern. Frau Fieger hat das sofort unterbunden und sich sehr um mich bemüht. Wenn sie sich über mich gebeugt hat und ich ihre Achseln gerochen habe, dann ist mir weich in den Knien geworden. Da ist ein Signal angegangen. Prinzessin, ob Frau Fieger meine erste Liebe war?

Wenn man mit so einem komischen Dialekt daherkommt, muss man sich gleich in der ersten Pause mit dem Klassenstärksten anlegen. Das hab ich gemacht und den in den Papierkorb reingewichst. Auf diesem großen Schulhof mit jahrhundertealten Bäumen konnte ich mich zum ersten Mal in meinem Leben unter meinen Mitschülern frei bewegen. Mit der Folge, dass ich ganz schnell für den Schutz von meiner ganzen Klasse verantwortlich war. Wenn irgendeiner angejammert kam, hab ich geguckt: Wer war das? und hab das mit der Faust geregelt. Oder mein kleiner Bruder kam an und hat geflennt, dann bin ich runter und hab nicht gewusst, dass da drei warteten. Hab ich alle fertiggemacht.

Auf dem Schulhof wurde ich natürlich von den Größeren gehänselt: »Ach, der Sachse, gugge mal.« Sie haben den Dialekt nachgemacht. Zu denen bin ich hinmarschiert und hab denen als Kleinerer auf die Birne geboxt. Das ist immer krasser geworden, und ich bin in der Schule beim Lehrkörper klassisch auf den Arsch gefallen. Als Schläger.

Ich konnte als Sachse »Hamburger Dampfschifffahrt« nicht klar aussprechen. Das glaubst du gar nicht, Prinzessin, so geläufig wie ich das heute sage. Damit ich das Sächsische verliere, bin ich dann von meiner ersten Schule in eine Sprachheilschule geschickt worden. Da hat mir die wunderbare Frau Fieger furchtbar gefehlt.

Ich war aber nicht nur ein lästiger Schläger, den man abschiebt, Prinzessin. Im »Tannenwäldchen« bin ich als fideles Kerlchen aufgefallen. Das »Tannenwäldchen« war ein Kindergarten, in den ich nach der Schule gehen musste. Genau wie Mucki Pinzner, der ein Jahr älter war als ich. Wir waren nicht befreundet, aber unsere Wege kreuzten sich immer wieder, bis er als Massenmörder mit seinem schauerlichen Abgang in die Verbrechergeschichte einging. Er war mir schon als Kind nicht geheuer.

Dass ich im »Tannenwäldchen« gemocht wurde, Prinzessin, kannst du daraus ersehen, dass ich für das ehrwürdige Hamburger Schauspielhaus ausgesucht wurde, für das Weihnachtsmärchen. Ich war der Freund von Pinocchio, Rübe, der Straßenjunge. Es war aufregend, es hat Spaß gemacht, mit dem Pinocchio über die Bühne zu albern. Ich konnte gar nicht genug davon kriegen. Und das Beste war: Dafür wurde ich auch noch bezahlt. 175 Mark. Für mich ein Vermögen. Für 45 Mark hab ich einen elektrischen Rasierapparat für meinen Vater gekauft.

Mein Vater träumte davon, irgendwann noch seinen Meister zu machen, eine eigene Werkstatt zu haben, in der ich dann der Junior sein sollte. Sein Spielzeug für mich war nicht wirklich für mich. Es entsprach seiner ersten und wichtigsten Linie: dass ich seinen Beruf erlerne. Er legte großen Wert darauf, dass ich mit seinen Stabilbaukästen, Lego und anderem Puzzlekram zu Hause blieb. Das ging mir am Arsch vorbei. Ich musste raus. Ich war schon als Kind nur auf der Straße zu finden. Ich hatte kaputte Knie, zerschlissene Hosen. In den Ruinen rumturnen, alte Autobatterien finden oder Kupferkabel und beim Schrotthändler verkaufen, das war mein Ding.

Die Schule war es nicht. Aus der Sprachschule bin ich wieder in eine andere Schule abgeschoben worden. Neben mir saßen meistens irgendwelche Genies oder Mädchen. Von denen hab ich mir die Schularbeiten machen lassen. Die wurden morgens angeliefert, natürlich nicht in meiner Schrift. Ich hab das dann sauber abgeschrieben. Danke, Gabi, du warst die Beste, die Treueste. Bei Besinnungsaufsätzen hab ich aus blanken Seiten vorgelesen. »Stefan, was haben wir denn von dir zu hören?« Da krieg ich eine Angst, tief durchgeatmet, ohne Souffleuse. »Blick aus dem Fenster«. Da gibst du dich hin, das hast du doch schon gesehen. Die Regentropfen, die an die Scheibe klatschen. Ich hab dann von irgendwelchen Rinnsalen geredet und von Papierschiffchen, bis ich diese aufgelegte Hand gespürt habe. Für den Lehrer war mein Verhalten natürlich transparent. Er war auch verständnisvoll. »Eigentlich gibt man dafür eine glatte Zwei, da du aber nichts geschrieben und dir keine Mühe gemacht hast …«Er war schon verständnisvoll, der Lehrer. Der konnte mit Kindern umgehen.

Mathematik war für mich eine furztrockene Materie. Schon gegen das Rechnen habe ich mich gesperrt, und mein Vater hat das nur noch schlimmer gemacht. Wenn er nach Hause kam, das Erste, was ich ihm zeigen musste, war das Rechenheft. Dann hat er mich abgefragt: Sechs mal sieben. Wusste ich nicht. Er hat seine Zunge ein paar Millimeter rausgestreckt und seine Unterlippe nass gemacht. Dann wusste ich: Jetzt krieg ich in die Fresse. Das kenn ich schon von klein auf.

Als ein Musiklehrer dieses Züngeln auch gemacht hat, bin ich ausgerastet. Unsere Klasse war in der Aula, der Lehrer am Klavier. Jeder sollte vorsingen und seine Zensur bekommen. Ich übe mein Lied als Stummfisch. Ich kann jede Zeile. Jetzt bin ich dran. Es geht nicht mehr, ich kriege keinen Ton raus. Der Musiklehrer stimmt dreimal an, ich stehe da und starre ihm ins Gesicht. Er steht auf, rennt auf mich zu. Und züngelt. Zack. Ehe ich mich besinne, haue ich zu. Er liegt auf dem Aulafußboden. Die Schüler schreien. Panik. Der Direktor kommt. Bevor ich weiß, was los ist, gibt es ’ne Rückhand. Sie haben mich in der Aula eingesperrt. Viele Stunden. Um mich zu rächen, habe ich das Wasser aus den Aquarien abgelassen. Die Fische lagen japsend auf dem Grund. So wie die habe ich mich gefühlt. Dann haben sie mich von der Schule geschmissen. Wenn ich diese ganzen Strategen vor mir sehe, Pädagogen nennt man sie, dann krieg ich ’nen Kackreiz.

