Wo sind sie geblieben?

Was aus meinen Freunden, Feinden und Frauen geworden ist?

Ditschi, der allerbeste Freund meines Lebens, hat nach seiner Strandung im Hotel »Amber« kein Land mehr in Hamburg gesehen. Er ist mit seiner Frau nach Berlin gegangen. Sie hat dort weiter angeschafft, und er hat ’nen soliden Zweig in der Baubranche aufgebaut. Berlin ist ja mal die größte Baustelle Europas gewesen. Zuerst hat er mit seinem Geschäft, drei Leute, richtig Umsatz gemacht. Als Musiktalent ist er auch mit ’ner eigenen Gruppe aufgetreten. Aber nach ’ner Zeit hat’s ’ne Stagnation gegeben – Bauende, Stopp. Na ja, da ist er wieder in die Scheiße reingefallen und hat sich mit seiner Musik über Wasser gehalten. Zum Kompott hat er mit der Wirtin von der Kneipe in seiner Wohnstraße was gehabt, die hatte sich ’n bisschen in Ditschi verguckt. Da hat er Stress mit seiner Frau gekriegt. Er hat vor ihr gestanden und sich das Hemd zerrissen, die Knöpfe sind wie Geschosse durch die Gegend geflogen: »Gib mich endlich frei!« Nach dem Krach ist er in die Stube gegangen, in der das fest installierte Telefon gestanden hat. Von da muss er mich angerufen haben. Seine Frau ist, wie so oft, wenn er ausgerastet war, zum Pennen gegangen. Sie hat sich morgens gewundert, dass Ditschi nicht im Bett neben ihr lag. Er hat in der Stube gelegen. Tot. Herzinfarkt.

Am nächsten Tag hab ich in meinem Büro auf dem Anrufbeantworter ein Hecheln gehört. Kein Wort. Er hat ganz, ganz schwer geatmet. Das hat ungefähr sieben Minuten gedauert, das kleine Band ist zur Hälfte in Anspruch genommen worden. Aber ich hab Ditschi am Atmen erkannt. Seine Frau hat mich nach seinem Tod besucht und mir von seiner letzten Nacht berichtet. Und sie hat mir bestätigt, dass auf dem Band zweifellos Ditschis Atemzüge aufgezeichnet worden sind. Dass er seine letzten Gedanken an mich gerichtet hat – das berührt mich bis heute.

Ein Jahr nach Ditschis Tod hat mich seine Tochter gebeten, als Vertreter für ihren Vater zu ihrer Hochzeit zu kommen. Ist mir eine Ehre gewesen. Sie hat ganz in Weiß in der Zwiebelkirche geheiratet, in der ich zufällig konfirmiert wurde.

Mein Freund Axel ist mehrfacher Millionär geworden. Er hat das »Relax«, den Edelpuff in St. Georg, bis zuletzt erfolgreich geführt. Und nicht nur das: Er hat auf Mallorca sieben Eigentumswohnungen gebaut und sich ’ne 21 Meter lange Segeljacht zugelegt. Mit der ist er zwischen Mallorca und der Karibik hin und her geschippert, das ist immer sein Törn gewesen.

Zuletzt haben wir uns im »Café Möller« verabredet. Axel, der immer kugelrund war, hat elend und abgemagert ausgesehen, aber er ist locker drauf gewesen. Er hat seinen Zustand verdrängt, indem er ihn gutgeredet und sich kein bisschen eingegraben hat. Ich hab vom Ende meiner beruflichen Existenz erzählt, und da hat er gesagt: »Mach dir mal keinen Kopf, du kommst mich besuchen.«

Als er in der Karibik rumgeschippert ist, hat ihn sein Arzt blitzschnell zurückbeordert. Die Werte hatten ergeben, dass Metastasen durch seine Blutbahnen rasen: Lymphdrüsenkrebs. Basta. Er ist keine 50 Jahre alt geworden.

Meine Feinde sind nicht meine Feinde, denn ich hab sie nicht als Feinde ausgesucht. Sie haben mich mit der extremsten Seite des Lebens konfrontiert: mit Mord. Dass mein bester Freund Waldi in meinem Haus erschossen wurde, war ja auch für mich ’ne Art Geburt, verdammt noch mal. Ich bin ein anderer geworden, reingeballert in ’ne Situation, die überhaupt nicht meinem Naturell entspricht.

