Zwei, drei Wochen nach meiner Rückkehr aus Brasilien ist Mucki Pinzner geschnappt worden, und auch den Wiener Peter hat die Schmiere eingehakt, an ein und demselben Tag. Im April 1986, genau ein Jahr nach Waldis Tod. Das hab ich alles aus der Presse erfahren dürfen, nicht von der Polizei. Ich gehe davon aus, dass die Polizei mir den Freiraum gegeben hat, bewaffnet rumlaufen zu können. Das müssen die gewusst haben. Wer wusste das nicht? In der Situation konntest du ja nicht mehr nur mit deinen Patschhändchen irgendwas erreichen. Das war ein Zenit, so wie Reinhold Messmer ohne Sauerstoff den Achttausender hochkrabbelt. Entweder es klappt oder es klappt nicht.
Ein bisschen Genugtuung hab ich aus der Zeitung erfahren: Mucki Pinzner hat in die Hose geschissen, als ihn ein Sonderkommando überwältigt hat. Der wollte ja nie wieder in den Knast zurück, der blöde Wichser, devot und in der ausgebeulten Hose die Kanone drin, den Armeerevolver. Kleiner Pullerarsch. Wie gefährlich der werden konnte – auf so ’nen Arsch kommst du gar nicht. Der hat sich nach seiner Verhaftung mit acht Morden gebrüstet oder auch mal mit »elf Duck, die ich putte macht hab«. Eine Sprache, die fasst du nicht.
Eigentlich war ich sauer, dass ich ihn nicht selber an dem Tag im Auto mit Lilo erwischt hatte. Das hätte mir ’ne Genugtuung gegeben, verdammt noch mal. Natürlich war ich auch irgendwie erleichtert. Es gibt Fluchttiere, da gehört das Reh dazu, und irgendwie hatte es mich erwischt, das ich mich wie ein Reh gefühlt hab. Ich war wochenlang nicht mehr bereit zu ’ner Kontaktaufnahme, gar nix. Die Pistole hab ich trotzdem noch nicht abgelegt, die brauchte ich noch. Dann verpisste sich der eine und der andere von der anderen Seite ins Ausland. Von denen, die größere Scheine für mein Kopfgeld in den Teller gelegt hatten, sind auch einige abgegriffen worden. Und mir wurde auf dem Kiez wieder ’n Lächeln entgegengebracht.
Aber es hat mir an der früheren Kraft gefehlt, egal, wie sie mir gewachsen ist. Ich bin wirklich ein bisschen durch gewesen. Sicher hab ich schon nach Marbella einen richtigen Knick gekriegt. Und das hat Axel auch mit Doppelpunkt gesagt: »Jetzt macht der ’ne Kneipe, ’ne Kneipe…« Der wollte sich totlachen. Er ist natürlich ins große Geschäft eingestiegen, und ich hab mich ein bisschen blenden lassen und mit dem Männlein das »Jahnkes Eck« gemacht.
Lilo hat Männlein nicht gemocht und gesagt: »Der hat Tücke-Mücke-Augen.« Also sie hat ihm die Hinterhältigkeit angesehen. Er war aus der Provinz mit einem perlweißen Mercedes und im weißen Trainingsanzug auf dem Kiez angekommen und als Vorstadtcowboy belächelt worden. Das hat er gemerkt und sich auf den modischen Trend umgestellt, aber ganz schnell überrissen. 1,80 groß, mal blond, mal dunkel, hat er groteske Angeberposen drauf gehabt: Männlein wie ’ne Filmdiva über die Motorhaube gelehnt – so seh ich ihn noch heute vor mir. Oder Männlein greift sich mit beiden Händen und abgespreizten kleinen Fingern links und rechts ins Revers und sagt: »Wenn ich mal fair sein darf…« Da ist bei mir die Alarmglocke angegangen, aber zu spät, ich hab mit ihm verbandelt schon in »Jahnkes Eck« gesessen.
Eigentlich ist das ’ne ganz gemütliche Kneipe in der Großen Freiheit gewesen, an der Ecke, wo die Transvestiten stehen. Der Vorraum richtig hanseatisch gediegen mit teuren Modellschiffen. Du kommst rein und denkst: »In ’ner Ecke muss Hans Albers sitzen.« Hinten ist eine Nachtbar gewesen, mit tief hängenden Lampen und Separees an der Seite. Unten im Keller ’ne luxuriöse Badewanne, rund gehalten, mit goldfarbenen Wasserhähnen, wie Fische geformt. Nach dem Planschen hat man sich in ein Zimmer zur Ruhe betten können. Oder zum Vögeln. Großes Geld ist da nicht zu verdienen gewesen. Ich hab mit Geldanlagen nie was an den Eiern gehabt, Männlein schon.
Irgendwann bin ich rübergegangen ins »Bistro« an der Reeperbahn. Da hab ich ’ne Barfrau hinterm Tresen gesehen und sie an der Jeans angepackt. Ich hab nicht gewusst, dass sie ’ne Tschechin ist. Sie hat mir gleich gefallen, das slawische Gesicht und diese grüngrauen Augen. Ich hab mir gesagt: Mit der willst du mal an die Ostsee fahren, das ist bestimmt ’n geiles Feeling. Ich sag zu ihr: »Ich hab da ’ne Kneipe, da kannst du mich ja mal besuchen.« Sie ist auch gekommen. Und dann fängt sie an: »Wie alt bist du?« Ich sag: »40.« Bin ich aber noch nicht ganz gewesen. Sie sagt: »Das gefällt mir.« Ich frag: »Was gefällt dir?« – »Ja, nicht dieses: ›Rat mal oder schätz doch mal‹.« Vielleicht neigen andere Kerle zu so ’nem Getue mit ihrem Alter. Ich nicht. Und da hab ich die Tschechin schon im Biss: Dunja. Die war arrogant, fast so groß wie ich, ’n breites Kreuz, wie ’ne gedopte Schwimmerin aus der DDR, ’n Händedruck wie ein Mann und herbe drauf. Nem Bekannten von mir, Harry, dem hat sie dreimal am Abend ’nen Weinbrand über die Hose gegossen und sich dreimal entschuldigt. Der hätte nie daran gedacht, sie zur Räson zu rufen. Keiner, weil sie Angst in der Hose hatten vor ihr. So eine war sie, die Dunja. Die Krönung an Stärke, nicht einholbar.
Das muss früher anders gewesen sein. Sie ist mal ausgenutzt worden von jemandem und hat lange im Knast gesessen. Dann ist sie wieder auf die Beine gefallen und zu ihrer Hochform aufgelaufen. Ihr Chef im »Bistro« hat sich gleich auf sie gestürzt und ihr gesagt, wie man sich zu benehmen hat. Das hat sie mir alles am ersten Abend anvertraut. Ich hab mir gesagt: Da musst du direkt am Ball bleiben.
Aber erst mal bin ich mit Ditschi nach München gefahren, Freunde besuchen, den Rene und andere. Renes Chinesin war zu der Zeit, als wir noch junge Springer waren und sie an der Riviera den Korsen abgenommen hatten, ja schon relativ alt. Aber mit ihren blauschwarzen Haaren hast du der nicht angesehen, ob die 17 oder 37 war. Sie ist auch nie mit wassersaugenden Strümpfen rumgelaufen, die war immer ladylike, wie ’ne Ming-Vase. Das hat Rene genossen. Ich hatte das Gefühl, als wir zusammen essen waren, dass die ’ne Harmonie gefunden haben. Die sind glücklich gewesen, sure.
Ditschi und ich sind zurück nach Hamburg gedonnert, und ich hab vorgehabt, mit ihm noch die Sau rauszulassen auf der Reeperbahn. Vielleicht auch Dunja treffen. Natürlich sollte Lilo nichts erfahren von dem ganzen Scheiß. In meiner Kneipe hab ich zu Ditschi gesagt: »Gib mir mal das Telefon«, wie man das so cool sagt im eigenen Laden. Ich hab Lilo angerufen in der Annenstraße. Ich sag: »Hallo, mein Schatz, Stefan hier. Mensch, du, wir haben noch ’nen Tag verlängert, ich bleib noch in München. Aber ich denke, so gegen morgen Mittag …« Und in dem Moment knallt diese blöde Kirche an der Großen Freiheit ihr Glockengeläut rein, aber gnadenlos. Das Geläut kennt jeder St. Paulianer. Da sagt Lilo ganz cool: »In fünf Minuten bin ich in München.« Ich sag: »Eins null für dich: Du darfst kommen.« In der Art: Bitte lachen Sie jetzt. Verbal ’ne geile Mutsche.
Lilo ist in die Kneipe gekommen, ich hab mich betrunken in die Ecke verzogen. Sie hat natürlich ganz wenig Verständnis für meinen Vortrag gehabt. Gut aufgerüscht hat sie da abgekürt und gesagt: »Ich wünsche dir noch viel Spaß in München.« Und hat die Kurve gemacht. Natürlich sind mir die Adern rausgekommen wie Kompressorschläuche am Hals. Sie hat mir den ersten Finger im Arsch gezeigt: Sie hat den Puff und ich die Kneipe. Die Machtverhältnisse haben sich verändert. Ich denk: »Oh Gott, ›Negerficker‹ auf zerrissenen Möbeln, Marbella, ich will nicht mehr, lass mich in Ruhe.« Diese alte Puffmutter hat natürlich erfahren, dass ich wieder mit ’ner anderen rumschnäbel.
Mit Lilo ist das natürlich richtig grausam abgegangen. Mit ihrem ganzen Geschwisterpack hat sie den Turm in der Annenstraße ausgeräumt. Ich komm nach Hause: Draußen steht ein Möbelwagen, drinnen rollen sie gerade die Teppiche zusammen. Ich sag: »Passt mal auf, die hab ich damals für zwölf Mille von dem Lullah gekauft, und wenn hier noch einer weiter zusammenrollt…« Vielleicht hätte ich dann auf die Geschwister geschossen. Die haben sogar die Jalousien abgeschnitten hinten im Wintergarten. Und guck mal hoch an die Decke, Prinzessin: Da ist für Suizidgefährdete ein geiler Haken mit Lüsterklemmen. Da hat der Kronleuchter drangehangen, den hab ich aus der Mönckebergstraße getragen, für sechseinhalbtausend Mark, wunderbar. Und dann macht mir das Geschwisterpack das Licht aus und die ganze Wohnung leer. Ich hab dann hier auf der Matratze gelegen, das war wie in ’ner Turnhalle. Das war ja affengeil.
Gott sei Dank, Lilo war dann weg, nicht weg, darüber red ich ja heute noch. Sie hat sich ein Haus genommen an einem See, wo ihre Mutter gewohnt hat. Das war mehr ’ne Gartenparzelle, da hat sie sich richtig glücklich gefühlt und ihre Heimat gefunden, bei ihren Schwestern, die Kinder haben. Ich denke schon – was ich immer wieder feststellen durfte, in jedem Bordell, ob sich das in ’ner niedlichen Ecke oder ’ner Sammlung von Steiftieren gezeigt hat –, dass die Huren immer ein Manko hatten: Sie konnten sich nicht diese familiäre Kruste schaffen, nach der sie ’ne Sehnsucht hatten. Und sie hatten ’nen Schweinevater im Topf drin.
Dunja ist dann ganz schnell zu mir auf die Matratze gezogen.
Die Umwälzungen in meinem Leben nach 13 Jahren mit Lilo sind in dem Vierteljahr passiert, als Mucki Pinzner im Knast wie ’ne hässliche Krähe gesungen hat: All den Scheiß, den ich dann in den Vernehmungsprotokollen gelesen habe. Dass er das Gesetz des Schweigens gebrochen hat, muss dem Klüngel vom Hans-Albers-Platz bis aufs Blut zugesetzt haben. Wie perfide in ihrer Denkungsweise und wie gefährlich die andere Seite noch gewesen ist, das kannst du daraus erkennen, dass sie Mucki im Knast mit Koks versorgt hat. Und mit der Waffe.
Was dann im Hochsommer 1986 passiert ist, hat es in diesem Land noch nicht gegeben: drei Leichen mit Schusswunden im Hochsicherheitstrakt des Polizeipräsidiums. Irgendwann gibt es alles zum ersten Mal. Da haben sich noch viele andere schuldig gemacht: Die, die schon vorneweg ’ne Story von seinem »Abgang triumphalis« auf den Markt geschmettert haben. Auch die von der Schmiere, die beißende Lücken in den Sicherheitsvorkehrungen gelassen haben.
Was Mucki gemacht hat, ist kein »Abgang triumphalis« gewesen. Das feige Arschloch erschießt im Polizeipräsidium den Staatsanwalt, einen wehrlosen Mann. Mucki war draußen ’ne Ratte, und er war drinnen ’ne Ratte. Ich bin wirklich kein Freund der Schmiere, aber der Tod von dem Staatsanwalt hat mir Leid getan. Natürlich hab ich gedacht: »Mann, du wärst noch am Leben, du wärst noch bei deiner Frau, wenn ich …« Ja, wenn.
Dass Mucki seiner Frau Jutta in den Mund geschossen und ihr das Licht ausgeblasen hat… Nun ja, ich will nicht geschmacklos sein, indem ich das bekränze und sag, die war ’n seelischer Sozialfall geworden. Wartet zehn Jahre mit ’ner Perspektive auf ’nen Mann, der im Zuchthaus ist, der kommt raus und wird sofort ein bezahlter Killer. Die ist mit ihm verstrickt gewesen. Sie ist geschlagen worden, sie ist gefickt worden und hat das ertragen. Ob das logisch für mich ist, dass sie mit ihm sterben wollte? Niederkniet, um die Kugel wie ’ne Weihe zu empfangen? Nein, ’ne Logik wäre das, wenn das nach meiner Denkungsweise richtungweisend wäre, und das ist es ja nicht. Für mich ist das Tunneldenken gewesen, Familie … Ich weiß nicht, nach was die Menschen suchen. Wenn sie sich dann nicht mehr haben und auseinandergehen, dann ist das so, dass manche sterben wollen. Mucki Pinzners Ding ist ja vielfach durchleuchtet worden, und da ist sie aufgewertet worden: diese hilflose Frau, die auch noch Din-A-4-Bogen mit erotischen Reizen voll gekritzelt hat, um ihn hinter Gittern zu erreichen.
Pinzners Selbstmord ist schon okay. Es ist eigentlich gut für die Welt, dass sich so ’ne Ratte wegbläst. Das ist als ’ne gigantische Geschichte verkauft worden. Ne gigantische Geschichte ist es ja auch, wenn oben der Eiszapfen runterfällt und ’ne Lawine auslöst. Wenn du den Mucki Pinzner so gekannt hättest wie ich, aus dem Kindergarten, dann denkst du: »Was ist los? Der Killer von St. Pauli.« Natürlich hat der ’ne Riesengefährlichkeit genossen und ist nur ein gigantisches Nichts gewesen.