Sie haben mich in einem Scheißheim untergebracht, irgendwo über die Autobahn. Ich hab da Bettnässer im Flur stehen sehen, die ganze Nacht über sind die mit ihren Matratzen rumgelungert. Weißt du, Prinzessin, wenn einer Bettnässer ist, hat er viel Mist und Scheiße erlebt. Der mit der Hasenscharte, der musste sein Erbrochenes wieder essen. So mit Kindern umzugehen ist brutal.

Mir ist da eine üble Rotze passiert. Neben mir im Schlafsaal lag einer, der war drei bis vier Jahre älter als ich. Zwischen einem Zwölfjährigen und einem Sechzehnjährigen, da sind Welten. Der will, dass ich ihm mit der Hand am Schwanz rumspiele und einen wichse. Na gut, ich bin rüber, hat mir nicht gefallen. Am nächsten Abend sagt der: »Heute wieder.« Ich sag: »Nein.« Als wir uns im Freien auf dem Spielplatz aufhalten, droht er mir: »Wenn du heute Abend nicht kommst, kriegst du richtig Senge.« Da hab ich zwei Steinchen ins Taschentuch gewickelt, nicht ganz faustgroß. Als er seinen blöden Pfiff wieder hören lässt, bin ich hin und keule rein. Mann, hat der geschrien. Die Schwestern kommen reingerannt und sehen mich nur als Täter. Mein Taschentuch ist blutig. Blaulicht. Krankenwagen. Eltern informiert. Und ich sitze da wie ein Stockfisch. Ich kann niemandem erklären, warum ich dem die Hoden zerdroschen habe. Als Kind, Prinzessin, konnte ich die Vorgeschichte nicht so locker erzählen wie jetzt.

Ich wurde auf den Dachboden verbannt. Da roch es nach Staub und Jauche und Pisse. Da haben sie für mich ein Bett aufgestellt. Eine Ewigkeit war ich da oben. Sie haben mir auch noch glaubhaft versichert, ich dürfte Weihnachten nicht nach Hause. Ich sollte als Einziger ganz allein in dem Heim zurückbleiben. Ich wurde dann doch abgeholt, zu einem wunderschönen Weihnachten, hatte ich geträumt. Ein Scheißweihnachten war das. Alles nur Stress. Da wurde hart gearbeitet. Wir mussten sogar die Fransen vom Teppich kämmen. Alle waren am Ende erschöpft. Ich höre meinen Vater noch immer krakeelen: »Ursula, werf nicht das Lametta tonnenweise auf die Zweige.« Ich hasse noch heute Tannenbäume.

Mit Andy, mit dem ich zur Schule gegangen bin, hab ich mich eines Morgens verabredet: »So, wir werden Gangster. Wir machen einen Überfall.« Wir wollten vom Fahrrad aus ’ner Frau die Handtasche wegnehmen. Wir haben dann ’ne Münze geworfen, wer den Überfall macht. Auf mich fällt die Zahl. Furchtbar. Wir ziehen unsere Kreise, wir fahren näher ran, an der Bushaltestelle steht ’ne Oma, ich greif mir die Handtasche, geb Schraube, bis mir das Blut umkippt. Am S-Bahnhof stemm ich mein Fahrrad hoch auf den Hängeständer, geh auf die Toilette, weil ich den Scheiß ja wegschmeißen will. Ich weiß nicht warum, ich nehm zuerst den Personalausweis, guck mir den an und sehe das Bild: wie meine Großmutter. Sie sieht mich an, und ich denke: Bin ich bescheuert, dass ich solche Sachen mach. Ich hab mich geschämt, aber das Geld hab ich doch genommen. 40 Mark. Ne Prinz-Heinrich-Mütze hab ich mir gekauft, und von dem Rest sind Andy und ich Essen gegangen, Chinesisch. Man hätte uns fast nicht bedient, solche Kinder waren wir noch.

Mir ist es dann immer dreckiger gegangen, ich hab kaum noch gegessen. Heimweh. Heimweh. Ich war nur noch ein Strichlein, klapprig und elend. Zu zwei verschiedenen Ärzten wurde ich gebracht. Als mir Blut abgenommen werden sollte, hab ich mir die Spritze rausgerissen. Bis heute krieg ich ’nen Anfall, wenn man mir Blut abnehmen will, werde kalkweiß wie ’ne Aspirin. Der eine Arzt hat dann klar erkannt, was mit mir war, und meinen Eltern gesagt: »Entweder Sie schicken den Jungen wieder in die DDR oder Sie holen die Großmutter her.« Sie kam dann. Nicht dass man sie abgeholt hat. Mein Vater hatte keinen Bock, seine Schwiegermutter an seiner Seite zu wissen. Sie war erst im Lager. Dann kriegte sie Unterkunft im St.-Anschar-Krankenhaus, wo sie sauber gemacht hat. Der Pflichtbesuch mit meinen Eltern war grausam. Sie saß da in einer Art Zelle von siebeneinhalb Quadratmetern und hat ihre trostlose Lage kaschiert. Ich hätte sie am liebsten mitgenommen aus diesem verkackten Nonnenloch.

Sie war immer erreichbar für mich. Wenn ich nachts kam, hab ich mich auf die drei Stufen gesetzt. Irgendwann ging dann das Flurlicht an. Es war so, als hätte ich ein Ufo gesehen. Und sie kam in ihrem gesteppten Morgenmantel raus und hat mich reingeholt. Wir haben kein Wort gesprochen. In der Schule ging es besser, allein, weil sie da war.

Mein Onkel Manfred war ’n halber Playboy. Der wohnte zur Untermiete und durfte natürlich keine Mädels mitbringen. Das hat ihn nicht gehindert. Er hat seine Mädels reingeschmuggelt. In Bananenkisten hat er die Mädels reingetragen, auf der Schulter. Das hat mich schon als Kind fasziniert. An Onkel Manfred hab ich gedacht, als mich die Brigitte völlig verrückt gemacht hat. Immer donnerstags beim Schwimmunterricht, die war schon richtig reif. Ich war ja ein Schlüsselkind und hab ihr gesagt: »Ich geh schon mal hoch, und du kommst nach.« Wir haben uns splitternackt ausgezogen und ein bisschen angefasst. Ne tolle Sache. Es klingelt. Ich seh durch den Spion. Meine Mutter, die gestützt wird. Ich reiß unter der Dachschräge die weiße Klappe auf: »Geh bitte rein, Brigitte.« Schmeiß ihre Schulsachen und Kleider rein und bettle: »Bitte geh rein.«

Meine Mutter kommt ins Zimmer und jammert: »Mir ist so schlecht.« Deshalb hat man sie von ihrer Arbeitsstelle nach Hause gebracht. Sie fragt, warum ich nicht angezogen bin. Ich jammere los: »Mir ist auch so schlecht.« Sie legt sich auf die Couch im Wohnzimmer und gibt mir endlos Anweisungen, was ich bei irgendwelchen Nachbarn erledigen soll. Plötzlich geht die Klappe auf und Brigitte kommt nackt rausgekrochen: »Frau Hentschel«, keucht sie, »Frau Hentschel, ich hab nichts damit zu tun, ich kann Ihnen das auch nicht erklären.« Prinzessin, du musst dir die prüde Zeit damals vorstellen, Kuppeleiparagraf, Minderjährige. Das Gesicht meiner Mutter. Du denkst, sie kriegt ’ne Sehkrankheit, die Augäpfel kullern ihr raus. Und ich, Prinzessin, ich stand da, ich war enteiert, ich war enthauptet. Es gab nichts mehr, was mir noch einfallen konnte.