Ringo, der Boss der anderen Seite, hat nur kurz im Knast gesessen. Dass er irgendwelche Fäden bei den Kiez-Morden gezogen hatte, ist nie bewiesen worden. Im Milieu von St. Pauli hat es ja immer ein Gesetz des Schweigens gegeben, wie die Omertá bei der Mafia. Nach der Haft hat sich Ringo nach Ibiza verzogen. Er hat da ’ne Kneipe und geht wer weiß welchen Geschäften nach.

Dillo, der die Idee hatte, mich an die Pitbulls zu verfüttern, damit keine Rückstände bleiben, hat auch auf Ibiza einen relativ gut gehenden Laden, wie ich gehört hab. Ich werd mal irgendwann ’nen Drink bei ihm nehmen.

Dem Wiener Peter hat Mucki Pinzners Geständnis »lebenslänglich« gebracht. Aus Santa Fu hab ich gehört, dass er da die Knastbibliothek geführt hat. Irgendwann ist er Freigänger geworden.

Ich komm rein ins »Utspann« in der Talstraße, komm da rein wie immer, in meinem Gang, und weiß um die Beschaffenheit des Ladens, weiß, dass man die Leute, die hinten sitzen, erst mal nicht sieht. Ich komm da rein aus der Sonne, und als er zwei Meter vor mir ist, seh ich diese Kalkleiste an der Bar sitzen. Dass Harry, der hinterm Tresen arbeitet, mich begrüßt, muss für ihn wie ’ne Zangengeburt sein. Bingo. Ich denk, er denkt, ich mach ihn jetzt platt. Aber er kommt mir mit dem Patschhändchen zuerst entgegen. Ich sag: »Hallo, Peter.« In dem Moment ist er fix und foxi, wie ich merke. Hier hat er mich nun garantiert nicht vermutet und ich ihn auch nicht, mit Sicherheit nicht. Ich geb ihm nicht die Hand, um Gottes willen, ich nehm ihn einfach nur zur Kenntnis und denk: »Ach ja, das ist der Wiener Peter. Hast zehn oder zwölf Sterne von deiner Strafe abgerissen, und jetzt sitzt du hier und wartest auf deine Abschiebung nach Österreich, wo du hergekommen bist.«

Wenn ich ihn gesehen hab, schon früher, hätte ich ihn immer erschlagen können. Da geht der Puls hoch, da kommen die Adern raus wie Kompressorschläuche am Hals, aber da musst du deine Gefühle, wie der Asiate sagt, im Griff haben. Das ist wichtig. Und so hab ich immer reagiert, bis zum heutigen Tag. Ob ich ihm gerne eine reingeschlagen hätte? Das hätte mich nicht befriedigt, Prinzessin. Das unterliegt einem ganz anderen Modus, was ich da gemacht hätte, wenn ich mich zu was hätte hinreißen lassen. Ihm mit ’ner Faust ins Gesicht zu boxen, wäre zu läppisch für das, was passiert ist. Also, da wäre was anderes geschehen, wenn ich mich zum Handeln bereit erklärt hätte. Ich bin dann aus der Kneipe rausgegangen. Die gemeinsame Luft hab ich bewusst nicht mehr eingeatmet.

Lebenslänglich geht eben auch mal zu Ende, und als seine Zeit im Gefängnis vorbei gewesen ist, hat er Deutschlandverbot gekriegt. Und wo ist er gestrandet? Natürlich auf Ibiza. Das Bermuda-Dreieck, sag ich immer.

Was aus meinen Frauen geworden ist?

Reni hab ich mal rechts von mir im Auto gesehen. Ich hab sie sofort erkannt, aber ich weiß nicht, ob sie mich erkannt hat. Sie hat immer noch diese Aura von Eleganz gehabt. Neben ihr hat ein Mann gesessen, der Croupier, der zwei Kinder in die Ehe mitgebracht hat, davon gehe ich aus, wenn es nicht ’n Neuer gewesen ist. Ich hab auch mal ’ne Frau getroffen, die früher im »Chérie« gearbeitet hat und auch solide geworden ist. Die hat gesagt, Reni geht’s wunderbar. Sie hat ein Nagelstudio, ist immer noch verheiratet und friedlich.