Ob es auf St. Pauli ein Aufatmen gegeben hat? Damit tu ich mich nicht so leicht, das ist nicht so auf St. Pauli. Das ist ein falsches Aufatmen. Da gibt es immer noch welche, die mit Mucki mal Holiday gemacht hatten und ihre Scherzchen – die respektieren ihn immer noch, obwohl er tot ist.
Ich hab mich nicht betrunken oder so was. Es hat doch keinen Anlass gegeben. Man kann von den Asiaten viel lernen: in erster Linie, die Gefühle im Griff zu haben.
Wenn man das Gefühl nennen kann, dann ist es eine eisige Gefühlskälte gewesen, in der ich Muckis Schauerstück zur Kenntnis genommen habe. Mein Schmerz um Waldi ist durch den Tod des Killers nicht weniger geworden.
Nenn mich meinetwegen einen Gemütsathleten, Prinzessin, der cool abrückt, dass sich der Wichser Pinzner weg von der Platte gemacht hat, aber um seinen toten Hund Herzschmerz hat. Ich habe meinen Sammy mehr geliebt als die meisten Frauen, natürlich mit einer anderen Liebe: Einen Hund kannst du nicht belügen. Sammys Erschießung ist kurze Zeit nach Pinzners Abgang geschehen.
Ich weiß nicht, ob die Dunja besoffen die Wohnungstür aufgelassen hat. Ich schätze mal, dass es dahin tendiert, und dass mein Hund Sammy rausgegangen ist. Da ist ein Collie im Vorgarten gewesen, Lassie. Da sind also zwei Rüden zusammengekommen, und mein Hund hat ihn an seiner Nerzstola zu fassen gehabt, an seinen langen Federn. Da haben sich die Leute echauffiert, weil der gequiekt hat. Dann ist der Collie irgendwann abgehauen, und mein Hund ist noch frei rumgelaufen, weil die Türen alle zugeklappt waren und er nicht reinkonnte. Dann haben die von der Schmiere nichts anderes zu tun, als aus dem Peterwagen raus meinem Sammy acht Megakugeln reinzuschießen. Eine liegt hier noch. Ich wurde von ’nem kleinen Mädchen benachrichtigt, das war für mich grausam. Da kommt dieses kleine Mädchen, die hatte mich öfter mit dem Tier gesehen, die wohnte in der Nähe: »Es tut mir so Leid, dass ich das sagen muss, Ihren Hund haben die erschossen.« Die war acht Jahre, schätze ich, und sah aus wie so ’n kleines Zigeunermädchen, das um Geld bettelt, aber nett angezogen. Sie hatte es von gegenüber gesehen, diesen Einsatz, wie die Schmiere sich wichtig gemacht hat. Sammy lief da allein hin und her, und die Tür war zu. Er hat nichts getan, der Collie war längst weg. Ich sag: »Wie, mein Hund? Wie sieht mein Hund denn aus?« Dann seh ich auf meiner Treppe, dass da Farbe runterläuft. Zuerst denke ich, das sind Tintenflecke, es dauert, bis ich begreife: Das ist Blut von meinem Hund. Auf einmal realisierst du diese Krokodilsrotze, diese Blutflecken. Du siehst deine Treppe und findest noch ’ne Kartusche, die Schmiere ist ja auch beseelt, sofort das Zeug, das aus ihren Schießeisen fliegt, wegzunehmen, aber eine finde ich noch. Und ich begreife, dass da mein Hund erschossen worden ist. Wenn ich zugegen gewesen wäre, denen hätte ich die Pistole aus der Hand genommen und ihnen die Eier weggerumst.
Ich hab mich nach diesem Vorfall aus meiner Hütte verabschiedet und bin zum »Bistro« gegangen. Dort hab ich 24 Stunden gesessen. Ich hab die ganze Nacht getrunken. Man will was ertränken, aber das hat keine Wirkung. Man hat mich von der Davidwache aus der Entfernung beobachten lassen, denke ich mal, weil man in einer Präzision Aussagen gemacht hat. Die Polizei hat über die Pressestelle von dem Vorfall berichten lassen. Nach zwölf Stunden hab ich in der Zeitung gelesen: »Herrchen dreht durch, sein Hund ist erschossen worden.« Die wussten auf der Davidwache, dass ich acht Jahre mit meinem Tier zusammen war. Es ist aber nicht so gewesen, dass ich durchgedreht bin. Ich hab da nur gesessen und an Sammy gedacht.
Das Erschreckendste war, dass ich dann noch in so einer geschmacklosen Art ’ne Entsorgungsrechnung kriegte, die ich nie bezahlt habe. Da kam auch keine Mahnung.
»Jahnkes Eck« hab ich sehr bald umgetauft in »Cool«. Dunja hat da nicht rumgesessen oder zu Hause gewartet. Ich hab ihr schnell klar gemacht: »Tu mir ’nen Gefallen, wir wohnen hier zusammen, du siehst ja, wie wir hier wohnen. Wunderbar die Wohnung, aber nichts drin. Eigentlich ist es schon besser, wenn du dich ans Fenster setzt. Ich hab gute Cormections in der Herbertstraße.« Dunja ist im French Quarter untergekommen, dem vornehmsten Puff in der Herbertstraße, mit Markise und südländischem Styling.
Lilo hat hinten auf dem Hof in der 7b gesessen, Dunja gleich vorne links, wenn man von der Davidstraße reingeht. Die haben nichts miteinander zu tun gehabt. Ich bin ja auch schon mit Lilo durch gewesen, die hat nur noch ihre Hassbälle geschoben. Aber mir hat endlich mal gut getan, dass die Lilo mit ihren tausend Brüdern und Geschwisterfrauen nicht meiner Alten aufs Maul hauen konnte. Der Dunja konntest du nicht drohen, die hätte der Lilo ’n zweites Loch in den Arsch getreten, egal, mit wie viel Verstärkung die aufgelaufen wäre. Die Dunja ist mehr als stark gewesen.
Sie hat in der Herbertstraße gut verdient und für mich nebenbei was abgezweigt, als Überraschung. Im »Globetrotter« auf der Großen Freiheit bin ich im Sparclub gewesen. Da hat Dunja in mein Fach immer ein paar Mark reingeworfen. Und am Ende des Jahres bei der Auszahlung waren 13000 Mark drin, ohne dass man darüber gesprochen hat. Sie war, wie gesagt, Tschechin und mehr als rustikal. Aber sie hat in ihrer Form Dinge drauf gehabt, die sind sehr berührend gewesen: »Mein Miläcku«, hat sie immer zu mir gesagt. Sie war eben irgendwie verrückt, sie war in allem extrem, sie war mir ähnlich.
Mit meiner Kneipe hab ich nicht gut verdient, mich nur eben über Wasser gehalten. Ich bin von meinem damaligen Partner Männlein verarscht worden. Er hat sich aufgeplustert und durch mich in St. Pauli ’n bisschen Boden gefasst. Natürlich hat er ein Gespür für Geschäfte gehabt, ’nen Instinkt. Ich überhaupt nicht. Ich hab nicht die Bremse gefunden, um mich zu stabilisieren. Ohne den neuen Lebensstandard, ohne die Verlustmeldung zu akzeptieren, hab ich einfach so weiter gelebt. Der Druck wird irgendwann schwerer, darum hab ich viel Scheiße gemacht. Ich hab nicht ökonomisch gelebt, nicht ums Verrecken. Ich hab auch gedacht, 50 ist ein biblisches Alter, das erreich ich nie. So extrem, wie ich hier gelebt hab, da kann man gar nicht älter werden, Prinzessin.
Mir ging zu der Zeit Männlein schon auf die Eier, seine ganzen Geschäftspraktiken, sein Rumturnen mit den Automatenaufstellern. Und immer Ärger. Mich hat angekotzt, wie er unsere Angestellte vor der Arbeit noch ’n bisschen getickt hat, oder sie musste ihm einen blasen, oder sie haben etwas länger durchgemacht, bis mir der Kragen geplatzt ist. Ich hab ihr gesagt: »Sag deinem Stecher Bescheid, ich hab da keinen Nerv mehr drauf. Wir machen Geschäfte zusammen, ich hab keinen Bock drauf, dass er seinen Aal in der Kellnerin wässert. Dafür haben wir ’n großes Bordell um die Ecke.«
Ich hab mich nach zwei, drei Jahren nur noch ganz wenig um das »Cool« gekümmert, das muss ich ehrlich sagen. Ich hab da nicht den Kellner gemacht, ich hab da kein Bier angezapft, ich war präsent dort. Und wenn der Laden voll war, hab ich den Harlekin gemacht, den Zampano. Dann ist das eben bis morgens gegangen, und dann hab ich mich ausgezogen und ’nen Strip gemacht, also nicht so, dass jemand meinen Schwanz gesehen hat.
Auf einmal hat sich ein Jugoslawe für die Kneipe interessiert. Dem gehörte schon einiges auf der Großen Freiheit, und er war liquide, sofort ’ne Summe zu legen. Männlein hat mir das unterbreitet: »Mensch, das ist ein Hügel, den wir da schnappen.« Ein Anwalt hat den Labermann gemacht, das ist hin und her gegangen, und wir haben gesagt: »Jedes Mal, wenn du zur Verhandlung kommst, werden es 5000 Mark weniger.« Bis wir auf eine Summe gekommen sind, die okay für beide Seiten war. Und wenn dir nach drei oder vier Jahren jemand nicht nur das Doppelte oder das Dreifache dafür gibt, dann überlegst du nicht lange: Das »Cool« ist weggegangen für 150 000 Mark in bar. Die Summe haben wir natürlich geteilt. Der Jugoslawe hat aus dem »Cool« einen Thai-Laden gemacht. Er hatte in Thailand Connections und auch eine Thai als Frau.
Der Verkauf ist mir im Prinzip nicht schwer gefallen. Ich hatte Bargeld in der Hand, aber auch das Gefühl, es ist nur ’n Pissgroschen. Ich hatte ja schon ganz andere Summen verdient. Ich hab gedacht: »Du kannst was zusammen mit deiner Frau machen.« Ich wollte ja nicht stehen bleiben und das Geld auch wieder anders einsetzen. Ich hatte zwar keinen familiären Tunnelblick, aber ich hatte den Turm in der Annenstraße, und es lief mit der Dunja gut. Es war alles okay – bis du wieder auf den Arsch fällst.
Als das »Cool« weg war, hab ich mein Hauptquartier ins »Globetrotter« rübermanövriert. Da bin ich nur Gast gewesen mit meiner Frau, nach getaner Arbeit. Wir haben uns da getroffen und unsere Aufrisse gestartet. Dunja hat die Frauen für mich aufgerissen und für sich. Sie hat das gigantisch gemacht. Die Frauen sind bei ihr hingeschmolzen, wie wenn man Griebenschmalz zu lange im Backofen lässt. Die hat die richtig poussiert, die Mädels. Was meinst du, wie geil das ist, wenn du kommst und sagst: »Geh noch mal zurück und bring mir die oder die mit.« Die macht dich schwindlig in der Birne, die hat ’ne tolle Aura, und Dunja erscheint mit der in der Annenstraße, und wir haben ein Fest zu dritt.
Als meine starke Dunja mal nicht zugegen war im »Globetrotter«, ist mir was Schlechtes passiert. Ich sitz da mit Männlein und dem Orum. Der ist ’n Schwarzer, also ein Mischling, ein Arschloch, ein Oberwichser. Der ist stadtbekannt und hat fast überall Lokalverbot, weil er mit jedem Streit gekriegt hat. Als gebürtiger Bayer hängt er in München jedes Jahr auf dem Oktoberfest rum, um dann immer stolz seine Narben auf dem Schädel zu zeigen, wenn er sich mit ’nem Bierhumpen geprügelt hat. Er hat sich zu mir irgendwie hingezogen gefühlt, wir sitzen also in der Kneipe, und ich komm mit ’ner Frau ins Gespräch. Dann bin ich irgendwann mal zum Pissen raus. Und als ich wieder zurückkomme, liegt die Frau auf dem Boden wie ’ne Schildkröte. Ich helf ihr hoch und frag: »Was ist los?« Dann hör ich, dass der Orum ihr in die Fresse gehauen hat. Daraufhin geh ich zu ihm hin und ballere ihm erst mal ’ne Anstandsohrfeige rein: »Ey, der Frau, mit der ich mich unterhalte – du hast ja gesehen, mit der hab ich ’ne Stunde gequakt –, der haust du nicht, wenn ich beim Pinkeln bin, auf die Backen.« Das bleibt so im Raum, und er macht den Kuschheimer. Damit hatte ich die Sache abgeschlossen.
Wir sind alle in ’ner Harlekinstimmung, wir sind gut drauf. Es wird schon wieder hell draußen, wir wollen die Nacht durchmachen. Man gruppiert sich um einen Tisch herum, Orum sitzt rechts auf der Bank und ich lehne mich so rüber. Er trinkt wie ich ein Weizenbier. Das Weizenbierglas ist ja hauchdünn, deswegen klopft man es auch nur unten am Sockel an zum Prosten, weil es zu teuer ist, immer wieder neue Gläser zu kaufen.
Auf einmal zieht mir der Orum das Weizenbierglas in mein Gesicht rein. Dann spür ich nur noch warme Suppe, ich merke, das irgendwas mit mir passiert, mir läuft die Brühe aus dem Auge, ich kapiere: Der hat mir das Glas in mein Augenlicht reingegrillt und mir was durchgetrennt. Ich nehm ihn ins linke Korsett, also im linken Armbereich in den Schwitzkasten und flüstere ihm ins Ohr, dass ich ihn umbringen werde, wenn ich mein Augenlicht verloren habe. Ich muss Männlein anbrüllen, er soll einen Arzt rufen. So lange, bis der Unfallwagen kommt, so lange hab ich Orum im Schwitzkasten.