Urlaub, Gardasee. Mein Bruder und ich waren wie aus dem Häuschen. Mein Vater fuhr einen alten DKW, frontangetrieben, hinten drin die schwere Campingausrüstung. Als die ersten Berge kamen, hieß es: »Ursula, geh mal raus, schieben.« Wenn die dann geschoben hat, sahen wir unsere Mutter bald verkleinert im Rückfenster, und unser Vater hat gebrüllt: »Ursula, wir sehen uns oben wieder!« 700 Meter. Abwärts hat er dann den Gang rausgenommen und oft nicht wieder reingekriegt.

Wenn unsere Mutter irgendwo mal austreten wollte, hieß es: »Ursula, halt mal durch.« Dann hat sie eben auf den Sessel gepinkelt. Wenn wir Essen gingen, hieß es: »Ursula, guck auf die rechte Seite, wo die Preise sind.«

Vom Gardasee ist mir nur noch das blaue Wasser in Erinnerung und die »Nachtübung«. Schon von dem Wort waren wir Jungen begeistert. Nachtübung. Wir haben die Heringe rausgezogen, das Zelt ganz leise abgebaut und alles in den Kofferraum geschmissen. Unser oberkorrekter Vater, der in allem so genau war und uns nichts durchgehen ließ, hat das Schloss geknackt. Unser oberkorrekter Vater konnte den Campingplatz nicht bezahlen.

Unsere Eltern haben um jede Mark gerungen. Schon als Kind war es mir peinlich, wenn ich beim Kaufmann anschreiben lassen musste. Das hat mich Nerven gekostet. Und ich muss da wieder hin, muss den Einkaufszettel zeigen und hab wieder kein Geld in der Tasche. Ich hab eine Scheißunlust beim Einkaufen, ich hab mich geschämt, und ich krieg eine Wut, verdammt noch mal, ich will nicht anschreiben lassen, ich will Geld. Jahre hat mich das beschäftigt.

Nach einem Umzug wohnten wir in Plattenbauten, voll gestopft mit Flüchtlingen aus dem Osten, Zigeunern und Ausgesiedelten. Von den Jungs, die da draußen rumlungerten, war ich sofort der Chef, wegen meiner körperlichen Überlegenheit. Wir waren sechs, manchmal sieben. Die meisten von uns waren Zigeuner. Angeberisch nannten wir uns »Totenkopfbande«, nach dem Piraten Störtebeker. Was wir gemacht haben, war erst mal Kinderkram: Vorhängeschlösser von Kellern geknackt und das Eingemachte gegessen. Wenn wir Flaschen mit Gummipfropfen fanden, haben wir den Wein ausgetrunken und besoffen rumgelegen. Mein kleiner Bruder wollte so gern bei der Bande dabei sein, aber ich wollte das nicht. Ich wollte für ihn die Verantwortung nicht übernehmen. Ein Hentschel auf der Straße reicht.

Als ich einmal besoffen nach Hause kam, hat mein Vater mich grün und blau geschlagen, mit einem Wasserschlauch, 70 Zentimeter. Es lag an seiner körperlichen Schwäche, dass er mir kräftemäßig nicht mehr gewachsen war und so einen verlängerten Schwanz brauchte. Meine Mutter, die war im Schlafzimmer eingeschlossen, die schrie: »Heinz, Heinz, tu dem Jungen nichts an!« Er hört nicht auf zu prügeln, bis ich auf den Trick komme, mich totzustellen. Da hat er Pause gemacht und gehechelt wie ein Hund, hat sich über meinem Rücken ausgekeucht. Da war ich drauf und dran, mich in seinen Genitalien festzubeißen. Hab ich gelassen, ich musste ja tot sein. Ich war mit Sicherheit nicht bequem, aber wenn ein Kind so aussieht, dann nimmt man es den Eltern weg, da brauchen wir gar nicht drüber zu reden. Als er mich nach zwei Tagen im Badezimmer mit den Striemen am Rücken gesehen hat, ist ihm schlecht geworden. Nach vier, fünf Tagen sah ich immer noch so grausam aus, dass meine Großmutter auf den Plan trat. Ich sehe sie noch heute vor mir, wie sie mit ’nem Kartoffelschälmesser in der Hand zu meinem Vater sagt: »Wenn du Stefan noch einmal anfasst, schneid ich dir den Hals auf.«

Es war wie ein Bibelspruch für mich, was meine Oma zu meiner Mutter gesagt hat: »Trenn dich von dem Dreckskerl. Wenn ein Mann einmal schlägt, schlägt er immer wieder.«

Auf einem Gartenfest haben wir von der Totenkopfbande ’ne Geldkassette im Vereinshaus einer Laubenkolonie gesehen. Die hat uns interessiert, und wir haben beschlossen: Die holen wir uns. Hat auch geklappt, war aber nicht viel drin. Wir haben uns dann auf Gartenlauben spezialisiert, sind in eine nach der anderen eingestiegen und haben die durchsucht, um uns zu bereichern. Vor allem Bargeld haben wir genommen.

Bei einem Streifzug sind wir auf einen Mann gestoßen, der in einer Lehmkuhle gewohnt hat. Das war ein desertierter Bundeswehrsoldat. Der hatte eine Pistole, die hat er uns gezeigt. Wir Jungs waren begeistert, auch von seinem Leben in der Kuhle. Die Waffe war unser Traum. Ich hab ihm jeden Tag mein Schulbrot gebracht. Der Mucki Pinzner war auch bei dem Soldaten und wollte ihm die Pistole abschwatzen. Hat er aber nicht geschafft. Hat er wieder und wieder versucht. Weil der Mucki die Scheißpistole von dem Soldaten nicht gekriegt hat, ist er zur Schmiere und hat den Soldaten und natürlich auch mich verraten: »Der Hentschel füttert einen Deserteur, der bringt ihm jeden Tag Schnittchen.« Die Polizei war dann bei meiner Großmutter, glücklicherweise nicht bei meinen Eltern, weil der Mucki die Adresse falsch angegeben hatte. Der war unberechenbar – schon damals –, und das hat ihn so gefährlich gemacht.

Von den Gartenlauben ist die Totenkopfbande dann zu Baubuden übergegangen. Das bot sich an, weil rundum viel gebaut wurde. Unsere Zigeuner hatten Spaß daran, was kaputtzumachen, die Arbeitskleidung von Bauarbeitern zu zerfetzen, Telefone und Maschinen zu zerkloppen, eben Randale, Bambule zu machen. Ich war nicht zerstörerisch, ich war an was ganz anderem interessiert: nämlich an den Bierkästen, die in den Baubuden drin waren. Wie oft wurde ich als Kind zum Bierholen geschickt, von meinem Vater, Onkel Sigi, Onkel Manfred und dem ganzen Nachbarklüngel. Am Wochenende wurde ja nur gesoffen. Ich hab mir Bohlen besorgt und sie im Schlamm unter eine Baubude geschoben. Mit einem einfachen Wagenheber hab ich die ganze Bude hochgepumpt, 30, 40 Zentimeter, und bin durchgeschlüpft. Dann hab ich die Bierkästen rausgezogen. Für den Vorrat hab ich eine Erdhöhle gebaut. Da standen dann 20 bis 30 Bierkästen drin. Wenn am Wochenende wieder Bierholen angesagt war, hab ich meiner Familie das geklaute Bier verkauft. Ich kannte ja die Preise – und das Geld gehörte mir.