Portugiesen-Josefa seh ich ab und zu mal beim Einkaufen auf St. Pauli, bei Budnikowski oder sonstwo. Sie hat immer noch ihren drallen Knackarsch in der Jeanshose und lacht übers ganze Gesicht. Vor drei Jahren, als ich alleine gelebt hab, haben wir uns ab und zu noch mal bei mir in der Hütte getroffen und über alte Zeiten gequatscht. »Hallo, Josefa!«, ruf ich ihr manchmal über die Straße zu. »Hey, du Stinkstiefel«, ruft sie dann rüber. Stinkstiefel, diesen Ausdruck hab ich von ihr geerbt, weil ich früher zu ihr immer in den Springerstiefeln aus der Bundeswehrzeit gekommen bin. Wir wissen beide, dass ich mich umdrehe, wenn ich »Stinkstiefel« höre. Wenn man in Josefas Gesicht reinguckt, hat sie für ihr Alter, Mitte 40, ’ne durchlebte Fratze, aber das Lachen, das ist noch da.

Es ist ja viel auf der Strecke geblieben, wie ich glaube, bei jedem mit diesem Weg. Auch bei mir.

Lilo, die ein mehr als revolutionäres Verhalten an die Tagesordnung legte, die über die Deppen von ihren Brüdern das Lasso schwang, Lilo, die zwei Wohnungen ruinierte und mir Urlaube zur Hölle machte – Lilo hat mir nicht verziehen, dass ich links und rechts ein bisschen rumgekaspert hab mit anderen Frauen. Sie hat sich eben unsterblich gefunden, und jeder Kerl hat sich nach ihr umgeguckt. Ich bin ja nicht umsonst 13 Jahre mit ihr zusammen gewesen.

Als wir nach dem Hin und Her der Trennungsphase Abstand gewonnen hatten, haben wir ab und zu mal telefoniert und uns Sauereien ins Ohr geblasen. Einmal hat sie mir mit ’ner Taxe so ’ne Rotze geschickt. Unterhose in Folie und ’nen Zettel: »Willst du mehr, darm komm her.«

Vor ein paar Jahren hat sie mir im »Globetrotter« auf die Schulter getippt: »Stefan, ich bin’s. Ich bin hier in der Nähe. Hast du ’ne feste Frau?« Zu dem Zeitpunkt hab ich alleine gelebt. Dann ist sie mit ’nem Taxi und Getränken unterm Arm angekommen. Ich will höflich sein und sie umarmen, und ich merke, ich krieg meine Hände nicht um ihren Buckel geschlossen. Da hab ich erst mal Licht im Flur gemacht. Lilos Gesicht: etwas rundlicher, aber noch ausdrucksvoll hübsch. Es gibt viele dicke Frauen, die hübsch sind. Aber diese Marmortitten, die haben auf dem Bauch gelegen. Sie ist wie ’ne Walze reingekommen, hat sich auf einen Stuhl gepflanzt und ein Bild von meiner Tochter gesehen: »Wer ist das denn?« Die ist keine zwei oder drei Minuten dagewesen: »Wer ist das denn?« Ich sag: »Das ist Nicole, meine Tochter.« – »Ja, dafür wirst du mir noch bezahlen.« Da fällt dir nichts mehr ein.

Lilo war längst nicht mehr in der Herbertstraße. Sie hat mir erzählt, dass sie jetzt weiß, wie Geld verdient wird, dass sie selber Puff-Chef geworden ist und zwei, drei Polenweiber für sie anschaffen. Wie gut es ihr geht, damit hat sie gar nicht aufhören können. Als das Thema dann doch durch gewesen ist, hat sie immer wieder vertieft: »Ach, du hast ja genug Probleme mit deinem ausgestochenen Auge.« Daran hat sie sich geweidet. Na ja, dann hab ich sie rausgeschmissen.

Lilo will ich in meinem Leben nicht mehr an der Kreuzung sehen, wenn’s der Zufall nicht anders will.