Sie haben mich erst ins Hafenkrankenhaus gebracht und dann sofort nach Eppendorf in die Augenklinik. Als wir dort angekommen sind, hab ich gewusst: Ich hab verloren. Ich kann dir nicht sagen, ob das wehtat, ein Leid im Auge kann man nicht beschreiben, Prinzessin. Du bist auf einmal ganz hässlich klein. Ganz stark willst du sein. Du hast Angst, die linke Hand zu heben, um dir das gesunde Auge zuzuhalten, und versuchst, mit dem zerstochenen Fitzel, den du da noch im Gesicht hast, rumzualbern. Und du siehst absolut nichts. Und dann hab ich gewusst: Das ist nicht mehr reparabel. Das hab ich gewusst und hab die natürlich trotzdem rumdoktern lassen. Das war das Schlimmste, ’ne Horrorbehandlung. Dann kam der blöde Spruch von dem Arzt: »Da haben wir noch Hoffnung.« Ich hab ja nun Gott sei Dank mit meinem linken Auge erkennen dürfen, wie die Schwestern reagiert haben: Als hätten sie alle zugleich ihre Tage. Dann hab ich gesagt: »Hör auf hier, Hoffnung ist ein Seil, auf dem Narren tanzen.«
Ich liege im Krankenzimmer, und es kommen Leute, reißen die Tür auf und sagen: »Visite«. Dich interessiert nichts mehr. Visite. Ich lieg in meinem Bett, ich warte auf die Visite. Dann kommen die wieder: »Herr Hentschel, wollen Sie nicht kommen?« Da sitzen die Patienten mit ihren verbundenen Augen in der Eppendorfer Klinik und haben Visite wie in einem vollbesetzten Zahnarztwartezimmer. Ich hab noch das Operationshemdchen an mit den grünen Schleifchen dran. Ich interessiere mich für nichts mehr. Die Dunja kommt gerade zu Besuch und bringt mir ’ne Pflanze, sie nimmt mich wieder mit ins Zimmer und fragt: »Was ist los?« Ich hab null Hemmschwelle mehr. Visite. Ich soll mich mit ’nem ausgestochenen Auge noch anstellen. Bitte? Und dann kommt meine Frau und sieht mich mit diesem Operationshemdehen. Visite. Der Oberarzt hat noch Hoffnung. Und dann kommt natürlich das Händchenhalten: »Herr Hentschel, der Sehnerv ist durchtrennt.« Ich sag: »Warum denn nicht gleich am Anfang so?«
Und dann ist die Lilo mit den Marmortitten gekommen. Mit vier Dosen Bier in der Handtasche. Sie hat sich in meinem Krankenzimmer besoffen, und ich hab sie dann rausgeschmissen. Mein Bruder hat vor mir geheult, den hab ich auch entlassen. Ich hab gesagt: »Haben die dir das Auge ausgepiekst?« Und all so ’ne Rotze ist mir passiert. Die Besuche hätte ich gerne gecancelt, mit Sicherheit.
Guck mal, so ’n eitler Hund oder Sack wie ich, der im Krankenhaus Zeit hat, der holt sich diese schwarze Augenklappe und lässt sich historisch durch die Birne gehen, wer auch ein Auge verloren hat. Moshe Dayan, Admiral Nelson. In Spanien kannte ich einen Go-Kart-Fahrer, der auch nur ein Auge hatte und immer in der Pole-Position zu finden war, das war Kamikaze. An solche Sachen klammert man sich wie so ’n Reckturner. Alles das baut einen wieder auf, und man orientiert sich daran: »Jetzt bist du auch einer von denen. Wie bringst du das jetzt rüber?« Man bleibt ja nicht auf der Strecke, ich hab doch keine voll geschissenen Windeln, dann würde ich mich nicht mehr in der Öffentlichkeit melden.
Ich war nur ein paar Tage im Krankenhaus. Die wollten eben noch ein bisschen Heiapopeia mit mir machen. Vielleicht braucht man so ’ne Seelenschiene, aber das Verlogene hab ich selber entlarven können, und deshalb haben sie es kürzer gemacht. Und ich war froh, als ich wieder zu Hause war. Ich bin mit ’ner schwarzen Augenklappe entlassen worden. Mein erster Weg ist der zu Joe gewesen, das ist der St.-Pauli-Fotograf. Den hab ich ein Bild von mir machen lassen mit meiner Augenklappe, so als Joke, nur ein Polaroidfoto. Natürlich haben mich auf St. Pauli die Leute angeguckt, die haben ja gewusst, was los war. Jetzt ist es drauf angekommen, wie ich wieder auf die Bühne gehe. Ich hab ja nicht meine Stimme verloren, aber das räumliche Sehen. Dass sich viele Kerle den Schwanz innerlich gerieben haben: »Der ist jetzt aus der Partie gepustet mit seiner großen Fresse und seinem Erfolg bei Weibern«, das hab ich in der Luft geschmeckt. Und das hat mir irgendwie wieder ’ne Motorik verliehen, als hätte ich das Rad erfunden.
Zu mir ist zweimal die Polizei gekommen. Die haben hier zu zweit wie Gebetsbrüder auf der Couch gesessen: Ich solle jetzt mal Federn lassen, das sei schwere Körperverletzung. Ich hab wie auf der Schulbank gesessen, die haben mich bequatscht, aber ich hab den Namen nicht gesagt. Orum ist auch nie deswegen verhaftet worden. Das ist mehr wie ’ne Streicheleinheit für mich gewesen, dass die Schmiere sich um mich bemüht hat. Ich wollte jetzt nicht noch ’nen Pullerkurs machen. Jeder auf dem Kiez wusste, wer es gewesen war. Den Namen hab ich nicht gesagt, warum denn auch? Orum ist auf Bewährung draußen gewesen und wäre wegen schwerer Körperverletzung garantiert für fünf Jahre in den Knast gegangen. Außerdem kenn ich seine Tochter, ein bildhübsches Mädchen, die hab ich schon im Arm gehabt und mit ihr geschmust. Arschlecken, Schadensersatz hat Orum mir nicht gezahlt. Das versteht der halbe Kiez nicht, warum er noch lebt. Nein, ich hab da ’ne andere Philosophie, und meine Philosophie bestimme ich persönlich. Wie die ist? Momentan noch ungewiss. Damals dachte ich, dass ich ihm mit meiner Kraft vielleicht auch ’n Auge mit dem Daumen aussteche, während ich ihn festhalte. Jetzt stelle ich mir das nicht mehr vor.
Orum hat heute noch ein Zucken, wenn er mich aus 100 Metern Entfernung sieht. Wir haben Begegnungen gehabt, die sind gigantischen Charakters. Das ist verrückt. Das hat ihm einen Stempel aufgesetzt, und das gibt mir eine Genugtuung, ’ne Streicheleinheit. Der kriegt alle paar Wochen ein Messer in den Rücken oder irgend so was passiert ihm immer wieder. Oder ich fahr auf der Straße durch St. Pauli, und er hat eigentlich Vorfahrt, aber er geht mit seinem Rennrad in die Bremse, weil er Angst hat, ich fahr ihn mit dem Auto von hinten platt. Einmal hab ich seine Stimme gehört, da hat er im »Kicker« gesessen, ich hab mich umgedreht, und er hat seine Jacke beiseite geschoben und mir den Knauf seiner Knarre gezeigt. Ich hab gesagt: »Du, wir haben Zeit, wir haben noch ’nen Termin.« Dann bin ich gegangen. Ich bin zu besoffen gewesen, ich bedauere das heute noch: In solchen Situationen hör ich in mir so ’n kleines Klingeln, das ist mein Selbsterhaltungstrieb. Also, wenn er hier auf dem Kiez unterwegs ist, ist er bewaffnet, der Ködel sitzt ihm im Arsch.
Ich bin zuerst wochenlang mit der Augenklappe rumgelaufen, bis mir der Arzt bei dem vierten oder fünften Besuch gesagt hat: »Jetzt hab ich eine Adresse für Sie, da gehen Sie hin, und dann fertigt man Ihnen eine Glasscheibe an, wie eine Prothese.« Ich erleichtert: »Ah, jetzt brauch ich keine Klappe mehr?« – »Nein, das sieht identisch aus. Sie haben ja noch das Auge in der Höhle, das heißt, wenn Sie nach links gucken, bewegt sich die Scheibe mit.« Mir ist das ja gänzlich fremd gewesen, und jetzt erfahr ich das alles. Das Sensibelste, meine Güte, der Spiegel der Seele, ist mein Auge.
Wenn dir einer das Bein amputiert, dann wird der dir nicht sofort sagen, dass du in die Reha musst, dass du ’ne Prothese angebunden kriegst, was das für ’n Werdegang ist. Als ich damals von dem durchgeschnittenen Sehnerv gehört hab, da hab ich nicht gedacht, dass ich mein Auge verlier. Ich hab gedacht, ich bin nur blind drauf. Und jetzt sieht das Auge aus, sag ich dir, wie die toten Augen von London. Davor muss man Angst kriegen. Und es entwickelt sich auch noch zurück, das siehst du ja an der Augenhöhle. Und dann gehst du in so ’ne Firma am Dammtor und kriegst ’ne Glasscheibe für dein Auge zusammengeblasen. Die Leute, die solche Linsen herstellen, müssen siebeneinhalb Jahre lernen. Ich hab sie beobachtet, die arbeiten so ähnlich wie Glasbläser, mit ’ner Flamme. Der Künstler, der mich zu fassen kriegt, der macht und taucht und guckt immer wieder in die linke Schatulle rein, also in mein heiles Auge. Und ich sitz daneben und bin beeindruckt. Dann kühlt er die Scheibe unter Wasser. Jetzt soll sie fertig sein, und er erzählt, wie ich die einzusetzen habe. Und dann seh ich mich im Spiegel mit dem einen Auge an und sehe wieder zwei Augen: »Ich bin wieder stark, ich bin wieder da! Ich kann nicht mehr gucken, aber ich hab wieder ’n bisschen Licht gefunden.«
Ich habe noch Wochen und Monate geträumt, dass ich einen brotähnlichen Korb hab, in dem Tausende von Linsen drin sind, und ich muss jeden Morgen meine Linse, meine Glasscherbe raussuchen. Ich bin dann klitschenass wach geworden. Das hat mich Monate beschäftigt.
Meine Vitalität hat mir keiner genommen. Ich hab eine Glasscherbe, kein Glasauge, da leg ich größten Wert drauf. In meinem Kopf ist keine Höhle oder sonstwas. Das Auge ist das einzige Organ, das nach der Geburt nicht mehr wächst, das hat von Anfang an seine Größe. Und das Auge ist noch drin. Davor ist nur die Glasscheibe, eine große Kontaktlinse. Das blinde Auge schrumpft mit der Zeit zusammen, weil es keine Tätigkeit mehr hat. Bis heute hab ich noch nicht mal ’ne Reservelinse. Ich krieg selbst im Vollsuff hin, die Platte in meine Schatulle auf den Nachttisch zu legen, sie ist noch nie runtergefallen. Durch die Scherbe bin ich rein optisch wieder für mich geboren worden.
In meinem Bekanntenkreis hatten ja alle von dem Vorfall gehört, und ich hatte ja nicht die Sprache verloren, und sie hatten mir ja nicht die Arme abgehackt. Und bei Frauen wächst auch die Neugierde. Die geilsten waren ja die Transvestiten in der Großen Freiheit. Die haben gesagt: »Stefan ist Stefan geblieben, der ist nur reifer geworden.« Die haben mir vermutlich sehr viel Kraft gegeben.
Mein Handikap ist, dass ich diese Glasscherbe abends rausnehmen muss, sonst hat das Auge nicht genug Sauerstoff und suppt. Wenn ich mal ein, zwei Nächte durchgesoffen und in der Öffentlichkeit die Scherbe natürlich nicht rausgenommen hab, dann hat sich dahinter Scheiße gebildet, es hat gesuppt. Wenn ich die Scherbe dann auf der Toilette rausgenommen hab, ist nur ein Viertel von den Leuten in meiner Umgebung sitzen geblieben. Und keiner von denen ist imstande gewesen, mir zu sagen, wie ich aussehe. Daraus, step by step, sukzessive, hab ich gelernt.
Wenn ich mit dem Glassplitter im Auge mit ’ner Frau zusammen bin, und die Dame ist auch alkoholisiert, dann lass ich die Scherbe drin. Die Mutter ist morgen wieder weg aus der Hütte. Aber wenn jetzt was enger wird, dann muss man schon Tacheles reden. Wenn ich mit ’nem Q-Tip das Glas rausangel, dann ist das zu illusorisch, noch gefallen zu wollen, weil nur noch ein weißer Schlitz zu sehen ist. Ich kann damit leben.
Dunja hat das ja miterlebt. Die hat sich absolut toll verhalten, ich sag Hut ab, in aller erdenklichen Form: Hut ab. Gigantisch, wie die in einer fürsorglichen Art und Weise für mich da war. Es war nicht nachvollziehbar für sie, dass ich mich Orum gegenüber zurückgehalten habe. Ich hätte sie auf den loslassen können wie ’nen deutschen Schäferhund, dann wäre der heute nicht mehr da. Das war ein geiles Gefühl. Und das spricht auch für sie, deswegen hab ich heute noch mit ihr Kontakt.
Dunja und ich haben uns trotzdem bald getrennt. Sie ist etwas über die Stränge geschlagen, milde gesagt. Weißt du, was die gemacht hat? Die ist reingekommen morgens, stockbesoffen, und haut mir ohne Ansage was in die Fresse. Das hab ich nicht erwartet, sonst schlägt mich ja keiner auf diese Art. Sie hat die ganze Scheiße mit dem ausgestochenen Auge miterlebt, und dann haut die mir aufs Jochbein, auf die Seite, wo ich den Glassplitter drin hab, dieses Fräulein. Na, recht vielen Dank. Da hat sie von mir Senge gekriegt. Bevor ich die Scheibe rausgenommen hab, hat sie auch ihr Ding in den Backen. Sie ist in die Vorhänge gefallen und hat alles runtergerissen. Dann hat sie zwischen all dem Stoff gesessen und nicht mehr gewusst, was sie wollte: richtig Buh machen, wie ’n Dinosaurier. Für mich ist das fast das Ende gewesen.
Sie hat irgendwo bei ’ner Freundin gepennt und ist wiedergekommen: »Kann ich noch ein paar Sachen holen, mein Miläcku? Verzeih mir.« Die als Tschechin hat das ja draufgehabt, wirklich ’ne Sülze daherzureden. Ich bin ja immer ihr Baby gewesen. Ich weiß nicht, was Miläcku heißt, ich hab sie auch nicht fragen wollen, es hört sich einfach niedlich an. Aber mit Miläcku ist es bald vorbei gewesen.
Ich hab mal wieder auf sie gewartet, im Bett gelegen und ’n bisschen Bock auf sie gehabt. Sie ist mit ’nem Freier unterwegs gewesen auf dem Hamburger Dom, der hat sie reichhaltig bei Laune gehalten. Dann kommt sie hier rein ins Schlafzimmer, und ich seh, dass sie in der Dose wühlt, wo ich Geld drin habe und wo auch sie ihr Geld reingelegt hat. Ich spring auf, ich hab Gott sei Dank ’ne Unterhose an, und will sie abhalten von dem Kassengriff. Da steht ein fremder Kerl bei mir im Flur, kannst du dir das vorstellen? Bei mir im Flur steht so ’ne Brauseflasche, also, ich beiß den nicht tot, ich brauch keine Angst vor dem zu haben. Der wartet auf sie. Also, ich brauch ’ne Zeit, bevor ich das verarbeitet hab. Dann reiß ich beide Türen auf und sag: »Beide im Stechschritt hier raus!« Mehr konnte ich nicht sagen. Ich hab mich hier hingesetzt und über die Situation nachgedacht. Das war natürlich ein grausames Ende zwischen uns, mehr geht nicht.