Das Schlimmste, was passieren konnte, ist mir dann passiert: Die Baubude, mit der ich gerade rummachte, ist durch den Schlamm gerutscht. Stell dir vor, Prinzessin, ich komm weder vor noch zurück. Die Baubude hätte mich totdrücken können oder mein Rückgrat quetschen, dass ich im Rollstuhl sitze. Die Baubude rutscht nicht weiter, aber sie martert mich, die ganze Nacht. Ich lieg im Schlamm, mein Leben zieht an mir vorbei, und ich schwöre, wenn ich da heil rauskomme, gehe ich nie wieder Einbrechen. Ich muss da von elf Uhr abends bis sieben Uhr morgens gelegen haben. Als es hell wird, kommen die ersten Bauarbeiter. Die haben mir die Hose runtergezogen und den Arsch versohlt. Dann haben sie mich endlich rausgezogen, mir ’nen Tritt gegeben und mich weggescheucht: »Lass dich hier nie wieder sehen.« Das Zeichen hab ich verstanden. Einen Einbruch hab ich mein ganzes Leben nicht mehr gemacht. Die Totenkopfbande hat ohne mich weitergeklaut. Von zwei Kumpeln, dem Pupper und dem Gerry, beide Roma, habe ich später gehört, dass sie lebenslänglich gekriegt haben.

Leider hab ich dann noch mal Mist gemacht und schmerzlich bezahlen müssen. Mit einem geknackten Moped bin ich um den Bramfelder See geheizt, bis der Tank leer war. Dann hab ich das Moped ins Schilf gestellt. Am andern Tag bin ich mit ein bisschen Benzin wieder los. Mit ’ner Zigarette im Mund hab ich einen auf alt und lässig gemacht. Da ist mir ein Lehrer entgegengekommen, und ehe ich alles richtig begreife, finde ich mich in der Schädlerstraße wieder: Endstation Jugendgefängnis, zwei Wochen Einzelhaft. Wenn die Tür aufging, musstest du dich unter das Fenster stellen und dein Strafdelikt sagen. Die Scheißhaustüren waren bis zu den Knien abgeschnitten, da haben die Beamten durchgeguckt. Jeden Donnerstag wurden die dreigeteilten Matratzen weggenommen. Denk ja nicht, dass die Urinflecken weggemacht worden sind. Ich hab dann mit einem Handtuch im Sitzen an der Heizung gepennt. Dumpfes Unglück, nichts als dumpfes Unglück, 14 lange Tage lang.

Was dann kam, war noch schlimmer. Zu Hause hat mit mir keiner mehr gesprochen. Da hab ich gedacht: Jetzt dreh ich durch. Es war die Zeit, in der meine Großmutter auf einem Bauernhof am Stadtrand gearbeitet hat. Dort konnte ich immer am Wochenende sein. Dass da Tiere geschlachtet und verarbeitet wurden, hat mich fasziniert. Eigentlich hatte ich immer Hunger. Ich hab gern zugeguckt in dem Betrieb und gesagt, okay, Schlachter und Koch, das will ich werden, dann kann ich immer für mich sorgen und satt werden. Mein Vater hat die Welt nicht mehr begriffen. Er war nun endlich dabei, seinen Meister als Kfz-Elektriker zu machen, und ließ nicht ab, mich in seinen Beruf zu drängen. Was ich an meinem Vater am meisten gehasst habe, die ganze Kindheit, das waren seine schwarzen Hände. Der hat selbst am Wochenende und auch nach drei Wochen Urlaub keine sauberen Finger gekriegt. Das Schmieröl saß in jeder Rille, in jeder Narbe und unter den Fingernägeln. Ich hab immer gedacht, egal was ich mal mache, diese schwarzen Hände, die will ich nicht haben.

Ich wurde aufs Arbeitsamt geschickt und komme raus aus der Testkacke für Filigrantechniker. Um Gottes willen. Mein Vater hat nicht locker gelassen. Mich hat er meinen schulischen Leistungen nach nur irgendwo unterbringen können, wo er selbst schon mal war: in einem LKW-Reparaturbetrieb auf der Veddel. Jeden Morgen anderthalb Stunden Hinfahrt, jeden Abend anderthalb Stunden zurück. Scheißlehre. Prinzessin, ich krieg genau diese schwarzen Hände, die ich nicht wollte. Zu der Zeit wurde viel mit Diesel gearbeitet. Die Fahrzeuge waren anders konstruiert, du konntest nicht mit dem Oszillographen reinfahren, du hast alles per Hand gemacht. Du sahst aus wie eine Sau, wenn du aus dem LKW den Anlasser rausgeholt hast. Der wiegt 25 Kilo, einen anderen erschlägst du damit, wenn der den tragen muss. Ich hab das leicht gekonnt, aber ich hab das immer abgelehnt. Ich kriegte 75 Mark im Monat, wovon ich 25 Mark zu Hause abgeben musste, weil ich so ein starker Esser war. Und das Schlimmste war: Ich hatte immer Hunger. Kurz bevor die Sirene heulte zur Pause, bin ich raus. Ich hab jedem aus der Brotdose eine Scheibe gemaust und auf dem Scheißhaus gefressen. Körperlich hab ich zu der Zeit stark zugelegt, vor allem im Wachstum. Ich brauchte einfach Futter. Innerlich hab ich mich geschämt und gedacht, das geht so nicht weiter, dass ich meinen gleichaltrigen Kollegen das Brot klaue.

Wenn ich vom Bahnhof nach Hause ging, meine Aktentasche rechts in der Hand, ich musste mich ja im ersten Lehrjahr wichtig machen, guckte auf dem Weg immer mal wieder ein Kindermädchen aus dem Fenster. Die war 21 oder älter. Rein optisch eine tolle Frau, füllig, ein weiblicher Typ, üppige Brüste. Eines Tages sagt sie: »Bleib doch mal stehen, ich will dich mal was fragen.« Ich denk, was will die denn von mir? Ich bin zurückhaltend und mach einen auf John Wayne. Ich hab dann mit ihr eine mitgeraucht und erfahren, dass sie Sonja heißt. Sie hat nicht jeden Tag am Fenster gestanden wie Frau Holle. Sie war wohl hinter der Gardine, wenn ich sie nicht gesehen habe. Jedenfalls muss sie gemerkt haben, zu welcher Zeit ich nach Hause kam. Auf einmal steht Sonja am Bahnhof und sagt: »Ich hab auf dich gewartet.« Wir sind dann zusammen einen Wiesenweg gegangen. Da stand ein Bauwagen und anderes Zeug. Wir haben geknutscht und uns angefasst. Unter dem Bauwagen hatte ich meinen ersten Sex. Der war schnell wie bei den Huskys, schätze ich mal. Ich hab ein bisschen ’ne Show hingelegt. Die Sonja hat mich meschugge gemacht. Na klar, ich war sechzehneinhalb.