Akosua, meine Sommerliebe, meine Marbella-Braut, ist ’ne Erfolgsfrau in den Medien geworden. Sie ist eigentlich immer schon plietsch gewesen. In der Zwischenzeit ist sie zweimal verheiratet gewesen, und ihre beiden Ehemänner haben nicht bei der Post gearbeitet. Da ist was hängengeblieben bei den Scheidungen.

Sie lebt in ’ner anderen Stadt, aber wir sind noch immer fleißig am Telefonieren. Wenn ich ihre Stimme höre, geht bei mir die Sonne von Marbella auf, und ich seh die schwarze Perle vor mir, und ich seh, wie sie mich anlacht. Wow.

Auch mit Dunja, der Tschechin, telefonier ich noch. Aus der stärksten Frau meines Lebens ist ’ne Löwenmutter geworden. Sie hat sich schwängern lassen auf Sylt, wo sie gearbeitet hat. Verheiratet ist sie aber nicht. Ihr Leben hat sich auf Sozialhilfeniveau eingependelt. Sie ist weg von St. Pauli und stark engagiert, was ihr Kind angeht. Als ihr Sohn noch ein Baby war, hat sie ihn mir stolz gezeigt. Er ist jetzt fünf Jahre alt. Wenn sie mit ihm auf dem Hamburger Dom ist, ruft sie mich an: »Ich bin hier in deiner Nähe. Hast du nicht Lust, mal rüberzukommen auf den Dom?« Da krieg ich natürlich gleich ’nen Buckel: Mutter und Kind und ich in der Ersatzvaterrolle – das ist mir zu fremd.

Familienkruste? Ich weiß nicht, was das ist.

Meine Mutter hab ich zuletzt nach dem Tod von meinem Vater gesehen. Sie ist extra nach St. Pauli gekommen, wo ich sie zum Essen eingeladen hab. Dann hat sie mir einen weißen DIN-A4-Bogen hingehalten und meine Unterschrift gewollt. Damit sollte ich mich bereit erklären, dass sie die Wohnung von meinem Vater behalten darf und der Mietvertrag auf sie übergeht. Wem unterschreib ich, ohne kaufmännisches Know-how, einen Blankobogen? So was unterschreibt man doch nur der eigenen Mutter, richtig? Sie hat mir versprochen, dass sie mich nicht verarscht: »Ich schwöre bei Gott.« Natürlich hat sie meine Unterschrift gekriegt. Die hat dann unter einer testamentarischen Verzichtserklärung gestanden.

Als sie direkt nach der Begegnung mit mir bei sich zu Hause, eben in der Wohnung, angekommen ist, hat sie ’nen Schlaganfall gehabt. Wohl, weil sie mich belogen und auch noch beim lieben Gott geschworen hat. Da hat sie ’ne halbseitige Lähmung gekriegt.

Sie hat noch jahrelang rumgesoffen in dieser schönen Wohnung mit ihrem Liebesgefährten aus Berlin. Der Penner hat meine behinderte Mutter krankenhausreif geschlagen und ihr die Rippen gebrochen. Als ich ihr telefonisch angekündigt hab, dass ich dem Wichser auch die Rippen eintreten werde, hat sie gesagt, ich soll doch in St. Pauli bleiben und nicht meine St.-Pauli-Manieren in ihre gute Gegend bringen. Dann hab ich gesagt: »Ab jetzt bist du für mich gestorben, Mutti.«

Eines Tages hat mein Bruder heulend vor meiner Tür gestanden: »Mutti ist tot.« Ich sag: »Ja, deine Mutter. Das Thema ist durch.« Ich bin auch nicht bei ihrer Beerdigung gewesen.

Mit meinem Bruder verbindet mich schon eine Bruderliebe, die kann man nicht beschreiben. Aber du findest keine Parallele, dass du sagen könntest, wir sind Brüder. Er ist ein ganz anderer Typ als ich. Er hat immer noch ein und dieselbe Frau und seit fast 30 Jahren ein und denselben Arbeitsplatz, absolut krisensicher. Er arbeitet unter der Erde in einem internationalen Forschungsinstitut, da, wo die Genies rumalbern. Für die baut er winzige Motoren in Filigrantechnik. Er ist wirklich ein Talent. Er malt auch, und in der Mittagspause sitzt er in seinem Gartenhäuschen und freut sich an der Natur. Wenn ich da bin, ist das für mich so, als ob ich rund um mich ein Brett habe.