Ich bin allein durch die Gegend gealbert. Im »Top Ten« wurde der Geburtstag von ’ner Kiez-Größe gefeiert. Ich bin im Anzug reingegangen und wieder rausgegangen, weil es mir zu dicht und zu voll war, und die Arschlöcherei hatte ich auch satt. Auf der Großen Freiheit bin ich trotz der Erinnerung an mein verlorenes Auge ins »Globetrotter« gegangen. Auf einmal sitzt da hinten so ’ne schwarze Perle, ich seh sie und ihr Lachen über die breite Fresse. Natürlich sieht sie nicht aus, als wenn sie irgendwo bei der Post arbeitet. Man sieht eben schon, was los ist. Sie ist relativ klein, aber alles an ihr ist proportional gut verteilt. Die Kleine ist ’ne Bombe, wieder ein Girl mit ’ner guten Oberhand, alles dran. Sie hat einen körperbetonten ärmellosen Overall an, alles in Schwarz gehalten: sie selbst, der Overall, die Haare wie ’ne Flamencotänzerin, Träger, die Brüste, der Arsch, wo du ’ne Flasche Bier drauf abstellen kannst, und hochhackige Pumps. Das Maul etwas zurückgenommen, nicht in diesem Knallrot, was ich eigentlich ablehne. Die Haare wie ’ne Spanierin zurückgesteckt, also keine Krause. Sie hat sich eben nicht mehr zu ihren afrikanisehen Leuten bekannt, sondern die Krause rausgezogen und zurückgesteckt, natürlich mit ’ner Haarteilsubstanz, das sieht du nicht auf den ersten Blick. Wir haben uns sehr sympathisch gefunden, das ist im ersten Moment klar gewesen. Ich hab erst mal schwer durchgeatmet. Mein Knaller zu schwarzen Frauen – davon hat sie ja nichts gewusst. Ich hak das Ding erst mal ab und bestell mir ’n Weizen. Da kommt sie zu mir, ob ich mit ihr was trinke. Mehr geht nicht. Mit der Dame bin ich dann fünf Jahre zusammen gewesen, Loreen.
Sie kam aus ’ner starken jamaikanischen Familie, die sich in Birmingham nun wirklich durch die Kante des Lebens gefressen hat. Jamaika hat Loreen nicht gekannt. Und weil der Stiefvater ihr auch an der Muschi rumgealbert hat, ist sie abgehauen. Sie ist dreimal vergewaltigt worden. Erst hat sie in ’nem Edelbordell auf der Reeperbahn als Hure gearbeitet. Zu der Zeit, als ich sie kennen gelernt hab, ist sie im »Table Dance« als Stripperin aufgetreten.
Sie hat gefragt: »Was willst du eigentlich von mir?« Ich sag: »Ich will, dass du noch ’n Jahr für mich anschaffst, und aus der Kohle mach ich mehr Geld.« Als ich mit Lullah ins Geschäft kommen will, da ist sie anschaffen gegangen, am Anfang im »Chesa«, offiziell ein Nachtclub, in dem viele Huren rumgesessen haben. Das ist aber nach hinten losgegangen, weil sie da nur Koks geschnüffelt haben. Es hat nur ein paar Pissgroschen gegeben. Das hat sie selber erkannt und gesagt: »Ich geh auf Tournee.« Richtung Harz oder nach Süddeutschland, dorthin, wo Schwarze nicht so geläufig wie innerhalb der Hansestadt Hamburg sind, sondern wo die Bauern von ’ner Schwarzen schon ’nen halben Herzinfarkt kriegen. Dort wird auch Geld verdient. Dann ist sie immer nach drei, vier Wochen wiedergekommen mit ’nem Hügel, und wir haben uns von der Hälfte des Geldes ein paar Wochen in Dänemark gegönnt, wo wir uns ein Haus gemietet und ausgespannt haben. Ich hab Loreen einen Hund geschenkt, Sparkie, einen American Staffordshire Terrier. Diese Hunde waren ja damals noch Raritäten. Sie hat Sparkie immer mitgenommen auf Tournee, der hat zu ’nem schwarzen Bomber wie Loreen gepasst. Die hat ja ein Selbstbewusstsein gehabt, die hätte ’nen Kran umgeschubst, trotz ihrer Größe. Wenn ich mal Zoff mit ihr hatte und mich mit meinen 100 Kilo aufgestellt hab: »Was willst du?«, da hat die mich angeguckt, als würde ich ihr ’ne Salzstange überreichen. Da war keine Angst in ihren Augen zu lesen, und das hat mich irgendwie aufgeforstet. Ich hatte mit ihr ’n geiles Feeling. Und sie war natürlich auch knüppelhart.
Zu der Zeit hab ich Lullah das Motorradfahren beigebracht, dem Arsch. Wir sind oft am Lütjensee gewesen. Er hat ein Import-Export-Geschäft gehabt mit Teppichen und allem Möglichen aus dem Iran, nicht alles koscher. Er ist ja nicht dumm gewesen und hat ’n paar Mark im Rücken gehabt. Wenn zwei Männer, die jahrelang im Knast gesessen haben – da kaut man ja zusammen –, mit dem Motorrad unterwegs sind, da wachsen Ideen. Und da sagt er: »Mensch, was meinst du, wenn wir beide ’nen Nightclub aufmachen?« Ich sag: »Ich hab die Schnauze voll von Kneipen.« Aber trotzdem hat mich sein Drängen wieder rausgefordert: »Stefan, wenn du da mitmachen würdest…« Und ich sag: »Ich seh ja, wie im ›Globetrotter‹ die Leute bis morgens rumhängen, da ist ein Geschäft drin.« Er sagt: »Ich hab da ein Angebot.« Wir sind zu dem Chef von einem Mietshaus gegangen. Der sagt: »Versprechen Sie mir, dass wir da keinen Puff reinkriegen.« Ich sag: »Das wird kein Bordell, sondern ein Nightclub. Da machen wir ’ne Computertür mit Karten, und es kommen nur erlesene Gäste rein.« Er ist ein bisschen skeptisch gewesen, aber Lullah hat das Geld hingelegt. Ich hab bei den Brauereien gebürgt, das Vertrauen bei denen ist ja dagewesen aus meiner Zeit im »Cool«. Und dann haben wir unsern Nachtclub aufgemacht. Nennen wir ihn mal »Explosion«, denn da ist im späteren Verlauf ein Fall passiert, der nie von der staatlichen Wahrheitsfindung abgewickelt worden ist.
Das »Explosion« lag im Souterrain, du gingst vier, fünf Stufen runter, da musstest du klingeln oder du hattest ’ne Karte. Dann ging die Tür auf, du kamst rein, alles war sauber gefliest, in schwarz-grün gehalten. Hinten rechts ging eine Stufe hoch, die musste vom Ordnungs- und Wirtschaftsamt her extra beleuchtet sein, dass man nicht stürzt. Dort waren die Toiletten, Gänge, noch ein Raum. Das waren alles meine Entwürfe. Die Bar mit den Spiegeleffekten, extravagant, aber nicht übertrieben. Das »Explosion« hatte Stil. Es gab etliche Sorten Bier, die Musikanlage war gut. Bei der Eröffnung balzte der Laden, es waren 60, 70 Leute da. Das war ’ne Menge in dem Kellerding. Die Leute kamen geballt mit ’ner gewissen Neugierde rein. Es waren alle da.
Zwischen Lullah und mir hatte es nie Spannungen gegeben, zwischen uns war mehr als Harmonie. Wir hatten Glasmoor und Jamaika zusammen durch, alles durch. Jetzt hatten wir den Laden zusammen. Okay, er war der Financier des Ladens, aber ich war der Macher, ich war der Werber. Wer kannte schon Lullah? Wegen mir kamen die Leute vom Kiez in unseren Laden. Natürlich war er genehm als mein bester Freund, als Perser, mit dieser Salonsprache. Da sind auch die Weiber drauf geflogen, auf diese Tränenaugen, kein Thema.
Lullah und ich waren als die Chefs umschichtig im Laden, weil wir merkten, wie anstrengend das war. Wir wechselten uns ab, ein Tag Arbeit, ein Tag Pause. Du hattest noch nicht mal mehr Lust zu ficken, so fertig warst du, weil du morgens in ’ner Scheißphase noch jedem gerecht werden wolltest, denn das war dein Laden, dein Name, dein Treffpunkt. Ausgesehen hab ich wahrscheinlich wie so ’n alter aufgedunsener Michelinreifen. Wenn nichts los war, hab ich selber den Bierhahn als Meister und Mann genutzt.
Wir hatten Angestellte, also zwei, drei Barfrauen. Eine von ihnen war ’ne exemplarische Hure, die Pia. Ich hatte sie in den Laden reingebracht, ich kannte sie von früher, und auf sie ist der Lullah abgefahren. Für ihn war das ja mehr oder weniger Neuland, wie ich mit den Mädels umgegangen bin. Ich war bestimmt in meinen Ansagen: »Pünktlichkeit hat für mich ’nen hohen Stellenwert. Der Laden wird nicht verspätet aufgeschlossen, und du kommst mir nicht mit ’nem versifften Kopf und nicht mit ’ner Tropfnase. Du machst deinen Job wie ’n Profi, und dafür gibt’s Geld.« Und so konnte Lullah halt nicht reden. Er hielt sich bedeckt mit seiner persischen blumenreichen Sprache und war dreißigmal so hinterhältig wie ich. Perfide ohne Ende.
Ich bin derjenige, der mit Lullah mehrere Frauen gemeinsam unter die Presse gekriegt hat, wie andere Lichtbilder beim Vortrag zu Hause. Wir kennen uns nun tausend Jahre, und er sagt: »Mensch, ich bin in die Kellnerin verliebt, in Pia.« Ich hab ihm dann ’ne Brücke gebaut. Eines Morgens, alle Kunden sind raus gewesen, da hab ich meinen Gürtel aus der Hose gezogen, Pia hat an der Bar gesessen, und ich hab gesagt: »Hast du Bock, wenn ich Lullah dazuhole?« Sie sagt: »Wenn du möchtest, okay.« Lullah hat das fasziniert, was sie gemacht hat, der ist weggeschmatzt mit seinen Ölaugen und hat seine angestammte Dame und alles andere vergessen. Den hat es richtig in den Eiern gejuckt bis in die Schulterblätter hoch.
Als ich nun mit der Pia und ihm, meinem Freund, um es salopp zu sagen, ’nen flotten Dreier gemacht hab – Pia stand ja auf auserlesene Dinge –, hat ihn das ’n bisschen blöde gemacht in seiner Oberstube. Da hat’s bei Lullah ’nen Kick gegeben, da ist der Dschingis Khan aufgerufen worden, und das ist die Alleinherrschaft. Was weiß ich, was in seiner Rumbanuss abgegangen ist.
Und wenn ich dann gearbeitet hab, dann hat er da rumgesessen: »Kann ich mit Pia noch mal in den Keller runter?« Ich sag: »Lullah, tu mir ’nen Gefallen, fahr mal mit ihr ins ›Maritim‹ übers Wochenende, aber jetzt geh mir nicht auf den Sack.« Ich hab das gar nicht so ernst genommen, Prinzessin. Dem hat es wirklich in den Eiern gekullert, dem iranischen Arsch. Pia war ’ne Vollblutfrau.
Die Zeit im »Explosion« mit Lullah, die ist vorbeigegangen wie ein Bergsteigerepos: Wir hatten ’ne Freundschaft über Jahre und rumpeldipumpel, weg war der Kumpel.
Ich lieg im Bett mit Loreen. Irgendwann klingelt das Telefon. Ich hab ein schlechtes Gewissen, weil ich am Vortag ’ne neue Frau angeludert hab. Und jetzt denk ich, dass ich der anderen die Nummer gegeben hab. Aber diese Beharrlichkeit, mit der das Telefon klingelt, ist doch befremdlich für mich, und ich hüpf ran. »Hier ist die Hamburger Feuerwehr. Gehen Sie mal schnell in Ihr Geschäft.«
Es ist tief in der Nacht. Ich spurte dort hin und denke, mein Kind steht in Flammen. Ich renne, als könnte ich das noch löschen. Ich hatte ja alles ausgesucht: die Kacheln, die Zeichnungen, ich war beim Ordnungs- und Wirtschaftsamt vorstellig geworden als St. Paulianer, ich wurde mit den Auflagen bis zum letzten Tag gequält wie ein Pavian. Ich renn mit all meinen Erinnerungen hin. Es heißt: »Das ist der Chef.« Gott, sie halten mich zurück, und dann sehe ich die Verwüstung: Da ist ’ne Bombe eingeschlagen wie in Dresden. Drüben auf der anderen Straßenseite liegen die Eisengitter von unseren Fenstern in so ’nem roten Kadett. Durch die Detonation im Keller muss ’ne Druckwelle entstanden sein, so stark, dass sie die Gitter aus den Fundamenten rausgewichst und wie Federn weggeblasen hat. Die Hausbewohner sind gefährdet. Sie müssen evakuiert werden. Ein Riss in der Hauswand geht hoch bis zur zweiten Etage. Das muss einen Rums gegeben haben – wenn in dem Moment jemand mit dem Thermometer Fieber gemessen hätte, das hätte der verschluckt durch den Arsch, so stark muss der Knall gewesen sein. Der Laden steht tief unter Wasser: Die haben die Schläuche reingehalten. Ich wende mich an einen Feuerwehrmann, weil ich in den Laden rein will, und dann sehe ich mit einem Blick: »Bullshit! Das Ding ist zu Ende, das ist vorbei.« Du kannst dir das nicht vorstellen, das ist wie ’n Einlauf, Prinzessin.
Die Feuerwehrleute haben nicht sofort festgestellt, dass das Brandstiftung war. Da reden irgendwelche Beamte mit dir, die nehmen dich beiseite, der eine will dir Trost spenden, ein anderer macht auf Macho und traut dir nicht ganz, weil er vielleicht deine Vorgeschichte kennt. Ich hab das alles gar nicht in der Birne gehabt. Ich hab noch im Polizeihochhaus nach zwei Stunden Verhör gefragt: »Ist das mit Plastiksprengstoff gemacht worden? « Weil ich gewusst hab, wer in Hamburg Plastiksprengstoff baut: So ’n kleiner Arsch, der gegen mich gewesen ist.