Als ich das erste Mal rumgedochtelt hab, bin ich nach Hause gekommen wie ein Revoluzzer. Was wollt ihr noch von mir? Wie ein Rüde, das ist ein animalisches Verhalten. Ich hab wahrscheinlich Adern gehabt wie Kompressorschläuche, so stark hab ich mich gefühlt. Deine Mutter kommt dir vor wie eine getragene Hose. Es ist vorbei, ich wusste: Jetzt habe ich gelebt. Da wurde ich natürlich immer sperriger.

Ich bin Sonja hinterhergelaufen wie ein läufiger Hund. Wenn Andys Eltern zur Ostsee gefahren sind, hab ich dem gesagt: »Mensch, lass mich am Wochenende zu dir hochkommen.« Mit der Sonja hab ich es eine ganze Zeit getrieben. Da hab ich mich schon gefühlt wie James Dean. So in der Art: Mir kann keener mehr an den Karren pissen, was kann ich jetzt alles! Ich werde abgeholt vom Bahnhof, Sonja steht da, die steht für mich da. Die Rose, ich riech das, genauso hat die Frau Fieger gerochen, meine Lehrerin, die erste Vollfrau, von der ich den Saft riechen durfte. Und jetzt bin ich der Kutscher und mache zum ersten Mal Hü, na servus.

Ich habe lange Zeit mit ihr angegeben und war sehr stolz. Auf einmal sagt sie: »Stefan, ich bin schwanger.« Toll, ich bin schwanger. Da hab ich gedacht, ich hab noch Scheiße in der Hose, wenn ich nach Hause gehe, und jetzt werd ich noch Vater zum Kompott. Das war alles unwahr, die hat geflachst. Die wollte mich ein bisschen an sich binden, ein bisschen quälen. Eine gescheite Dame. Der hab ich ja nicht das Trommelfell kaputtgemacht, das war schon offen.

Sie hat in einer anderen Stadt einen besseren Job gekriegt. Wir haben uns nie wiedergesehen.

Als Sonja weg war, hat mich nichts mehr in der Gegend gehalten. Natürlich kam dann das, was kommen musste. Ich war eben erwachsen. Aber selbst als Lehrling kriegte ich von meinem Vater noch ’ne Uhrzeit. Da musste ich Punktum zu Hause sein. War ich aber nicht. Ich sah Licht und wollte ein bisschen abwarten, bis mein Vater schläft. Das Auto von meiner Mutter war nicht abgeschlossen, weil sie Probleme mit dem Aufschließen hatte. Da hab ich mich reingelegt. Man hat mich beobachtet und für einen Autodieb gehalten. Leute kamen, es gab Geschrei. Bis klargestellt war, dass ich der Sohn von der Besitzerin bin. Oben hab ich dann die Tür zum Wohnzimmer aufgemacht und rotzfrech »Guten Abend« gesagt. Mein Vater, der mit seinem Steuerberater zusammensitzt, steht auf und sagt: »Geh weg hier.« Ich geh nicht weg. Er will meine Hand vom Türgriff lösen. Ich halte fest. Durch die Hebelwirkung wird die Tür hochgehoben, fällt aus den Scharnieren, und das Glas zerspringt. Da wird er ganz blöd, rennt in mein Zimmer und kommt mit meinem Stiletto zurück, von dem ich dachte, dass ich es in einem Geheimversteck habe. Er muss also in meinen Sachen geschnüffelt haben. Mit meinem Klappmesser in der Hand baut er sich auf. Ich soll jetzt Angst vor ihm kriegen, ich soll mich verpissen. Ich nehm seine Hand, die schwarze Hand, und drücke seinen Arm runter. Jetzt bin ich stärker. Durch das Geschrei kommt der Nachbar raus. Den dresche ich auch noch zweieinhalb Etagen runter. Ein Schneider, Zwei-Meter-Mann, aber schon älter. Ich bin stärker.

Die ganze Nacht bin ich draußen rumgerannt. Ein Zuhause hatte ich nicht mehr, und das war schlimm, aber das war gut so. Am nächsten Tag hab ich mir ein möbliertes Zimmer genommen, das letzte Dreckloch. Nach einer Woche war ich weich für ’nen Kompromiss. Ich bin zu meiner Großmutter gezogen, zu ihren Bedingungen: »Du wohnst hier bei mir auf einer Matratze unterm Fenster auf dem Boden, bekommst was zu essen, gehst jeden Tag zur Arbeit und bist jeden Abend um 22 Uhr zu Hause.« Das hab ich durchgezogen. Meine Oma Dora, wenn ich mich später aus irgendeiner Scheiße wieder rausgearbeitet hab, dann war das ihretwegen. Meine Oma Dora, die war mein galvanisches Element, die hat mich aufgeladen wie ’ne Batterie, die hat mir geholfen, meine Schwierigkeiten auf der Arbeit zu meistern und hinzugehen, wenn ich nicht hinwollte. So hab ich tatsächlich meine verhasste Lehre geschafft und abgeschlossen. Mit Strom konnte ich jetzt himmlisch umgehen. Ich hätte ’nen Pferd verkabeln können, dass es Karten gibt. Nur, wozu?

Endlich sollte mein Leben losgehen: Ich würde jetzt Geld verdienen als Geselle, die Stunde fünf Mark gab es damals. Nichts ging los. Ich kriegte ein Schreiben, das war geöffnet, weil es an meine Eltern gerichtet war. Das hat mir meine Oma gegeben, nicht meine Eltern persönlich. Es war der Musterungsbefehl. Das Entsetzen kam, als ich erfuhr, wohin ich sollte: nach Pinneberg, einem lausigen Vorort von Hamburg. Ich dachte, jetzt komme ich zu den Soldaten, weit weg, zu den Fallschirmspringern nach Sonthofen oder zu den Kampfschwimmern. Prinzessin, du darfst nicht vergessen, ich war topfit, ich kann dir unten im Keller die Urkunden zeigen, in Schwarz-Rot-Gold. Die Stoßkugel hab ich so weit geworfen wie keiner in meinem Jahrgang. Ich bin die hundert Meter auf elf null gelaufen. Und den Schlagball, der bei 60 Metern runterkommt, den hab ich der Jury auf den Tisch geknallt, damit hatte keiner gerechnet, so weit saßen die weg.

Ich war stocksauer. Na ja, dann habe ich mich trotzdem gemeldet beim Luftwaffenausbildungsregiment in Pinneberg, um denen zu sagen: Nee, hier will ich nicht hin, ich möchte, dass ihr was Richtiges aus mir macht. Die Voraussetzung war aber, dass ich mich mindestens vier Jahre verpflichten sollte. Da hat es bei mir wieder einen Lichtschalter umgelegt. Uniformträger zu sein entsprach nicht so ganz meiner Denkweise. Und ich wollte mich bestimmt keine vier Jahre verpflichten, damit ich bei den Kampfschwimmern ein bisschen im Wasser planschen kann.