Die Beziehung zu meiner Tochter – die ist der absolute Kick. Nach einer langen Durststrecke. Als Nicole 12 Jahre alt war, hat sie zu dem Lebensgefährten meiner Exfrau »Vati« gesagt. Wie sollte ich mich dazwischenschieben? Und was sollte ’ne heranwachsende Tochter, die ein bürgerliches Leben hat, mit ’nem Zweitvater aus dem Rotlichtmilieu? Ich konnte sie doch nicht schockieren, ich konnte sie aber auch nicht belügen.

Bei der Beerdigung von meiner Großmutter hab ich meine Tochter nicht erkannt. Sie war 16. Ich hab meine Mutter gefragt: »Wer ist denn das hübsche Weib neben meiner Exfrau?« – »Das ist Nicole.« Ich muss verdattert dagestanden haben. Damit man mir meinen Schmerz um Omi nicht ansieht, hab ich ’ne schwarze Sonnenbrille aufgehabt. Alle anderen haben unter Regenschirmen gestanden. Ich bin in den Nadelstreifen klitschenass, aber so ’nen Schirm spann ich nicht auf. Der Pfarrer will mir die Hand geben. Ich sag: »Nimm deine Hände weg. Ich hab das bessere Verhältnis zu meiner Großmutter, ich brauch deinen Text nicht.« Damit hab ich die alle unter ihren Schirmen natürlich geschockt, das hab ich noch mitgekriegt. Dann bin ich mit meinem schwarzen Porsche weggebraust.

Jahre später hab ich mir schon die Frage gestellt, warum Nicole nicht den ersten Schritt auf mich zu macht. Irgendwann hab ich mir selber das Lichtbild in die Fresse gebumst und gesagt: »Hey, Hentschel, das sind eben deine Gene, die ist wie du. Der erste Schritt liegt bei dir.« Ich hab aber noch gezögert.

Auf einmal macht’s »Bomm«. Auf einmal sitzt du hier und blätterst in deinen vergilbten Sachen rum und findest die Nummer von deiner Exfrau, mit der du ein Kind zusammen hast, und hast den Mumm, da mal anzurufen. Ich sag: »Ich bin nicht verheiratet, ich bin nicht mehr im Milieu, ich hab ’nen Job, und ich möchte meine Tochter kennen lernen. Das muss doch mal machbar sein.« Sie hat sich ein bisschen geziert. Ich sag dann: »Sei wenigstens so freundlich, hinterlass ihr meine Nummer. Wenn Nicole ganz dagegen ist, dann respektiere ich das. Aber leg mal ein gutes Wort für mich ein.«

Aber es dauert nicht lange, und ich hör die Stimme, genau die Stimme, die ihre Mutter hatte, als ich sie als junges Mädchen kennen lernte. Auf einmal ist diese Stimme im Hörer, das ist wahnsinnig. Wir haben am Telefon einen Termin ausgemacht, ich hab gedacht, ich explodiere.

Als ich zu unserem ersten Meeting gefahren bin, hab ich dreimal angehalten, weil ich pissen musste. In ’ner Fahrzeit von locker 30 Minuten. Sonst brauch ich nach 15 Weizenbieren nicht aufzustehen. Ich bin natürlich ’ne Viertelstunde eher da gewesen und hab wie so ’n Tagedieb irgendwo eingeparkt, damit sie bloß nicht sieht, dass ich schon da bin. Ich hab sie das letzte Mal vor 16 Jahren gesehen. »Sie ist jetzt ’ne Frau«, hab ich gedacht, »na, Hilfe! Und jetzt kommt mir vielleicht ’ne Zweieinhalb-Zentner-Wucht entgegen, oder sie hasst mich. Ich weiß ja gar nichts von ihr.« Sie wohnt in derselben Straße, in der ich früher als Lehrling ihre Mutter mit dem Moped abgeholt hab, nur zwei Häuser weiter. Allein durch die Straße kriegst du schon feuchte Hände. Du holst ja nicht irgendwen ab oder ’n paar alte Schuhe oder was, sondern deine Tochter.