Dann hab ich nachts irgendwann Lullah angerufen. Der ist gekommen, und wir haben im »Backstage« gesessen. Ich hab gesagt: »Lullah, denkst du genau das Gleiche, was ich denke, wer uns das angetan hat?« Wir sind uns eigentlich sicher gewesen, wer das gemacht hat: Männlein mit seinem albanischen Freund. Dass wir Erfolg hatten, ging dem wohl ganz gegen den Strich. Die waren schon auf einen Besuch im »Explosion« gewesen. Aber ich konnte ja nicht ahnen, dass der Lullah sich daraus seine Parallele schöpft. Ich hab gesagt: »Du bleibst draußen. Ich werd das mit dem Männlein alleine ausmachen.« Und dann sagt er in seiner blumenreichen Sprache: »Der Pfeil ist in der Luft.« Ich sag zu ihm: »Ich will nicht, dass du mitkommst, weil deine Tochter im schulpflichtigen Alter ist. Wenn sie mich dabei am Arsch kriegen, bitte, dann bin ich doof gewesen. Aber du hast damit nichts zu tun.« Da sagt er: »Dadaschi, lieber Bruder, der Pfeil ist in der Luft.« Überleg mal, Prinzessin: Der Pfeil ist in der Luft. Er hat mir vertraut, dass ich den Wichser vernichte. Welche Ungeheuerlichkeit bietet sich denn noch an, nach so einer langen Freundschaft?
Als sie mich im Polizeihochhaus so lange gequält haben, da hab ich was Merkwürdiges herausgefunden. Ich hab ’ne Mütze aufsetzen müssen, weil ein Zeuge jemanden mit so ’nem Käppi auf dem Hinterhof gesehen hat. Die Mütze hat mir natürlich nicht gepasst, die hat ausgesehen wie ’ne Frostbeule auf meinem Dickschädel. Dann hab ich noch die Dummheit begangen, den Schlaumeier raushängen zu lassen und das mit dem Plastiksprengstoff zu fragen. Aber Spuren von Sprengstoff sind nicht gefunden worden. Die haben mir die Benzinkanister gezeigt. Ich hab ja nie gewusst, dass so kleine verpisste Fünf-Liter-Benzinkanister so ’ne Wirkung haben können. Ich geh davon aus, dass der Brandstifter das vielleicht auch nicht gewusst hat. Der Wichser hat auch nicht bedacht, denk ich mal, dass abends vielleicht ein altes Pärchen mit dem Hund noch spazieren geht oder sonstwas. Der hat gedacht, er fackelt nur den Laden ab. Die Mütze ist ihm von der Druckwelle weggerissen worden. Die hätte ihn unten im Keller zerrissen, dann hätten die gleich den Täter gehabt. Sie haben aber nur die Mütze gehabt, weil der schon vier, fünf Meter weg gewesen ist, als ihm die Mütze abgerissen worden ist. Meine Mütze wäre auf Lullahs Kopf wie auf ’nem Frühstücksei rumgerutscht, aber auf seinen kleinen Kopf hätte das Käppi gepasst. Den Gedanken hab ich natürlich weggeschoben, als er ins »Backstage« gekommen ist wie ein unschuldiges Mädchen. Lullah hat mich dann auch noch angemacht: »Warum hast du denn nach Plastiksprengstoff gefragt, Stefan?« Ich sag: »Weil ich weiß, wer der Patient ist, der uns wehgetan hat.« Und dann lehnt er sich genüsslich zurück: »Erzähl mal.« Das ist perfide.
Lullah und ich haben uns dann getrennt. Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass wir wieder irgendwas zusammen machen, aber er hat kein Interesse gezeigt. Ich hab ja nicht gewusst, dass er mit Pia ein Wohnmobil gekauft hat und nach Schweden abgehauen ist.
Irgendwann ist so ein verstaubter Anruf von Babak gekommen, Lullahs Bruder. Nicht ganz glaubwürdig. Wie kann mich einer anrufen, dass er sich mit mir treffen will, um mir was über den Brand meines Ladens zu sagen? Babak kannte ich, weil ich ihn mal in Lullahs Haus getroffen hatte. Da hatten wir den Laden noch nicht. Babak stand völlig unter Lullahs Fuchtel, er war auch jünger. Wir hatten zusammengesessen in einer Art, wie man bei Iranern unter Brüdern nicht herzlicher sein kann: ’n Backgammon-Spiel auf dem Boden, Datteln fressen, Süßigkeiten nehmen und und und. Nachdem Lullahs Pfeil in der Luft war, kommt also so ’n halbschwuler Anruf, und es meldet sich einer mit »Babak«. Ich krieg den nicht gleich eingeordnet, diesen Namen. Er kann auch nicht so gut Deutsch, und am Telefon ist das mit ’ner fremden Sprache doppelt schwer. Dann fragt er: »Wann kann ich dich sprechen, lieber Bruder?« Ich sag ihm, wo ich wohne, in der Annenstraße, und frag: »Bist du hier in Hamburg?« – »Ja, es ist wichtig, ganz wichtig. Es geht um deinen Laden.« Da ist meine Neugierde gewachsen. Dann hab ich mir ein Diktiergerät gekauft. Zu der Zeit hatte ich einen Marmortisch vor den Sofas, unter den hab ich das Teil geklebt. Ich hab animalische Instinkte, wenn etwas heiß ist. Ich hab gewusst, da kommt was rüber, es geht um meinen Laden, er will mir einen Täter nennen. Wenn der Bruder aus Schweden kommt, um mir ’nen Täter zu nennen, was läuft da für ’n Film? Wie Watergate.
Er ist gekommen, ich hab ihn begrüßt, Küsschen links, Küsschen rechts, er hat die Schuhe ausgezogen, wie das bei Iranern üblich ist. Dann begibt er sich in die Demutshaltung, Knie zusammen. Er hat nicht die Position, die Lullah hatte und durch mich auf dem Kiez und sein Geld auch auszudrücken gelernt hat. Er sitzt da und erzählt mir, dass sein Bruder Schande begangen hätte. Ich denk: »Was kommt denn jetzt für ’ne Scheiße?«
Lullah war in Schweden und wollte seinen Bruder besuchen. Babak war nicht zu Hause. Lullah nutzte das aus, Babaks Frau zu ficken. Babaks Frau konnte, nachdem Lullah wieder nach Germany abgereist war, damit nicht leben und hat das ihrem Mann gestanden. Aus Rache oder was weiß ich, wie das unter Iranern ist, hat Babak mich aufgesucht: »So, mein Bruder hat mir den Auftrag gegeben, den Laden da wegzubomben. Und dann fickt der meine Frau.« Babak hatte den Laden aber nicht angezündet, dem ging der Schwanz nach hinten. Aber er hat genau erzählt, wie er das machen sollte mit den Kanistern. Vorher sollte er noch die Kasse rausholen, damit es nach Raub aussieht. In der Kasse lagen immer ’n paar Pissgroschen, Wechselgeld, die Abrechnung. Er wusste genau, wo alles stand, obwohl er nie im »Explosion« war. Er hat mir erklärt, wie er die Alarmanlage ausschalten sollte, der Laden war ja fast wie ein Hochsicherheitstrakt gesichert mit der Computertür. Das hatte Lullah ihm alles genau erklärt. Bei so einer Verwüstung, wie sie da passiert ist, hätte auch die Alarmanlage nichts mehr genützt. Babak hatte einen absoluten Hass, weil sein Bruder seine Frau gefickt hatte. Unter Iranern muss das das Schlimmste sein, das muss Guillotine-Charakter haben: Der eine will den anderen jetzt schlachten, der kann sich nicht zum Schlafen hinlegen.
Jetzt sitzt der Babak hier bei mir, hat ’ne ganz dünne Stimme, ich kann ihn kaum verstehen. Gott sei Dank hab ich das Band laufen. Aber ich hab die ganze Zeit Angst, weil er so erregt ist und sich immer am Tisch festhält. Ich denk: »Hoffentlich fasst der nicht an mein festgeklebtes Tonband.« Aber dann ist mir das auch egal, als ich die ganze Geschichte höre. »Der Pfeil ist in der Luft.« Der donnert mir richtig zwischen die Schulterblätter rein.
Du kannst nichts mehr machen, Prinzessin. Du setzt dich hin und baust dir ein Röllchen, du kannst nicht unter Menschen gehen, du bist wie begraben. Ich hab hier isoliert gesessen, wie in Einzelhaft. Ich brauchte keine große Entscheidung zu treffen, es ging immer um Leben und Tod. Das hat mit Größe ja nichts mehr zu tun. Auf welches Eis ich geführt worden bin. Gut, dass ich das Diktiergerät angeklebt hatte. Ich wollte wenigstens, dass Lullah das durchlebt, seinen Bruder hört, die bekannte Stimme, mit der er groß geworden ist.
Ich habe sieben Tage gebraucht, bis ich ihn zur Rede stellen konnte. So lange musste ich warten. Meine Großmutter sagte immer: »Wenn’s ganz eng wird, zähl bis hundert«, weil sie mich ja kannte. Und dann hab ich mich sieben Tage hier eingeigelt. Weil ich wusste, ich würde ihn zerhacken, wenn ich nicht vorher zu irgendeiner Ruhe gefunden hätte.
Nach den sieben Tagen hab ich Lullah bei »Gretel und Alfons« in der Großen Freiheit getroffen, einer Kneipe, in der schon die Beatles rumgehangen hatten nach ihren Auftritten in St. Pauli. Ich hab Lullah vorher angerufen: »Das ist ein ganz wichtiger Termin, Lullah, sehr, sehr wichtig. Ich hab was zur Aufklärung beizutragen. Ich hab den Fall mehr oder weniger gelöst.« – »Das ist ja gut«, hat er gesagt. Er hat gedacht, ich hab jemandem auf die Rübe gehauen mit ’nem Baseballer, krankenhausreif. Er kommt da hin, ich hab bei »Gretel und Alfons« ’nen Stammtisch, da muss man zwei, drei Stufen links hoch. Er kommt hoch: »Lieber Dadaschi, mein lieber Bruder.« Diese Umarmung erinnert mich daran, wie der Judas den Jesus knutscht. Ich lass mich noch umarmen, und ich spür diesen Frustring. Ich sage dir, wenn der meine Haare gespürt hätte, dann wäre der weggesprungen, die waren aufgestellt wie ein Stachelpelz. Er fragt: »Was willst du trinken?« Diese großtuerische Geste. »Ich will nichts trinken.« – »Was ist denn? Dadaschi, was ist?« Da stell ich das Tonband an, er sitzt links von mir, und halt ihm das ans Ohr. Also, wenn du Bildhauer bist und da irgendwo rumkürbist im Gesicht: Dieser Mann, im Zuhören, die Gesichtsstruktur und im Verhalten, der zerfällt. Die Falten werden zu Tomahawkfalten. Das ist gigantisch. Und wie er dann versucht, nicht zu mir rüberzugucken. Er hört seinen Bruder mit dem Geständnis. Und der Pfeil ist in der Luft – na servus! Das ist mein Auftritt. Er kann mich nicht angucken. Ich seh nur – er ist natürlich auch ’n paar Tage älter als ich –, wie diese natürlich gewachsenen Falten zu Tomahawkfurchen werden. Dann das Aschgraue. »Das Wünschenswerte wäre, dass er neben mir noch verreckt«, denk ich, »vielleicht kriegt er noch ’nen Herzrhythmus-Anfall.« Ich hätte gesagt: »Guck mal, hier ist jemandem schlecht geworden.« Ich hätte neben ihm gewartet, bis irgend so ’n Blaulichtarsch kommt. »Der Pfeil ist in der Luft«, nun ist er unten auf dem Boden. »Bitte, bitte, Stefan, lass mich erklären.« Ich sag: »Wenn du jetzt noch wagst, mir halb schwul entgegenzukommen, und versuchst, mir was zu erklären, Lullah, dann bin ich bereit, dich hier zu töten. Verpiss dich zu deinem Auto, und ich lass mir noch was einfallen.« Er muss gehen, du kannst deine Luft nicht mehr mit ihm teilen: »Ich möchte nicht, dass du hier noch neben mir sitzt. Weil das, was ich dir hier gezeigt habe, das hat nichts mehr mit einem Verhalten zu tun, das ist eiserne Beherrschung.«
Lullah geht, und ich bewundere ihn, dass er die drei Stufen schafft. Er muss sich zur Orientierung mit der rechten Hand schlüpfrig an der Tresenstange zum Ausgang tasten. Das ist meine Genugtuung. Ich weiß nicht, wie man das beschreiben kann. Das ist wie bei Verliebten, die sich zufällig Silvester treffen, da mag so ein ähnlicher Gefühlsrausch entstehen wie bei mir in dem Moment, als er geht.
Ich hatte ’ne richtige Scheißhauskuhle ausgehoben, wo der so lange drin rumgewuchert hat, der Wichser. Das ist nicht nachvollziehbar. Wie der in so ’ner blumenreichen Sprache im Knast beim Backgammon großartig versucht hat, mir die besseren Seiten des Lebens zu erklären, wie er erzogen worden ist und was ich für ’ne beschissene Kindheit hatte. Und der macht so was mit mir.
Das war entsetzlich, Prinzessin. Ich hätte ihm gerne die Eier rausgerissen. Das war schon hart, du säufst ’ne Woche länger als normal. Ich war mit dem abgebrannten Laden in den Arsch gefickt, ich hatte 45000 Mark Getränkeschulden bei der Paulaner Brauerei, ich war der Bürge. Da war natürlich jede Perspektive affengeil.
Als ich dann in meinem neuen bürgerlichen Leben in ’ner ordentlichen Firma mit ’nem ordentlichen Gehalt zu arbeiten angefangen hab, da ist ’ne Lohnpfändung gekommen. Das ist der peinlichste Abstieg überhaupt gewesen. Ich sitz da bei meinem Chef, und es kommen zwei, drei Leute und wollen pfänden. Da bin ich erst mal wach geworden. Jetzt muss ich noch ’nen Freund anscheißen, dass ich zu meinem Geld komm. Der hat nicht für nötig gehalten, die Schulden zu regulieren. Natürlich bin ich gleich juristisch verfahren. Ich sag: »So sieht’s aus, ich schalte ’nen Anwalt ein.« Über den hat er dann die Schulden bezahlt.
Lullah hat ja alle ins Unglück gestürzt, auch unsere Bardame, die Pia, mit einem Kilo Kokain. Ihr sind die Kinder weggenommen worden, sie ist für fünf Jahre in den Knast gegangen. Er wollte ja immer aufs Große hinaus, toller Hahn. Wenn du ihn siehst, er ist voll so ’n Weibertyp. Er frisst kein Schweinefleisch, er ist ein Schwein.
Heute gehört ihm ein Edelpuff. Er hat ’ne blutjunge Tschechin geheiratet. Die leben gut.
Wir haben uns natürlich wiedergesehen, und ich hab einfach nicht mehr auf ihn reagiert. Hass ist was Klares, Liebe ist was Tödliches. Und ich hab Lullah mal geliebt. Die Phase, jemanden zu hassen, ist für mich nichts Fremdes. Sie macht dich reicher an Erfahrung. Guck mal, Prinzessin, ich sag das, und der liebe Gott bläst in meine Fenster. Ist das nicht verrückt? Danke dir, Großmutter. Das hat sie gemacht, mit Sicherheit, ich weiß das. Oder ich will, dass ich mir glaube.