Ich also in Pinneberg. Mein Opi Sepp hatte mal zu mir gesagt: »Irgendwann kommst du ja mal zum Militär. Melde dich nie freiwillig.« Bei der Bundeswehr war meine erste Erfahrung, dass ein Feldwebel fragt: »Wer versteht was von LKWs und Autos?« Natürlich verstand ich davon was, schließlich war ich Autoelektriken Ich dachte, vielleicht komme ich zum Stab, ich wollte Fahrer werden, LKWs fahren, alle Führerscheine bei der Bundeswehr machen.

Als ich den Schritt nach vorne mache, aus der Kompanie heraus, höre ich meinen Opa: »Melde dich nie freiwillig.« Aber es war schon zu spät. Wir freiwilligen Idioten durften die aufs Gelände kommenden Fahrzeuge aus Kaltenkirchen säubern. Weil wir was von Autos verstanden. Mit einer Bürste. Wenn so ein Laster reinkam vom Truppenübungsplatz, der sah wirklich aus wie ein Warzenschwein im Sand. Trotzdem hab ich die Dreckarbeit gut gemacht.

Meine anderen sieben Mitstreiter, die auf der Bude lagen, kamen aus Kamen, Unnaer Kreuz, aus Dortmund, aus den schönen Städten, Essen und so weiter. Ich war der einzige Hamburger, und ich sollte denen an den ersten freien Tagen St. Pauli zeigen. Natürlich wollte ich mich als Insider erweisen, aber mit St. Pauli habe ich als junger Bursche nichts zu tun gehabt. St. Pauli, das war kein Thema. Trotzdem bin ich gut rumgeturnt, mit den anderen über die Reeperbahn gezischt und dann in der Talstraße gelandet, in der »Amigo Bar«. Eine Schwulenbar. Dort hatte der Chef gerade Geburtstag, Willi hieß der. In der Bar waren Transvestiten und ab morgens um vier Zuhälter mit ihren Mädels. Mein Vorteil war, dass Willi Riesenbock auf mich hatte. Wir bekamen den Jägermeister umsonst. Du musst dir vorstellen, Prinzessin, du kriegst 175 Mark im Monat bei der Bundeswehr und bist auf dem Kiez und kannst umsonst saufen. Ich hab meine Kameraden zum ersten Mal ausgeführt, hab mein Ding gemacht, bin richtig vorne. Ich hab mir keine großen Gedanken gemacht, dass da Schwule verkehrten, Transvestiten. Ich war ohne Vorurteile. Ich war 19, die schräge Welt war in Ordnung.

Die Nacht in der »Amigo Bar« war der Zünder für mein zukünftiges Leben mit all den Explosionen. Das war mir natürlich nicht klar. Ich habe gefeiert bis zum Gehtnichtmehr, in einem wachen Rausch, den ich bis heute nicht vergessen hab.

Ich bin dann noch oft nachts abgehauen, über die Zäune. Ich war in St. Pauli oder bei meinem Mädel, der Elna. Einmal, während der Riesenkrise in Prag, gab es Natoalarm. Alle Kasernen wurden dichtgemacht und scharfe Munition ausgegeben. Ausgerechnet in der Nacht war ich auf dem Kiez unterwegs und kam, Gott sei Dank, morgens gerade noch rechtzeitig zurück, ohne dass mein Abhauen groß bemerkt worden war.

Nach der Grundausbildung landete ich beim Stab. Wenn Offiziersabende waren, hab ich mich zur Ordonnanz gemeldet. Einmal war unter den Gästen so ein Oberfeldwebel, ein Rothaariger, der hat mich immer mit meinem Namen gerufen: »Flieger Hentschel, kommen Sie mal her!« Den ganzen Abend hat der mich genervt, ich fühlte mich wie der letzte Arsch, er schrie immer über die Tafel meinen Namen: »Flieger Hentschel, kommen Sie mal her und schenken Sie mal nach! Haben Sie Drops auf den Augen?« Das war was für mich, das brauchte ich so nötig wie einen neuen Kopf, aber wirklich.

Solange mein Vater gelebt hat, war ich, wenn mich einer Hentschel gerufen hat, stinksauer. Solange mein Vater gelebt hat. Wenn heute einer sagt: »Ey, Hentschel!«, das tangiert mich in keiner Weise. Anders als damals dieses: »Flieger Hentschel, kommen Sie mal her!« Da hab ich gedacht, den mach ich schön besoffen, der kriegt nachgeschenkt, der kriegt mich schon noch zu spüren. Na ja, Flieger Hentschel hat sein Äffchen gemacht, bis der Penner besoffen zum Pissen gegangen ist. Mein Fehler war, dass ich dem hinterhergelatscht bin mit meiner kleinen schwulen Pingumuniform als Staatseingießer. Dann hab ich ihm die grünen Waldmeisterbonbons an den Kopf geschmissen, also die Pisswürfel aus dem Pissbecken für frischen Geruch, und ihn mit der Birne reingedrückt. Ich bin ein gerechter Mensch. Hundertprozentig. Leider kommt so ein Oberleutnant, der auf dem Klo gesessen hat, zu dem Zeitpunkt aus der Tür heraus und sieht, wie ich den Rothaarigen in das Pinkelbecken reinwichse.

Sie haben mich mit dem Feldjäger gleich zur Wache gebracht und am nächsten Tag nach Uetersen ins Gefängnis, wo alle 24 Stunden Wachwechsel war. In der Zelle auf der Wache gab es Schaumgummikissen, die man mit dem Kopf niederdrücken muss, wie heute in vielen spanischen Urlaubsquartieren. Mein Kissen habe ich aufgeschlitzt und in das Loch meine Pfeife reingetan. Abends wurde einem die Bettwäsche gebracht. Und dann habe ich schön meine Sachen geraucht. Ich saß da, glaube ich, 14 Tage in Einzelhaft.

Die Sache sollte erst strafrechtlich verfolgt werden, wurde dann aber fallengelassen wegen meiner außergewöhnlichen sportlichen Leistungen. Ich habe mich abgemüht mit der Stoßkugel. Weißt du, von neun auf zehn Meter, das waren Welten. Es ging aber ums Verrecken nicht weiter. Dann kommt ein Hauptmann, ein toller Kerl, und sagt: »Junger Mann, Sie machen viel falsch.« Er nimmt diese Kugel und will damit spielen wie mit einem kleinen Hühnerei, 7,5 Kilo. »Jetzt schauen Sie, ich mache Ihnen das zwei Mal vor, ich hab nicht so viel Zeit.« Es war die Technik. Ich hab es nur mit reiner Kraft gemacht, ich wollte mich dadurch verbessern. Jetzt kommt so ein Hauptmann, der nimmt sich die Zeit und die Mühe, für mich ein Glückstreffer. Er zeigt es mir, ich mache es zwei, drei Mal und bin auf einmal bei fast elf Metern. Dann habe ich über 13 Meter gestoßen, genauer 13,5 Meter, als Neunzehnjähriger. Der Weltrekord liegt bei 21 Metern. Der Sport hat mich gerettet.

