Atmen ist ein Grundrecht, kein Privileg. Und ich will nichts anderes, als dieses Grundrecht, das uns genommen wurde, zurückzuerobern. Ich bin zwar nervös, aber Angst hab ich keine. Schließlich bin ich extra trainiert worden für diese Mission. Ich bin bereit, die Sache durchzuziehen.
Als ich Abels Hand drücke, schaut er mich an.
»Jetzt?«, fragt er und greift in die Hosentasche.
»Nein, warte. Noch nicht«, flüstere ich.
Mehrere Kameras sind direkt auf uns gerichtet und der nächste Aufseher steht nur ein paar Meter entfernt. Ich ziehe Abel dichter an mich heran und puste ihm sanft in den Nacken. Eigentlich sind wir kein Paar, aber wenn wir so tun, als wären wir eines, fallen wir weniger auf.
»Dann sag mir, wann«, wispert Abel.
Wir gelangen zu einem Grüppchen Sandbirken und stellen uns zu den Touristen, die die Bäume anstarren. Der Biosphären-Führer erklärt detailreich, mit welchen Maßnahmen die Bäume hier drinnen am Leben erhalten werden, und die Touristen, größtenteils Premium-Bürger, kaufen ihm sein Gequatsche ab.
»Diese spezielle Birkenart hier hat zwölf Jahre gebraucht, um so groß zu werden. Nirgendwo sonst auf der Erde ist sie noch zu finden.«
Ich verkneife mir ein Augenrollen und ziehe sogar mein Pad heraus, um ein Foto zu schießen – ganz wie eine echte Touristin.
In diesem Moment tönt eine Durchsage durch die Lautsprecher: »Das Naturschutzareal schließt in fünf Minuten. Bitte begeben Sie sich zu den Ausgängen und verlassen Sie die Biosphäre. Das Naturschutzareal schließt in fünf Minuten. Bitte verlassen Sie zügig die Biosphäre.«
»Jetzt ist es zu spät«, flüstert Abel, lässt meine Hand los und macht auf dem Absatz kehrt. Doch ich schlinge meine Arme um seinen Hals. Beim Training war er immer so dreist und rotzfrech. Nie hätte ich gedacht, dass er so schnell kalte Füße kriegen würde.
»Wir können jetzt nicht zurückrudern«, sage ich. »Wir haben so lange gespart, um uns den Eintritt hier leisten zu können. Und wir brauchen die Stecklinge. Ohne die gehen wir nicht.« Ich blicke mich um. Alle Leute um uns herum orientieren sich in Richtung Ausgang, einschließlich der Aufseher. Ich küsse Abel auf die Nasenspitze, doch er weicht zurück.
»Warum können deine Tante und dein Onkel das nicht machen?«
»Hab ich dir doch schon erklärt«, zische ich. »Sie arbeiten im landwirtschaftlichen Bereich und bekommen keine Zugangserlaubnis für diesen Teil der Biosphäre.«
Die Reisegruppe drängt an uns vorbei in Richtung Souvenir-Shop. Ich lächle ein älteres Ehepaar an, das uns beobachtet, und tatsächlich erwidern sie das Lächeln, bevor sie mit untergehakten Armen weitergehen.
»Aber wenn sie mich schnappen …«
»Sie werden uns nicht schnappen«, falle ich ihm ins Wort, obwohl ich das natürlich nicht wissen kann. Alles, was ich weiß, ist, dass ich noch nie erwischt worden bin und dass sein Zögern das Risiko nur erhöht.
Ich führe ihn zurück zu der Stelle, die wir uns ausgeguckt haben, weil nur Kamera Nr. 4 sie erfasst.
»Sie ist zu deiner Rechten«, erkläre ich ihm. »Verfehle sie nicht!«
Er nickt, steckt die Hand in seine Hosentasche und zieht sie als Faust wieder heraus. Er hält den Stein also umklammert. Jetzt würde ich ihn am liebsten richtig echt küssen, nicht nur zur Tarnung, aber dafür ist keine Zeit. Und überhaupt – wer weiß, ob er überhaupt einen echten Kuss von mir will.
Als die Überwachungskamera von uns wegschwenkt, stoße ich Abel mit dem Ellbogen an. Wie auf Knopfdruck schleudert er den Stein und ich halte den Atem an – und hätte mir am liebsten auch gleich die Augen zugehalten, denn es ist völlig klar, dass der Stein meilenweit danebengehen wird. Scheiße, jetzt kriegen sie uns! Und wir werden ganz sicher nicht mit einer Haftstrafe davonkommen. Wir werden einfach verschwinden.
»Shit«, zischt Abel.