Mein Laden weggebombt. Alles Scheiße. Da holt mich ein Mann raus, den ich vor ungefähr 20 Jahren kennen gelernt habe. Nennen wir ihn mal Holger, er gehört zur Gesellschaft, und vielleicht ist ihm die Verbindung zu mir öffentlich peinlich. Ich bin damals ins »Corner« gegangen, eine Discothek in Wandsbek. Da hat ein Typ mit ’ner Pulle im Eiseimer und zwei, drei Weibern um sich herum gesessen. Ich hab ihn gefragt: »Sag mal, sind das alles deine Mädels?« Ich war ja etwas ungestümer damals, heute bin ich sehr viel zurückhaltender. Irgendjemand hat ihm zugeraunt, wer ich bin. Ich hab meinen Spruch relativ ernst gemeint und ihn als Zuhälter angesprochen. Er hat das Beste draus gemacht und über meinen Auftritt gelacht. Das ist Holger.
Wenn sich zwei gleichaltrige Menschen begegnen, die ganz unterschiedlich sind, kann es vorkommen, dass sie sich anziehen. Das ist öfter so bei Rotlicht zu Schauspielern und Schauspielern zu Rotlicht. So ’ne Verbindung hat sich auch zwischen uns ergeben. Er: einer, der ein Altersheim geerbt hat, ich: einer, der von St. Pauli kommt.
Holger und ich haben uns dann ab und zu getroffen, ’n Tütchen miteinander geraucht, gesoffen zusammen. Nach dem Feuer sitzt er bei mir zu Hause und sagt, wie es so seine Art ist: »Stefan, hör mal zu, traust du dir zu, in mein Unternehmen einzusteigen?« Ich sag: »Du, ich trau mir eigentlich alles zu, für ’n Pfund Trinkgeld.« – »Ja, was brauchst du eigentlich, Stefan? Monatlich, um klarzukommen?« Ich lass mir ein bisschen Zeit und sag: »Was ich Minimum brauche, also das ist das Limit, ich brauch 5000 Mark netto jeden Monat. Das ist ganz klar.« Er akzeptiert.
Er hatte vor Jahren ein Altersheim geerbt, kräftig ausgebaut und hat nun die Idee entwickelt, für den ganzen Altenheimkomplex mit mir intern eine Reinigungsfirma aufzubauen. Erst mal ist es darauf hinausgelaufen, den externen Service von ’nem ehemaligen Boxer, der bei Holger sehr viel Geld abgegriffen hat, wieder aus der Partie zu boxen. Also aus reiner Nächstenliebe hat er mich nicht geholt.
Mein erster Tag ist in Holgers Art abgelaufen: Er holt mich ab im »Café Möller« am Ende der Reeperbahn, und ich fahr mit dem Chef von ’nem Sechzig-Millionen-Unternehmen in die Tiefgarage rein. Er stellt mich überall vor, ich lauf da ein bisschen hinterher, fühl mich saubeschissen, kein kaufmännisches Know-how, keine Ahnung, null. Na servus. Ich soll ’ne Reinigungsfirma machen. Das hat doch was, oder?
Natürlich hab ich ein Büro gekriegt. Ich bin als Einziger außerhalb dieses Büroclans untergebracht worden. Die Verwaltung hat sich in einem Büro im Eisenbahnabteil-Stil befunden, jeder hat öffentlich dagesessen, nur mit ’ner kleinen Trennwand zwischen sich und den anderen. Da hab ich gesagt: »Holger, das tust du mir nicht an. Ich setz mich nicht irgendwo da hin, da kann ich nicht zwei Tage leben.« Also ist für mich in einem anderen Block ein Büro in ’ner Altenwohnung eingerichtet worden: Betten und Tralala raus, Schreibtisch, Telefon, Faxgerät et cetera rein, wie sich alles gehört.
Auch einen eigenen Dienstwagen hab ich gekriegt und von dem gleich die Werbefolie für den sonnigen Altenpark an der Esso-Tankstelle abziehen lassen. Holger und ich haben darüber noch ’ne Aussprache gehabt. Ich sag: »Nee, da fahr ich nicht mit Streife. Ich wohn in ’nem anderen Viertel, und ich mach für dich da keine Reklame.« Das ist auch okay gewesen. Mein erster Dienstwagen: ein blauer Mercedes, ein altes Modell. Ich hab dann jedes zweite Jahr ’nen neuen gekriegt, in Rot, in Silber gehalten, dann ’n Esprit, tiefergelegt. Ja, vornehm geht die Welt zugrunde.
Um die Hütten sauber zu machen, braucht man jemanden, der davon Ahnung hat, und da bin ich der Letzte gewesen. Natürlich weiß ich, was sauber oder dreckig ist. Nur, das zu organisieren ist natürlich was anderes.
Erst mal hab ich mich über die Geräte zum Saubermachen orientiert, hab Kataloge studiert, hab die Vertreter kommen lassen. Herr Hentschel hat im grauen Anzug und Buttondown-Hemd in der Lobby empfangen. Bei der Größe des Auftrags kannst du dir ja vorstellen, was da für eine Nikolaus-Abteilung gekommen ist. Diese Taschenmesserknicker von Vertretern hab ich gründlich kennen gelernt. »Ja, ich brauche 40 Reinigungswagen und Staubsauger und alle Putzmittel.« Was diese Leute mir alles unter die Nase zu jubeln versucht haben. Selbstverständlich hab ich ’nen Preisvergleich gemacht und Klartext geredet: »Was nützt mir ein Staubsauger, der nur 14 Tage rumbläst? Ich will hier nicht laut werden in der Lobby. Wenn ich ’ne Menge Staubsauger kaufe, dann dürfen die nicht nach 14 Tagen den Geist aufgeben. Dann holst du die ganz schnell wieder ab. Wenn das zweimal passiert, dann holst du die wieder ab. Beim dritten Mal mach ich das nicht mehr mit: Dann holst du die alle ab. Die müssen erst mal ’n halbes Jahr schnurren.« Die haben die Beine zusammengefaltet. Bei dem Kursus für die Reinigungsleute, der sich über ’ne ganze Zeit ausdehnte, hab ich einen vernünftigen Vertreter gefunden, über den ist dann die Lieferung gekommen.
Die Reinigungsfrauen hab ich über das Arbeitsamt kommen lassen. Für jede Ablehnung hab ich eine Begründung schreiben müssen. Pünktlichkeit hat ’nen großen Stellenwert bei mir gehabt. Bei den Vorstellungsterminen von den Frauen hab ich mich natürlich genüsslich zurückgelehnt. Die haben an meinem Büro geklingelt. »Bitte nehmen Sie Platz.« Man gewinnt ja an diesen Herausforderungen. Allein in so ’nem Büro mit Zimmercharakter, mit Vorhängen, diesem schweren Schreibtisch und dem klotzigen Lederdrehsessel, da hast du ’ne ganz andere Aura. Ich bin dann cool gewesen, an den Kühlschrank gegangen: »Möchten Sie was trinken?«
Wenn jemand sich vorgestellt hat, dann ist die Abmachung über die Uhrzeit für mich wichtig gewesen. Eine, die vom Arbeitsamt geschickt wird, lass ich nicht erst um zwölf kommen, sondern um 7 Uhr 30 oder 8 Uhr 30. Ich bin extra früher ins Büro gekommen, obwohl offiziell die Dienstzeit erst um 9 Uhr angefangen hat. Wenn eine angekommen ist: »Ich muss gleich zum Arzt um halb elf, Herr Hentschel«, hab ich gesagt: »Da bleiben Sie dann mal. Arzt-hin-und-her-Gänger brauchen wir nicht. Ich hab ja Verständnis dafür, aber das lassen wir mal.« Im Endeffekt hab ich 41 Girls laufen gehabt, aus acht verschiedenen Nationen. Bei meiner Neigung zu Schwarzen natürlich Afrikanerinnen. Aber auch Polenfrauen, die sich zum Schlafen hingelegt haben, weil sie nachts irgendwo gestrippt haben und fertig waren. Die Türkenfrauen haben viele Probleme gehabt, weil sie zu Hause oft in die Fresse gekriegt haben. Die sind mit ihren Kopftüchern gekommen, und ich hab gesagt: »Selbstverständlich respektiere ich das, wenn das zu Ihrer Religion gehört.«
Ich hab auch einen Mann, einen Schwarzen, aus Mitleid eingestellt. Bis eine von den Frauen zu mir gekommen ist: »Herr Hentschel, ich muss mal mit Ihnen reden.« Ich sag: »Was ist denn los? Sie sehen so ängstlich aus.« – »Ja, der Herr Sowieso, der bedroht uns immer. Wir sollen seine Etage mit sauber machen.« Er ist Student gewesen, und der hat sofort die Lassoleine rumalbern lassen unter den Weibern als einziger Hahn. Die mussten die Scheißarbeit für ihn machen, die Mülleimer reinigen. Und eine hat den Mut gefasst und ist direkt zu mir gekommen. Ging Gong, und der ist raus gewesen.
Ich hab natürlich gleich Kittel verteilen lassen. Ich weiß ja, wie Frauen sind, wenn es um Kleider geht. Du musst sie an den weichen Sachen packen, damit sie mit dir arbeiten. Meine Frauen sind in pink-weiß gestreiften Kitteln mit Namensschildern rumgelaufen. Ich hab gesagt: »Ich möchte, dass mein Personal erkannt wird. Auffallen müssen Sie durch ’ne Sauberkeit, denn Sie machen ja hier sauber. Da fangen wir mal an mit dem Outfit.« Da hab ich ’nen Wind in die Frauengruppe reingebracht. Der ist dann durch die ganze Anlage gebraust.
Ich hab zu Holger gesagt: »Wie deine Schwestern hier rumrennen und ans kalte Büfett treten mit ihren Haaren, so will ich keines von meinen Streifenweibern rumlaufen sehen. Den Friseur würde ich verklagen.« Die Schwestern sollten sich dann meine pinkgestreifte Abteilung zum Vorbild nehmen.
Einen Altenkomplex sauber zu halten ist was anderes als die Reinigung einer Büroanlage. Alte Leute sind überwiegend hilflos, da geht mal ’n Sößchen vorbei, oder sie brauchen ’ne Gehhilfe und halten sich irgendwo fest, haben aber die Finger nicht sauber. So was hab ich sofort gesehen, wenn ich durch die Räume gelaufen bin in einer erlesenen Höflichkeit. Dann ruft man an oder macht piep piep und sagt der Oberreinigungsdame: »Schick mir mal zwei, die Tür vom Restaurant ist verklebt.« Durch mein Präsentsein hat sich das dann eingespielt. Es hat natürlich immer irgendwelche Störungen gegeben, und die Oberreinigungsschwester hat ’ner anderen gesagt: »Dann ruf doch den Herrn Hentschel an.« Zuerst hab ich natürlich einzeln mit denen geredet, das ist ganz wichtig. Du musst zwei Meinungen hören und eine dazu haben. Dann hab ich die beiden Streifenweiber zusammengesetzt und den Streit geschlichtet.
Wie ich mich gefühlt habe mit dem Job? Du machst das Beste draus, es ist ja wunderbar, du hast deinen Gehaltsscheck auf der Bank, du hast deine schwarze Braut zu Hause. Du hast ’ne Regelmäßigkeit, du fährst morgens weg. Nach 30 Jahren Nachtleben bin ich morgens aufgestanden. Ich hab ’nen ganz anderen Biorhythmus in mir gehabt. Ich hab mich ins Auto gesetzt und bin da rausgefahren. Manchmal ist das für mich katastrophal gewesen, der Regen, der Wischer hin und her, und ich hab gedacht: »Was mach ich hier überhaupt?« Trotzdem bin ich weitergefahren. Na ja, der Mensch ist ’n Gewohnheitstier, und dann hat man sich da eingeschossen.
Natürlich hat sich bei mir was verändert. Elemente duellieren sich. Du merkst im Hinterstübchen, dass manche von denen, die du mochtest, über dich reden: »Wollen mal sehen, wie lange er bei Holger aushält. Ich geb ihm vier Wochen.« – »Ich geb ihm zwei Monate.« Da ist gewettet worden. Mich hat das richtig motiviert, und ich bin wie ’n Pilzsammler geworden, der noch ’nen halben Korb voll machen will: »Leckt mich am Arsch, wettet euch blöde. I’ll never come back.«
Wenn ich dann wieder durch die Gassen von St. Pauli gehe, in denen ich 28 Jahre mein Fett verdient habe, ist das wie eine Amputation. An jeder Ecke werde ich fünfmal gegrüßt, jedem Portier muss ich die Hand geben. Hier ist das pralle Leben, aber ich bin nicht mehr hier, ich bin in ’ner Wartestation zum Tod.
Eine von den älteren Damen hat mich ein bisschen an meine Großmutter erinnert. Ihr silbernes Haar, ihre wasserblauen Augen. Sie war magerer, Omi hatte andere Ausmaße. Sie wohnte oben auf dem Flur, wo Holger sein Büro hatte, und sie ging immer nur im Flur auf und ab wie so ’n Tiger im Käfig. Natürlich mehr verhalten, step by step. Wenn ich sie dann sah, jeden Morgen, hakte ich sie immer ein und ermunterte sie: »Nun gehen Sie doch mal wieder an die frische Luft.« Dann guckte sie mich so an wie meine Großmutter.
Dass sie gestorben ist, hab ich mitgekriegt, weil sie nicht mehr auf dem Flur lief. Und ich hab nicht mehr morgens ihre wasserblauen Augen gehabt. Natürlich hat mich das tief berührt. Und wenn ich dann sehe, wie der Techniker lieblos ihr Namensschild rausangelt, wie er die zwei Schrauben aufbummelt. Schon wieder reserviert. Dann macht man sich schwere Gedanken.
Mich hat ihr Tod weggerissen. Ich bin zu Holger ins Büro gegangen und hab ganz wenig Verständnis gekriegt. Er kannte das natürlich aus seiner Welt. Wenn du als Kind in ein Altersheim reinwächst, dann sterben die Leute weg, wenn du im Fahrstuhl stehst und ein Toter fährt mit, und der Opa wird noch ausgezogen und kriegt ’nen Anzug angezogen, damit die Verwandten ihn nicht in ’ner Boxershorts sehen – also Holger hatte das hinter sich. Die Alten in dem Heim waren zu Nummern degradiert, mehr oder weniger. Es wurde wieder was frei, wieder ’ne Zahl weg. Das hab ich schwer gelernt.
Das war wie ein Paternostersystem. Der Tod hatte seine Regelmäßigkeit. Für ihn hatte man eine Einfahrt. Ein spezielles Blaulicht, wenn ein Toter durchkam. Es ist ja nicht dienlich für ältere Leute, wenn jemand abgeholt wird im Zinksarg. Man hat ja so seine Pietätsgründe. Und ich war nicht geneigt, in die halb offene Wunde des Altersheims reinzugucken, wenn wieder einmal der Kiefer runterklappt.