Ich bin dann in die Truppe zurückgekommen, in die Fahrbereitschaft. Wieder bin ich, wie schon so einige Male in meinem Leben, ausgesondert worden. Ich durfte nicht mehr in der gemeinsamen Baracke schlafen. Ich hatte ’ne halbe Etage für mich. Ich war wieder allein auf dem Zimmer. Aber das machte mir nichts, weil ich jeden Tag einen Fahrbefehl kriegte, ich hatte was zu tun.

Bei der Bundeswehr hab ich alle Führerscheine gemacht. Ich bin sogar Chinesen-Rallye gefahren. Was das ist, Prinzessin? Da kriegst du eine Vorlage, auf der nur Striche drauf sind, und dazu eine Landkarte. Dann musst du beides im Kopf überblenden, bis du die Route findest, die ziehst du in dem Strichmuster nach: Bevor sich die anderen umgeguckt haben, hab ich sie schon alle im Sack gehabt.

Motorrad im Gelände bin ich gefahren. Den Hängerschein hab ich gemacht. Als Busfahrer hab ich die Auszubildenden zum Schießplatz transportiert.

Ja, ich hab auch gern geschossen. Seit ich als Kind dem fahnenflüchtigen Bundeswehrsoldaten begegnet bin und zum ersten Mal eine P 38, eine Pistole mit Kaliber 38, in der Hand hatte, war ich ein Waffennarr. Bei der Bundeswehr hatte ich endlich meine eigene Waffe, ich war sehr zufrieden. Schießen wollte ich gut können, damit ich mir, wenn ich mal in einem Blockhaus in Kanada sein sollte, was zu essen holen kann. Präzision war für mich eine Herausforderung, durch alle Schulen und durch allen Scheiß. Da wollte ich der Beste sein. Das war eine Akribie, wenn man eine Waffe mit sieben Schuss übernommen und sieben Schuss richtig platziert hat. Das hat alles seine Richtigkeit und Pflicht gehabt. Man stand mit den Hacken zusammen. Meine Beziehung zu der Waffe war, dass ich damit treffen kann. Aber ich hatte nicht das Gefühl, dass ich sie brauche. Ich hatte auch keine Angst vor einer Waffe. Ich habe da keinen Bullerofen oder eine Wärme gespürt. Später brauchte ich eine Waffe immer nur, wenn es um mich ging, wenn es um Leben und Tod ging.

Ich habe eine ziemlich schnelle Auffassungsgabe, wenn ich in einen geschlossenen Raum reinkomme. Da gucke ich erst mal, wo ich herauskomme. Wenn einer bellt, dann weiß ich schon, dass das der kleine Häuptling sein muss und dass ich mich eine Zeit lang unterordnen muss. Ich spreche nur von einer gewissen Zeit, limitiert. Ich habe nie die Bereitschaft gehabt, vor irgendjemandem zu kuschen, wenn der mir ungerecht entgegenkommt, ob er ’ne Uniform hat oder wer weiß was für ’nen Winkel. Mit dem Instinkt habe ich mich als niederer Soldat durch das wahnwitzige Gestrüpp der Befehlsketten geschlagen und bin einigermaßen durch die 18 Monate Bundeswehr gekommen – mit einer besonderen Einlage: meiner Hochzeit.

Mit Elna bin ich zur Schule gegangen, die letzten zwei Jahre. Die war Jungfrau, wie sich das gehört. Das war meine Freundin, wir haben im Hausflur geknutscht, aber keinen Sex gehabt. Elna war heia popeia während der Schulzeit. Ich dachte, vielleicht wird da mal mehr draus und habe den Kontakt zu ihr und ihrer Familie nicht abgebrochen. Meine Familie war doch Bullshit. Ich war nicht gerne zu Hause, weil da Krach war. Bei der Elna, in der Familie, bei Mama Miezi und ihrem Mann Hans, da kriegte ich immer meine sechs Spiegeleier, meinen Topf Kaffee. Ich war damals fixiert auf Eier, ich habe auch morgens rohe Eier höllenweise gegessen. Ernas Familie hat mich fast wie einen Sohn aufgenommen, das war schön für mich.

Während meiner Bundeswehrzeit habe ich mit Elna ein paar Erkundungsausflüge gemacht. Das erste Mal war bei ihr zu Hause, als die Eltern nicht da waren. Es war peinlich. Es ging damit los, dass ich Riesenprobleme hatte, ein Gummi überzuziehen. Dann habe ich den Fehler gemacht, die vollen Gummis aus der ersten Etage zu werfen, sodass die beim Nachbarn in den Stiefmütterchen hingen. Wir haben versucht, die mit dem Besen wieder herauszuholen. Wunderbar. Mama Miezi hat dann gesagt: »Seid doch ein bisschen vorsichtiger. Es ist peinlich, wenn ich die Dinger in den Stiefmütterchen oder an den Straßenlaternen sehe.« Weil sie so herzlich und verständnisvoll war, überhaupt nicht muffig oder verklemmt, bin ich gerne da gewesen.

Irgendwann hatte ich dann Bundeswehrurlaub und bin nach Hause. Elna hat Wäsche auf dem Boden aufgehängt. Dabei hat sie mir gesagt, dass gerade ihre Tage zu Ende waren. Ich wollte mir dieses Mal keine Pudelmütze aufsetzen. Aus der nicht aufgesetzten Pudelmütze ist meine Tochter entstanden. Mehr oder weniger musste ich Elna jetzt heiraten. Dafür habe ich bei der Bundeswehr drei Tage frei gekriegt.

Am Abend vor der Hochzeit kriegte mein Schwiegervater Hans, ein Rumäne, in der Kneipe Ärger mit den Zigeunern, weil sie alle besoffen waren. Die Sintis hatten ein Rasiermesser dabei. So was nimmt man doch nicht mit in die Gaststätte. Sie haben ihm die Nase abgetrennt. Ich habe ihn aus dem Scheißhaus herausgezogen, weil sie ihn regelrecht schlachten wollten. Daraufhin schnitten sie mir quer über die Hände und über das Gesicht. Diese Sintis, jedenfalls die in unserer Gegend, die haben ihre Praktiken, die kriegen sie schon als Patengeschenk in die Wiege gelegt, die richten einen so zu, dass man beschissen aussieht, aber nicht tödlich verletzt ist.

Es war toll, als ich damals zum ersten Mal gespürt habe, wie meine Kumpel zu mir standen und in der Kneipe die Sintis platt machen wollten. Das war aber nicht mein Interesse. Mein Schwiegervater kam lebensgefährlich verletzt ins Krankenhaus. Er hatte viel Blut verloren bei der Zigeunerschlacht. Auch mich nahmen sie mit Blaulicht mit. Als ich aus dem Krankenhaus kam, mit den genähten Pfoten und der genähten Schnauze, bin ich gleich zur Polizeiwache, um die Täter zu identifizieren. Den mit dem Rasiermesser habe ich sofort erkannt.

Als Paar auf dem Standesamt gaben wir ein jämmerliches Bild ab: Erna mit dem dicken Bauch und ich mit den dicken Verbänden. Der Fotograf hat unser Hochzeitsbild kräftig retuschiert, aber das hat niemandem gefallen. Dass mein Schwiegervater Hans fehlte und in einem kritischen Zustand war, drückte bei der Hochzeitsfeier auf die Stimmung. Es war so üblich, dass bei der Feier Brüderschaft mit Leuten getrunken wurde, mit denen man früher gar nichts zu tun haben wollte. Als alle nach Hause gingen, war ich froh.