Ich hab Schwierigkeiten beim Aussteigen. Sie steht natürlich nicht draußen, und ich will nicht hupen, ich hol ja nicht irgendwo so ’ne Stussmutter ab. Also, ich steig aus und geh über die Straße, Hausnummer 52, dann les ich meinen Nachnamen: Oh, ist das ein geiles Gefühl. Auf dem Klingelschild mein Nachname, das ist für mich: »Hentschel lebt.« Das Flur licht geht an, ich steh da im Lichtspot und geh wieder ein bisschen weg vom Eingang: Ich bin der Sache nicht ganz gewachsen, keine Souffleuse daneben, Hilfe. Dann kommt sie raus in so ’nem schwarz-gelben T-Shirt, die Schöne: Wir drücken uns beide.

Wir waren ja beide aufgeregt und haben uns das im Nachhinein gestanden, so aufgeregt, dass wir nicht analysieren konnten, was wir beim Spanier gegessen hatten. So matschig waren wir beide in der Birne. Und heute geht uns das so, wenn wir uns ein- oder zweimal im Monat treffen, dass wir aus getrennten Speisekarten das Gleiche bestellen, bei 24 Gerichten. Das ist verrückt, wir stimmen immer überein.

Sie hat mein Kreuz, ist 1,80 groß, gepflegt, Nägel, Zähne, alles à la bonheur. Sie hat genau die gleichen Macken wie ich mit der Sauberkeit und der Pünktlichkeit. Genau wie ich hat sie ’ne Schwäche fürs Reisen. Ich hab keine Reichtümer gehortet, aber ich zehre von meinen Reisen. Im Gegensatz zu mir hat sie beim Alkohol ihr Limit: Ich kann mit ihr drei, vier Tequila trinken, und dann ist Sense bei der Dame. Das bewundere ich bei meiner Tochter. Und noch was ist bei ihr anders als bei ihrem jeden Tag trainierenden Vater: Sport ist für sie Mord. Also, das ist ein sehr konträres Ding zwischen uns. Und trotzdem haben wir ’nen Bullerofen miteinander. Absolut.

Nach unserem ersten Essen beim Spanier sind wir ins »Rock Café« auf der Großen Freiheit gegangen. Vater will ja auch ein bisschen abküren, das ist klar. Allein mit ihr zu mir nach Hause zu gehen, hab ich mich nicht getraut, da muss erst mal ein Vertrauen wachsen. Aber da hat sie überhaupt nicht gezögert: »Logisch gehn wir noch zu dir.« Ich hab auch das Bedürfnis gehabt, ihr zu erzählen, dass ich im Gefängnis war, als sie klein war. Sie hat viel gefragt und mir zu verstehen gegeben, wie sie mich vermisst hat, wie schwer es ihr als Kind gefallen ist, mich als Vater nicht zu haben. Und ich hab ihr oft gesagt, wie Leid mir das tut. Das alles ist zur Sprache gekommen, ’ne Frau über 30 ist ja erwachsen.

Nicole unterliegt auch einer absoluten Ehrlichkeit. Wir sind mit der Prämisse aufeinander zugegangen, dass wir uns nie was vormachen wollen. Einmal, als ich zu viel getrunken hatte, hab ich ihr was auf ihren Anrufbeantworter gesprochen, was ich am nächsten Tag nicht mehr so richtig zusammengekriegt habe, aber ich hab gespürt, dass ich Scheiße geredet hatte. Am nächsten Tag hab ich sie wieder angerufen, und da sagt sie: »Hör mal zu, auf so was steh ich gar nicht.« Und dann: Bum bum bum. Ich sag: »Okay, jetzt noch mal eine Ansage von mir: Das war das erste und das letzte Mal. Einverstanden, Nicole? Okay?« – »Okay.«

Sie lacht irgendwie wie ich. Und sie hat die gleichen Grübchen. Lieber Gott, wir lachen schon, wenn wir uns sehen. Meine Tochter ist für mich wie ein großes Geschenk des Lebens, ich hab’s nicht verdient, ich hab’s einfach gekriegt.