Ich hab trotzdem meine Beziehungen zu den alten Leuten nicht gekappt. Da gab’s einen wirklich eisenharten Hund, der saß im Rollstuhl und war oft bekleckert. Mit dem hatte ich mich angefreundet. Der hat dann immer am Eingang auf mich gewartet, ich weiß auch nicht, warum. Dem hab ich schon von weitem zugerufen: »Na, wie geht’s heute?« Dann hat er gesagt: »Besser war nicht auszuhalten.«
Ich bin ja meistens von Insassen angemacht worden, auch von Männern, das hat mir gefallen. Die haben gesagt: »Mensch, was haben Sie hier eigentlich für ’ne Funktion? Sie laufen immer so lachend durchs Gelände.« Da gab’s auch ältere Frauen, allein stehende, die waren drauf bedacht, dass ihre Wohnung in der Nähe meines Büros lag, weil sie mich dann ein bisschen beobachten konnten. Das brauchten sie, das hellte ’n bisschen auf. Und die Damen, die waren auch lebenslustig und erzählten mir viel. Ich hab da eben ein bisschen am Leben teilgenommen.
Loreen hat sich nie im Hamburger Milieu bewegt. »Tu mir ’nen Gefallen, so was geht gar nicht.« Das hab ich gleich abgehüstelt: »Ich mach den soliden Tiger da drüben im Altenpark, und dann passiert womöglich, dass dich einer aus der oberen Riege hier irgendwo pimpert, und bei ’ner Weihnachtsfeier im Betrieb gibt’s ein Zusammentreffen. Also, geh weiter auf Tournee, du bist ja flexibel, Madame.« Und das ist auch so gelaufen. Ich brauch den Leuten ja nicht erzählen, was meine Frau macht, die ist Hausfrau, ich verdien gut.
Loreen ist wirklich hausfraulich top gewesen. Mehr geht nicht. Sie hat wahnsinnig gut gekocht und nicht nur das. Ne Schwarze ist ja nicht wie ’ne Blonde morgens im Bett, die du abends mitgenommen hast. Ne Schwarze sieht noch genauso gut aus. Und ’ne Schwarze, egal aus welchem Teil Afrikas sie kommt, kannst du nachts wecken, wenn du Bock auf sie hast, und die sagt nicht: »Du, ich hab ’ne Migräne« oder »Das stört mich«. Die sagt höchstens ganz forsch: »Gut, du weißt ja, wo alles ist.« Die gibt dir noch Paroli, die knickt nicht ein im Bett. Die ist ganz anders erzogen worden. Da hat der Erziehungsberechtigte ihr schon als kleines Kind an die Stirn gehauen: »Greif da nicht noch mal an!« Bomm. Das hab ich ja auch von ihr erfahren dürfen. Ihre Jugend war knüppelhart. Und als wir das Lied von Bob Marley gehört haben, »No woman, no cry«, hab ich ihr erzählt, dass die übliche Deutung falsch ist: »Wenn du keine Alte hast, dann brauchst du dir auch kein Generve anhören.« Das Lied ist ein Trost für eine Frau, die weint über das Elend, was um sie herum ist, weint, weil sie das Kind nicht satt kriegt. Es heißt: »Nein, Mädchen, weine nicht.« Loreen hat das nicht gewusst, die guckt mich an und kriegt Augen mal zwei, die hat ja schon solche Atomdinger gehabt. Wenn ich Schickimicki in der Hütte gemacht hab, so wie ’n Eiskunstläufer und Pantomime, dann ist der ganze Raum hell geworden, so hat sie gelacht. Das ist schon faszinierend, wenn ’ne afrikanische Schnauze lacht.
Sie hat mich mit ihrem jugendlichen Übermut angesteckt. Sie ist ja 18 Jahre jünger als ich gewesen. Das hat sonst keine Probleme mit sich gebracht, nur dass sie gewollt hat, dass ich mit ihr immer die Popmusik-Sendungen im Fernsehen angucke: Nicht gerade mein Ding.
Loreen ist immer wieder mal 14 Tage weggeblieben. Zurückgekommen ist sie mal mit 3500 Mark, mal mit 4000, mal mit 2800. Sie ist dann so lange zu Hause geblieben, wie sie Bock gehabt hat. Einmal hat sie sich auch mit mir hingesetzt und gesagt: »Ich brauch 1500 Mark im Monat, dann hör ich auf.« Ich hab gesagt: »Pass auf, den Abstrich brauch ich nicht auf meinem Konto.«
Aber ich hab ihr meine Kreditkarte gegeben und meine Pin-Nummer, und plötzlich hab ich 20 000 Mark Disposchulden gehabt durch die Dame. Ich bin ein Rindvieh gewesen. Trotz geformten oder profihaften Verhaltens. Ich hab irgendwie ’ne ehrliche Nähe gebraucht. Du siehst ja, da hab ich wieder in die Scheiße gegriffen und das gemerkt, als der Oberfuzzi von der Bank anruft: »Herr Hentschel, wir haben Ihre Karte eingezogen. Ihr Dispo ist jetzt zu Ende.« – »Ja«, sag ich und sitz senkrecht in meinem Präsidentensessel, »recht vielen Dank, hat sich erledigt.« Dann hab ich aufgelegt. Der kleenen Schwarzen hab ich dann Angst machen wollen und bin ihr entgegengerannt. Die hat mich angeguckt: »Was willst du eigentlich? Ich hab dir zwei Sakkos gekauft. Und was ist dahinten? Da haben wir neue Gartenmöbel.« Ich hatte sie nicht gefragt, woher das Geld dafür gekommen war, komischerweise. Okay, das Thema war dann für mich erledigt, obwohl sie die volle Summe nicht erklären konnte. Ich geb jedenfalls meine Karte nicht mehr aus den Patschehändchen, egal, wer jetzt kommt, auch wenn da eine vom Himmel kommt. Meiner Großmutter würde ich sie geben, gar kein Thema.
Loreen hat ’ne Zeit lang vor Publikum getanzt beim Table Dance. Das hat sie affengeil gemacht. Dann hat’s ’ne Zeit gegeben, in der wir auf Kokain abgefahren und bis morgens wach geblieben sind. Einmal sind wir nachts so scharf auf das weiße Pulver gewesen, dass ich mir nicht mal Klamotten angezogen habe, nur mit ’nem Trenchcoat wie ein Exhibitionist rüber auf die andere Straßenseite gegangen bin und den Revierdealer rausgeklingelt hab. Loreen hat sich umgezogen, die beiden Spiegel aufgestellt, und wir haben Rollenspiele gemacht. Sie ist von draußen gekommen, noch mal frisch angezogen, und hat sich bei mir vorgestellt: »Ich finde keine Wohnung« oder »Ich möchte hier sauber machen.« Oder sie hat im Rollenspiel die Naive gegeben: »Darf ich das weiße Zeug auch mal probieren?« Dann haben wir Anfassen gespielt oder die Augen verbunden oder die Schamhaare rasiert. Mit ihr ist exemplarisch fünf Jahre die Bombe geplatzt. Das ist faszinierend gewesen. Bis ich gemerkt habe: Irgendwas ist anders geworden.
Vielleicht hab ich die Schiene vom Büro zu Hause nicht verlassen und mich zu stark mit meinen Angelegenheiten beschäftigt, nicht mehr darauf geachtet, wie sie sich kleidet, oder ihr nicht genug Interesse entgegengebracht und sie eben nur noch behandelt. Vielleicht hat auch ihre früher gestellte Frage zwischen uns gestanden: »Ich krieg 1500 von dir, dann hast du ein schönes Zuhause.« Und ich hör mich, wie ich in meiner abgefuckten Ludenart sag: »Hey, hey, entspann dich mal wieder.« Da hab ich was Dummes gesagt. Da hätte ich mal abwägen sollen. Sie wollte ja aufhören, außer wenn sie mal wieder ’nen Drive hat. Bei Huren ist das so. Da wächst wieder irgendwas durch die Monotonie, wenn sie immer wieder denselben Kerl auf der Couch sehen.
Vielleicht hätte sie ja auch keine Fluchtgedanken gekriegt, wenn ich mich gut genug um sie gekümmert hätte. Ich bin doch ihr Traummann gewesen. Und ich hab nicht kapiert, was ich an ihr hatte: an ihrem Lachen, das im Raum leuchtet, auch wenn kein Licht brennt, an ihrem Temperament wie ’ne doppelläufige Schrotflinte, das jede Langeweile im Alltag vertreibt und im Sex einen Kick nach dem anderen bringt, abgesehen von den Köstlichkeiten ihrer karibischen Küche. Ich hab das alles nicht respektiert, hab sie nicht so geachtet, wie sie es verdient hätte, hab ihr nicht zugehört. Dabei hat sie was zu sagen gehabt, hat viel gelesen und sich weitergebildet. Verdammt, das ist doch viel mehr wert gewesen als die 1500 Mark, das Geld ist doch da gewesen, und ich verspiel die Chance mit Loreen.
An unserem letzten guten Tag hat sie, wie immer, schön Winkewinke gemacht, als ich ins Büro gefahren bin, und ich hab gehupt beim Einparken, wie immer, wenn ich wieder nach Hause gekommen bin. Ich mach die Tür auf und hab ihr karibisches Essen gerochen. Das läuft dir doch runter wie Marzipan, das hat doch gepasst. Und abends die Leibchen übergestülpt und die Nummer ausgesucht: »Was spielen wir denn?« Und dann noch den Schleier Koks drübergelegt. Wir haben uns vierzehn Stunden platt gemacht, dass mein Schwanz ausgesehen hat wie ’n Lippenstift. Das hat gepasst, aber irgendwo ist dann mal Ende, du kannst dich nur noch mit Scheiße bewerten, Steigerung null. Ich hab ’ne Ruhephase gebraucht, mich zurückgebettet, und als ich wieder zu mir komme, ist Loreen weg. Wir haben vierzehn Stunden rumgemacht, und die ist nicht mehr da. Nach Tagen kommt sie wieder. Ich hab mich unten im Keller eingeschlossen, und sie singt durch die Tür: »Komm, nun mach auf, ich möcht dir einen blasen.« Ich reiß die Tür auf: »Was willst du? Woher kommst du?« Und lass mir einen blasen. Aber ich hab diesen Dolch im Body gehabt, dass sie, als ich gepennt hab, abgehauen war, und ich hab mich wieder breitschlagen lassen, weil wir natürlich sexuell okay drauf gewesen sind.
Und dann ist sie wieder weg. Sie hat nichts mitgenommen, nur das, was sie am Leib hatte. Die war weg, und der Hund hat rumgequiekt. Ich hab mich morgens fertig gemacht und gesagt: »Sparkie, ich lass den Garten hinten auf. Sie ist wieder auf Tournee. Die wird schon irgendwann besoffen auftauchen.« Ich komm abends wieder, der Hund rennt mir entgegen – es ist niemand aufgetaucht. Wir waren fünf Jahre zusammen. Sie kam nicht wieder, ob du’s glaubst oder nicht, Prinzessin, die war weg. Ich hab den Hund am Arsch, die Schränke voll wie in ’ner Boutique 2000, die hat so viele Klamotten gehabt. Sie war ja Tänzerin und sah bildhübsch aus. Ich hab sie nur noch auf Bildern gehabt.
Ich sitze in ’ner Kneipe, im »Utspann« an der Talstraße, ein Vierteljahr später, da kommt sie rein. Kommt rein mit ’nem fast freundlichen Gesicht. Ich habe so getan, als wäre sie mir fremd, gänzlich fremd. Ich habe keine Anstalten zu Vorwürfen gemacht. Sie albert im Umfeld rum, und ich verschanz mich in mir. Ne groteske Situation. Nach ’nem Vierteljahr taucht die auf. Sie boxt den Wirt in die Seite: »Na, warum bist du denn so schlecht drauf?« Ich weiß nicht, wie ich ausgesehen hab, als ich da oben auf der Eckbank gesessen hab, was für ’ne Gesichtsmimik ich gezeigt hab. Ich seh noch ihr fröhliches Gesicht vor mir. Der Handlungsbedarf hat auf ihrer Seite gelegen. Ich hab kein Wort gesagt. Dann ist sie wieder gegangen.
Nach diesem Auftritt, als sie wie ’n Lichtbild reingefunkt ist in die Kneipe und wirklich spaßig drauf gewesen ist, hab ich noch mal drei Monate gewartet, bis ich Sparkie, ihren Hund, weggegeben hab. Bevor ich mich dazu entschlossen hab, musste ich ihn ins Büro mitnehmen, da war der beliebt, die Schwestern warteten auf ihn mit Leckerbissen. Natürlich war das ’ne Clownnummer, Herr Hentschel kam mit ’nem Hündchen. Und was für einem. Sparkie war wohlerzogen, gehörte aber ’ner Rasse an, die als gefährlich verschrien war. Manche hatten Angst vor ihm. »Das brauchen Sie nicht zu haben, gnädige Frau.« Dieses ganze Gesülze ging auf die Dauer nicht. Ein Altersheim war kein guter Platz für einen Hund. Über den Wirt vom »Utspann« hörte ich von einem Bauernhof in der ehemaligen DDR: »Der hat’s da gut.« Da hab ich Sparkie hingebracht. Es hat mir wehgetan, ihn zurückzulassen. Aber er hat’s da besser als hier.
Nach ’ner geraumen Zeit hab ich einen Anruf von der bewussten Dame gekriegt: »Ich möchte meine Sachen abholen.« Meine Stimme ist sofort wieder belegt gewesen: »Wann kommst du?« Ich bin zu Budnikowski und hab mir 20 oder 30 Müllsäcke geholt. Da hab ich ihre ganzen Klamotten reingesteckt. Nicht beschädigt oder zerrissen aus Eifersucht, alles in saubere Müllbeutel rein. Drei Uhr war abgemacht, und um drei haben draußen vor der Tür 15,20 Müllbeutel mit ihren Sachen gestanden. Und zum Kompott hab ich mir die Hundeleine aufbewahrt.
Ein Möbelwagen fährt vor, Loreen kommt vom Bock runtergesprungen. Der Driver sieht mich und bleibt sitzen. Er lässt nur hinten die Ladefläche runterfahren, so ein Alugehäuse mit Blinklicht. Sie muss die Säcke ganz allein hochwuchten, der Fahrer hilft ihr noch nicht mal. Er fährt nur die Ladefläche immer rauf und runter, aber er erklärt sich nicht mit der Sache solidarisch. Der sieht aus wie ein relativ guter, stabiler Junge; Möbelwagen fahren ja keine Hungerhaken. Über der ganzen Szene liegt ’ne gigantische Spannung. Ich steh im Türrahmen und sag: »Hier, deine Sachen, das ist alles in blau gehalten, du hast ja nichts mit den Augen, das gehört alles dir. Und was ganz wichtig ist…« Und ich geh hin zu dem Möbelwagen und knall die Hundeleine mit diesem Kombischloss auf die Ladefläche, der Hund ist ja nicht dran.