Meine Eltern haben sich am Anfang mit den Schwiegereltern sehr gut verstanden und uns unterstützt, unser eigenes Leben als Paar zu finden. Wir sind nach Wandsbek in eine kleine Wohnung unterm Dach gezogen. Wir haben sogar Hausmeisterfunktionen übernommen. Meine Frau musste das Treppenhaus machen, ich habe hundert Quadratmeter Schnee geschoben. Da man damals nicht sehen konnte, ob es ein Sohn oder eine Tochter werden würde, haben wir zwei Namen ausgesucht. Zu der Zeit hat Mireille Mathieu immer das Lied »Martin« gesungen. Martin war mein Name für einen Jungen. Elna wollte für ein Mädchen Nicole.

Zur Geburt habe ich Elna ins Marienkrankenhaus gebracht. Ich tat das Übliche, was jeder Vater machte: rumsitzen und warten. Dann stand ich hinter einer Scheibe, und mir wurde ein runzliges Brett gezeigt. Wie Babys eben nach der Geburt aussehen.

Nicole aus dem Krankenhaus abzuholen, das war für mich das Größte. Ich hatte damals einen klapprigen grauen Simca 1000, um von zu Hause zur Bundeswehr zu fahren. Vorne auf die Motorhaube hatte ich mit der Sprühdose in Rot ihren Namen lackiert, Nicole. Mit der Kutsche habe ich sie abgeholt. Ich bin mit der blauen Babytragetasche überall rumgefahren und habe meine Tochter ganz stolz gezeigt.

Als meine Bundeswehrzeit zu Ende war, konnte ich mich durch meine erarbeiteten Führerscheine auf den Kutschbock bei einer Spedition setzen. Statt den Beruf von meinem Vater weiterzumachen, war ich Fernfahrer. Basta.

Richtig verheiratet waren wir eigentlich nur drei oder vier Monate. Elna hat sich nie abnabeln können von ihrer Mutter und der alten Umgebung. Sie wohnt heute noch immer in dem Haus ihrer Eltern, wo ich mit sechzehn Jahren mein Moped abgestellt habe. Auf ihre Art hat sie mich verlassen. Sobald ich aus dem Haus war, ist sie mit ihrem Töchterchen zu Mama zum Frühstück, hat ihre Zigaretten geraucht. Wenn ich abends mal verfrüht nach Hause kam, dann war das immer so husch husch, dass sie gerade kam. Ich habe schon mitgekriegt, dass unser Zuhause gar nicht ihr Zuhause war.

Eigentlich war auch ich gar nicht verheiratet. Ich war tagsüber auf Achse ab 5 Uhr 30 und um 16 Uhr 23 war ich mit dem Mercedes Richtung Celle auf der Autobahn und kam erst abends gegen 20 Uhr zurück, nachdem ich den Laster abgestellt hatte. Das war einfach nichts für eine Ehe.

Als Ausgleich für das viele Sitzen auf dem Bock habe ich in einem Bodybuilding-Center trainiert. Das war als ultimative Männermode gerade aufgekommen. Der Chef hieß Richard. Zur Zeit des Karnevals haben wir feschen Jungs uns zurechtgemacht und sind zum LiLaLe gegangen. In der Kunsthochschule am Lerchenfeld waren alle Klassenräume in Wahnsinnsräume verwandelt worden. Rein atmosphärisch war die Wirklichkeit ausgeblendet. Das irre Fest ging über mehrere Etagen. Ich war ein Seemann in Blauweiß geringelt und sah mich plötzlich einem Vamp gegenüber, Netzhemd, sehr transparent, darunter Tanga und BH, riesengroße rote Perücke: Helga. Sie war 32, ich 21. Sie hat mich auf zwei Partys mitgenommen. Dort sind schon einige Sauereien über die Bühne gegangen, Sex zu mehreren. Das war zwar nicht mein Fall, aber zugeguckt habe ich schon. Das war Neuland für mich und hat mich ein bisschen heiß gemacht.

Helga hat mich dann in ihre Wohnung mitgenommen. Da bin ich vier Tage versackt. Wir haben derartig einen drauf gemacht, dass ich vier lange Tage mein Zuhause gänzlich vergessen habe, Frau, Kind et cetera, alles vergessen.

Irgendwann war der Rausch vorbei, und ich musste wieder nach Hause, mit eingezogenem Kopf. Ich bin hochgegangen, es war natürlich niemand mehr da, meine Frau nicht, meine Tochter nicht. Aber ein geschriebener Brief. Der war an mich als Papa gerichtet, als hätte ihn meine Tochter geschrieben, meine Tochter, die ja noch ein Baby war. Es war ein aufgesetzter Brief meines Vaters aus der Sicht eines Kindes, grausam falsch im Ton.

Es hatten natürlich alle Verständnis dafür, dass Elna mit dem Kind bei mir ausgezogen ist und alles mitgenommen hat. Dann ging das ruckzuck mit der Scheidung. Ich habe die volle Schuld auf mich genommen. Kaum war die Scheidung durch, hat Elna gleich den anderen geheiratet. Als Vater für meine Tochter war ich nicht mehr sehr gefragt, als Zahlvater schon.

Als ob sich der Himmel ’ne besondere Strafe ausgedacht hätte – ich hab jedenfalls eine gekriegt. Ich war gerade von Elna geschieden worden, und mein Bruder und ich schnupperten in ’ne Discothek rein, in dem durch und durch bürgerlichen Stadtteil Wandsbek. Ich stand da nun nicht gerade nun wie ein Verklemmter. Ich war sicherlich provozierend mit meinen 95 Kilo unter ’nem engen weißen T-Shirt. Das muss dem Platzhirsch dort nicht gepasst haben. Der hat sich das angeguckt und draußen auf mich gewartet. Ich weiß nicht, wie besoffen der war. Ich steh zwischen zwei parkenden Autos, und er steht vor mir mit gezogener Pistole. Wenn der jetzt abdrückt, bin ich im Arsch. Und er drückt ab. Es macht klick, und er guckt runter. In dem Moment stürz ich los wie ’n 100-Meter-Läufer beim Startschuss und beschleunige, um dem in den Bauch zu rennen. Und ich greif an ihm hoch, wie in so ’nem alten abgegrabschten Western. Der nimmt die Pistole in dem Gerangel wie ein Beil, und dieser abgedrückte Schuss, der durch ’ne Ladehemmung steckengeblieben ist, geht durch das Hämmern los und mir in die Wade rein. Ich fall auf die Straße. Mein Bruder bringt mich ins Krankenhaus.

Der Platzhirsch kriegte natürlich ’ne offizielle Anzeige, aber ich bin nicht zur Aussage hingegangen und war auch nie vor Gericht mit dem Arsch.

So ’ne Wunde ist irgendwann mal zu, aber die Vernarbung kannst du im Kopf aufreißen, wenn dir danach ist.