Irgendwann hab ich einen schönen Brief von ihr gekriegt, dass sie mit mir keine Zukunft sieht und ihre Entscheidung richtig gewesen ist. Sie lebt jetzt bei ihrer Familie in Birmingham. Dann hat sie mir noch mal zum Geburtstag mit einer witzigen Karte gratuliert. Ich hab in meiner Küche noch heute alles das, was sie aufgehängt hat. Ihr Herkunftsland Jamaika in Holz geschnitzt und Fotos von außergewöhnlichen Hunden.
Ich denke gern an Loreen, die Wunderschöne. Manchmal stelle ich mir vor, dass sie zur Tür reinkommt und ihr Lachen leuchtet in meiner Hütte. Nein, ich würde nicht versuchen, sie zurückzuholen, ich bin kein Wiederholungstäter. Aber die Sehnsucht nach ihr ist geblieben, nach all den Jahren, eine Sehnsucht nach einem Wunder, aber man weiß, dass es nicht kommt.
Ich hab dann ein paar Jahre allein gelebt. Die Fickerei brauchte mich niemand lehren und das Essenkochen auch nicht. Tiefer als ich kannst du gar nicht in die Kacke fallen. Ich hab mich an meinem Job festgehalten und nicht das geringste Bedürfnis nach einem gemeinsamen Aufwachen mit ’ner Frau gehabt. Bis eben doch wieder was passiert ist.
Ich sitz in meinem Auto und seh auf der Straße ’ne tolle Frau stehen. Ich kenn sie aus der Zeit meiner Trennungsscheiße mit Lilo. Damals hatten wir ein paar Tage zusammen verbracht, viel Geld verbraten und viel gesoffen. Ich war dann so pleite, dass ich nicht wusste, wie ich meine Miete bezahlen soll. Ich saß entnervt beim Italiener, und da kam sie, Fathia, und legte mir vier verschiedene Paar Handschuhe hin, nicht die, die man anzieht, wenn man friert, sondern elegante Handschuhe, Glace oder so ’ne Jauche, in bunten Farben. Verbal rotzte ich ihr hin: »Ich weiß nicht, wie ich meine Miete bezahlen soll, und du führst mir hier diese Onanierpfoten vor.« Da war zwischen uns alles wieder gelaufen, da hatte man keinen Spaß mehr, zusammen zu essen. Also, ich war schon sehr unangenehm und vielleicht auch nicht gerecht. 14 Jahre war das her.
Fathia. Jetzt steht sie auf der Straße, wir sehen uns und wir lachen, wir lachen, wir lachen. Ich denk: »Wenn du jetzt nicht aussteigst, läuft sie wieder vorbei.« Ich bin ausgestiegen: »Darf ich mich vorstellen, mein Name ist Stefan Hentschel.« Wir haben gelacht, Küsschen links, Küsschen rechts. »Ja, ich würde dich gern zum Essen einladen.« Diese ganze Standardlauge. Und trotzdem bin ich hibbelig gewesen, weil sie mir so gefallen hat, derart hibbelig, dass ich erst mal die falsche Nummer aufgeschrieben hab. Also gleich zu Anfang ein Missverständnis.
Dann haben wir uns wiedergetroffen und sind zum Essen gegangen, vornehm in Blankenese. Ich hab abgekürt, Werbewoche, du ziehst dir ’ne andere Minelle an, also ’ne andere Klamotte. Sie hat ’ne Jacke für sechs Mille angehabt und erzählt, dass sie gerade aus dem Urlaub zurückgekommen ist: Acapulco, Florida, fünf Sterne.
Nach der blutjungen Loreen hab ich Fathia als ausgereifte Frau genossen. Sie hatte schon alles Mögliche gemacht und viel auf den Kopf gekriegt. Sie war mal Kellnerin im. »Bistro«, Türsteherm in Nobeldiscotheken und Managerin von einem Swingerclub. Als Hure war sie in der Herbertstraße, aber auch in Marbella, überall da, was gerade angesagt war. Sie spricht ja vier Sprachen. Fathia liebt die Straße, die Unabhängigkeit – und den Luxus, ein Star zu sein, jeden Tag, jede Nacht gekürt von niemand anderem als sich selbst. Dass sie schon 20, vielleicht auch 25 Jahre im Milieu war, hat man ihr nicht angesehen. Sie hat ein fein geschnittenes Gesicht, fast edle Züge und ein fantastisches Olivbraun als Hautfarbe. Sie hat arabisches Blut in sich vom Vater und von der italienischen Mutter die südländische Lebendigkeit.
Sie ist dann bald bei mir eingezogen, den Umzug hab ich ihr arrangiert und ’nen LKW gemietet. Vorher hab ich die Wohnung renovieren lassen: Die Eichenvertäfelung in mattem Elfenbein, die Wände mit ’nem Hauch Apricot marmoriert, weiße Sofas, Glastisch, alles hell und luftig. Fathia hat dann ihre ganzen Accessoires reingebracht, Versace-Geschirr und solch teuren Schnickschnack. Und Berge von Klamotten, gucciweise Lederjacken, vielleicht 50 Paar Schuhe, 15 Sonnenbrillen, Gucci und so. Klar, dieser Markenfetischismus ist nicht mein Turnschuh gewesen, überhaupt nicht. Irgendwann hat sie mal gesagt: »Ich hab von Joop ’nen tollen Ring gesehen.« Ja gut, den hat sie gekriegt, und ich hab mich damit auch ein bisschen wohl gefühlt. Aber ihre Ansprüche haben Maße angenommen, ein bisschen too much. Dass ihre beiden Malteser-Hündchen mit ins Bett kommen, wie sie es gewohnt war, ist bei mir nicht gegangen. Da bin ich hart geblieben: »Ins Bett kommt mir kein Hund, nicht ums Verrecken.« Püppi und Tammy haben ein großes Seidenkissen auf dem Fußboden an ihrer Bettseite bekommen.
Wir sind auch zweimal im Urlaub gewesen, einmal in Alicante vom Feinsten, in ’ner Villa mit eigenem Pool, dann auf Fuerteventura. Da sind wir zu den gleichen Orten und Stränden gefahren, wo wir früher mit anderen Partnern waren: ein wirklich schöner Urlaub.
Fathia hat sich als Domina spezialisiert. Das hat zu ihrem Alter gepasst. Eine Domina wird man erst, wenn man als richtige Frau die Schwächen der Männer kennt. Wenn du im 18. Lebensjahr bist und mit einigem Selbstbewusstsein in ’nem Puff anfängst, wächst dir doch nicht gleich der Grundgedanke: »So, ich zieh mir jetzt ’n Korsett an und straf da Kerlchen ab.« Das braucht doch seine Zeit, bis du dahin kommst. Dann guckst du mal zu, wie das ’ne Kollegin macht, du wächst da rein, das gefällt dir. Wenn du sowieso viel Erfolg hast bei den Männern und zeigst ihnen deine auserlesenen Schuhe, und die lassen sich gefallen, dass sich ihnen der Stöckelschuh bis zum Schnatterzapfen reinbohrt, weil sie Schuhfetischisten sind – dann wächst auch in dir eine Raffinesse, eine Lust auf delikate Situationen und ein Verlangen nach Befriedigung deiner untergründigen Machtinstinkte. Wenn du das dann austobst, die Mose in Leder gehalten, auch noch ’n Reißverschluss, stößt du auf das Potenzial der Männer: Die werden unglaublich aufgegeilt. Und diese Männer unterjochen vielleicht 400 Angestellte, wenn sie keine Friedhofsgärtner sind.
Von einer Domina profitierst du ja als Mann, als Partner, aber du erfährst auch viel Negatives. Du kriegst ihre Spannungen ultrabrutal zu spüren. Wenn eine Frau 20, 25 Jahre in diesem Gewerbe ist, hat sie schon Ausraster. Sie trinkt, sie schreit sinnlos. Dann musst du das eben als Folge ihrer Lebensart einordnen, du kannst nicht mehr auf die Frau einhämmern, so wie man das als Zwanzigjähriger gemacht hat. Das geht nicht, das geht wirklich nicht. Du musst eine höhere Form von Verständnis finden, dich selbst erkennen und begreifen, dass jeder seinen eigentlichen Weg geht, und wir gucken mal, was draus wird. So ist das.
Mein Weg ist dahin gegangen, dass sich meine Zeit im Altersheim dem Ende zugeneigt hat. Ich hab das mit meiner Witterung schon im Vorfeld gespürt. Als in unserem Land so manche Dinge abwärts gerutscht sind, hat sich das auch in Holgers Betrieb bemerkbar gemacht. Die Geldgeberseite hat ihm einen Sanierer reingesetzt. Der hat mich durch seine randlose Brille angeguckt und ist sofort gegen mich gewesen. Das hab ich vom ersten Moment an gemerkt.
Zur Kündigung nach neun Jahren hat mich Holger ins Restaurant eingeladen und gesagt: »Mir sind die Hände gebunden.« Geil. Ich bin aufgestanden vom Esstisch und hab gesagt: »Lieber Holger, ich hab noch ’nen Jahresurlaub. Und dann noch ’ne weitere Gehaltszahlung, und ich werde mich bei dir melden.« Und das Ding zwischen uns ist out. Nach dreißig Jahren.
Als ich noch mal zu Holger hingemusst hab, ist er so ängstlich gewesen, dass er zwei von seinen Sicherheitsleuten im Vorzimmer hat warten lassen. Also in der Art: »Hentschel soll hier nicht durchdrehen.« So wie es damals in der Zeitung stand, nachdem mein Hund erschossen worden war.
Mein Zeug hab ich dort gelassen, auch unser gemeinsames Foto, seine Geschenke. Ich hab nur das Nötigste mitgenommen, so viel, dass es in meine Hosentasche gepasst hat. Ich hab in diese Wartestation zum Tod ein menschliches Potenzial und eine geistige Wärme reingealbert. Ich glaub schon, dass viele ältere Menschen mich dort vermisst haben.
Nach ’ner Zeit hab ich mich beim Arbeitsamt melden müssen. Ich hab ’nen Anzug angezogen, naturellement, von Louis Vuitton diese flache Tasche mitgenommen und hab da abgekürt. Der Weg da rein in diese Burg der Niederlagen, den kann ich dir gar nicht beschreiben. Mit dem Fahrstuhl hoch, dritte Etage, dann so ’n Kärtchen ziehen wie auf dem Verkehrsamt und warten mit der erbarmungslosen Angst, dass dich jemand vom Kiez erkennt. So wie auf dem Arbeitsamt hab ich mich noch nie gefühlt, Prinzessin: wie auf ’ner Plattform der Verlorenen. Gott sei Dank hab ich, als meine Nummer dran ist, ’ne Dame am Schreibtisch. Das Büro bewohnt von einer Beamtenseele. Ich bleib stehen, weil ich keinen Platz angeboten kriege mit meiner Mappe, so wie Pfeiffer mit drei F aus der Feuerzangenbowle. Dann sagt sie endlich: »Bitte nehmen Sie Platz.« Ich setz mich hin. Sie sieht mein Zeugnis als Chef von 41 Angestellten, die größte Schmuseabteilung. Aber was nützt mir das? Sie sagt: »Für die offenen Stellen, die ich hab, sind Sie überqualifiziert.« Soll ich Suppenkasper mir darauf ein Ei backen? Ich komm raus, atme durch, endlich tief durch nach der Beklemmung und hab wieder ein Lungenvolumen von sieben Litern. Mich treibt es sofort in den Boxkeller. Da dresch ich stundenlang auf den Sandsack.
Macht macht erotisch, Prinzessin. Auch wenn’s nur ’ne kleine Macht über ’ne pink-weiße Streifenliga ist. Die habe ich ja nun nicht mehr gehabt.
Nachdem ich meinen Sesselfurzerposten verloren hatte, bin ich bei Fathia abgestürzt als der Zampano, der vorher sagen konnte: »Lass uns groß essen gehen.« Und das musst du ganz schnell wegstecken, auch wenn es dir wehtut. Du weißt ja erst mal nicht, wie es weitergeht.
Da ist, denke ich, bei Fathia die Selbsterhaltung durchgeschlagen. Und sie ist wirklich flexibel. Hört ins Leben rein: in Holland null Arbeitslosigkeit, ab halb fünf die Puffstraße voll wie früher die Hamburger Mönckebergstraße beim Sommerschlussverkauf.
Fathia ist als Domina nach Amsterdam gegangen und hat da großen Erfolg. Die meisten Accessoires hat sie aus meiner Wohnung mitgenommen. Aber die neue Kahlheit steht meiner Hütte gut. Obwohl sie schon Berge von Schuhen mitgenommen hat, stehen in meinem Keller noch mindestens 20 Paar von ihr. Auch ein Dutzend Sonnenbrillen ist noch da und ein Vermögen an Lederjacken.
Ich hab mit ihr wirklich ein Jahr und zehn Monate in der klassischen Form erfahren dürfen.
Wie es weitergeht? Ich muss in gewissen Abständen ins Arbeitsamt latschen und mit meiner Art und Weise nur das Beste draus machen, das ist verrückt.
Was beruflich mein Lebenstraum wäre? Ich würde gern Jungs von der Straße holen und sportlich trainieren, auch anleiten, dass sie nicht ins Rotlichtmilieu rutschen und schon gar nicht in die Kriminalität. Ich brauch keinen Luxus, nur meine Miete und das Nötigste zum Leben. Und wenn ich leben muss wie Gandhi, das wäre mir scheißegal, ich hab ja alles gehabt, schnelle Autos, teure Klamotten, weite Reisen. Am liebsten würde ich in Afrika Kids aus sozialen Sümpfen rausholen, weil ich das schwarze Lachen so mag. Dann brauchte ich nur ’ne Hütte und meine Verpflegung. Aber wer nimmt schon einen Mittfünfziger für ein soziales Projekt, noch dazu im Ausland. Ich würde auch sonst im organisatorischen Bereich jede Herausforderung annehmen. Aber wie das heute so ist auf dem Arbeitsmarkt, da prasseln die Stellenangebote nicht rein. Totenstille in der Nachfrage nach mir.
Wie ich meine Tage rumbringe, seit ich arbeitslos bin? Ich halte meinen Haushalt in Ordnung, dafür brauche ich keine Putzfrau. Du weißt ja, Prinzessin, wie viel Wert ich auf Sauberkeit lege. Hier wirst du kein Stäubchen finden. Gerade hab ich eine Trommel Buntes drin.
Jeden Tag um zwei Uhr gehe ich in den Keller der »Ritze« zum Boxtraining, bis nach vier. Ich bin topfit wie ’n Turnschuh.
Und nun lach nicht, Prinzessin, du siehst meine Zettel hier liegen. Ich schreib Gedichte. Ob du sie mal lesen darfst? Vielleicht, aber nicht jetzt. Ich hab sie noch niemandem gezeigt.