Anstatt die Kamera zu zerdeppern, knallt der Stein gegen einen Baumstamm, prallt ab und trifft einen Touristen am Kopf. Und während ich noch entsetzt nach Luft schnappe, laufen bereits mehrere Aufseher auf den schreienden Mann zu.
»Mich hat was am Schädel getroffen«, brüllt er. »Man hat auf mich geschossen.«
»Ich muss hier raus! Sofort!«, flüstert Abel. »Du kannst das nicht verstehen.«
»Hast du noch einen?« Ich packe ihn am Ellbogen, damit er nicht wegläuft.
Er nickt, zieht einen zweiten, deutlich größeren Stein aus der Hosentasche und versucht, ihn mir unauffällig zuzustecken.
»Nein, du musst werfen«, sage ich. »Du kannst besser zielen.« Die Kamera schwenkt unbeirrt weiter über das Gelände. »Los, mach schon!«
»Und wenn ich wieder nicht treffe? Und am Ende noch jemanden damit umbringe?«
Ohne den Kopf zu bewegen, senke ich den Blick und betrachte den Stein in Abels Hand. Seine Sorge ist nicht ganz unbegründet: Der Stein ist riesig und Abel wirft mit ziemlicher Wucht.
»Dann triff halt«, sage ich nur.
Die Aufseher sind inzwischen dabei, eine Krankentrage anzufordern. Wenn sich jetzt jemand nach uns umdreht und sieht, wie wir hier abseits rumstehen, fliegen wir auf, völlig klar. Abel muss werfen, und zwar sofort. Entweder er wirft oder wir machen uns schleunigst aus dem Staub.
»Los, nun mach schon!«
Der Stein saust durch die Luft und Sekunden später zersplittert die Linse der Kamera. Glas- und Plastikteile prasseln auf den Weg, und sofort kommen weitere Aufseher angerannt. Abel blickt mich kurz an, dann rennt er los und gesellt sich zu der rasch anwachsenden Menschenmenge.
»Da hätte jemand bei draufgehen können!«, empört er sich. »Das ist ja die reinste Todesfalle hier!«
Ich hole einmal tief Luft und schlüpfe unter dem Absperrseil hindurch. Gebückt sprinte ich in das Wäldchen hinein, springe über Wurzeln, weiche Baumstämmen aus. Wohl nur wenige Seconds können so schnell rennen wie ich. Die meisten von uns Zweitklassbürgern würden das vom Kreislauf her gar nicht packen. Aber aus dem Grund trainieren wir ja, jagen nachts durch die Gassen, treiben unseren Puls hoch und inhalieren dabei unerlaubte Mengen Sauerstoff.
Nach einer Weile bleibe ich stehen und hole einen handgezeichneten Plan des Biosphärenreservats hervor. Die Stelle, an der die Ulme steht, ist mit einem X gekennzeichnet. Aber auch ohne Skizze wäre der Baum nicht zu verfehlen: Seine Äste sehen aus wie riesige ausgebreitete Flügel. Als wäre er bereit zum Abheben. Seine schiere Größe verschlägt mir den Atem, aber ich hab keine Zeit, zu gucken und zu staunen. Ich öffne meinen Rucksack, ziehe ein Seil hervor und werfe es über den untersten der dicken Äste. Dann krame ich eine Zange aus dem Rucksack, stecke sie in meine hintere Hosentasche und beginne mit dem Klettern. Als ich auf dem untersten Ast stehe, lasse ich das Seil los und benutze die Astgabeln und Verwachsungen als Halt für meine Hände und Füße. Ich verschwende keinen Gedanken daran, dass das hier schiefgehen könnte. Ich habe hart trainiert und mich fit gemacht für diese Aktion, und deshalb konzentriere ich mich ausschließlich auf die Stecklinge. Darauf, sie unbeschadet durchs Ödland zum Rebellenhain zu bringen.
Schließlich hangele ich mich an einem Ast entlang, knipse ein paar Stecklinge ab und werfe sie zu Boden. Ich mache mich wieder an den Abstieg, obwohl ich liebend gerne hier oben bleiben und gemeinsam mit Abel die frische, echte Luft genießen würde. An einen starken Ulmenast geschmiegt. Oder noch lieber: an Abel. Aber das ist nicht erlaubt. »Keine Romanzen zwischen Rebellen!«, lautet einer von Petras Leitsprüchen. Liebesbeziehungen würden die Dinge nur unnötig verkomplizieren und die Entschlusskraft beeinträchtigen, sagt sie. Und sie hat recht. Als ich Abel für diese Mission ausgewählt habe, hab ich vollkommen ausgeblendet, dass er eigentlich noch gar nicht so weit ist. Ich hab nur die Chance gewittert, mit ihm zusammen trainieren zu können.
Aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Die Aufseher werden die Glassplitter der kaputten Kamera im Nu zusammengefegt haben und die restlichen Besucher werden zum Ausgang strömen. So schnell ich kann, hangele ich mich nach unten, sammle die Stecklinge ein, schnappe mir meinen Rucksack und renne mit hämmerndem Herzen zurück.
Als ich mich der Stelle mit den Bäumen nähere, wo der gelbe Weg vorbeiführt, ducke ich mich und krieche zentimeterweise weiter. Niemand achtet auf mich, als ich wenig später aufstehe und zu Abel hinüberschlendere. Der dreht sich lächelnd zu mir um und entfernt sich ein Stück von der Menschenmenge.
Schließlich folgen wir dem allerletzten Touristengrüppchen durch eine Drehtür in den dunklen Tunnel, der das Biosphärenreservat mit der Kuppel verbindet. Sofort ändert sich die Beschaffenheit der Luft: Sie riecht nicht mehr echt und grün, sondern nach Plastik. Als wir das Ende des Tunnels erreichen, schlendern wir betont ruhig und entspannt weiter, sorgsam darauf bedacht, das Höchsttempo von drei Stundenmeilen nicht zu überschreiten. Es fehlte jetzt gerade noch, dass wir von einer Geschwindigkeitskamera geblitzt werden.
Wir befinden uns nun in Zone 1 mit ihren blitzsauberen Straßen und verspiegelten Gebäuden. Die Passanten sind allesamt tadellos gekleidet. Lauter selbstzufriedene Gesichter unter den Atemmasken. Hier sind ausnahmslos Premium-Bürger unterwegs, die, wenn sie uns sehen, ihren Blick sofort abwenden. Möglichst unauffällig natürlich.
Wir gehen immer weiter Richtung Kuppelmitte, und obwohl keine Mauern oder Elektrozäune die einzelnen Zonen voneinander trennen, ist der Übergang vom Areal der Privilegierten zur Zone 2 doch unverkennbar: Statt von verspiegelten Gebäuden und schmucken Einfamilienhäusern sind wir auf einmal von gedrungenen, wesentlich dichter stehenden Wohnblocks umgeben, und die breiten Boulevards sind schmalen Straßen gewichen. Anzugträgern begegnet man jetzt nicht mehr, stattdessen wimmelt es nur so von Aufsehern, Ordnern und Sicherheitskräften, die hier, schon deutlich näher am Zentrum der Kuppel, ihre Wohnungen haben. Instinktiv senken wir die Köpfe.
Kurz darauf erreichen wir Zone 3. Wohntürme, die für jeweils tausend Bewohner konzipiert sind, ragen in die gläserne Kuppel auf, und unten in den engen Gassen ist es stockfinster, denn das natürliche Licht wird von den Betonmassen geschluckt.
Wir drücken uns in den düsteren Durchgang zwischen zwei Hochhäusern. Was für ein armseliger Kontrast zu den majestätischen Baumriesen, die uns eben noch umgeben haben!
Abel reibt sich die Hände und kann vor lauter Aufregung gar nicht stillstehen. »Wir haben’s geschafft! Wir haben’s echt geschafft! Hast du alles gekriegt, was du wolltest? Darf ich mal sehen? Wenn du willst, kümmere ich mich darum. Komm, gib mal her.«
Keine Frage, er ist wieder ganz der Alte.
»Ich hab gleich mehrere Stecklinge abgeknipst. Silas wird Augen machen. Vielleicht befördert mich Petra ja sogar!«
»Mann, du warst absolut cool!« Abel legt mir einen Arm um die Taille und zieht mich zu sich heran. Er lächelt und steht so dicht vor mir, dass sich unsere Nasenspitzen fast berühren. Scherzhaft schiebe ich ihn zurück auf Abstand. Noch zögere ich, etwas anzufangen, das mit einem Kuss beginnt.
»Wieso ich? Du hast doch den Stein geworfen und die Leute abgelenkt. Ich bin echt froh, Abel, dass Petra dich entdeckt hat. Du wirst uns sehr nützlich sein.« Keine Ahnung, warum ich unsere Beziehung immer noch ausschließlich über die Widerstandsbewegung definiere. Warum ich ihm nicht einfach sage, dass ich glücklich bin, wenn wir zusammen sind – egal, ob wir uns nun gemeinsam engagieren oder nicht.
»Dann bringen wir die Stecklinge also zum Rebellenhain?«, fragt er.
»Ja. Hast du Lust, uns zu begleiten?«
Ein Strahlen geht über sein Gesicht. »Klar, logisch!«
Wir schleichen uns zurück auf die Straße und Abel legt mir den Arm um die Schulter. Sofort habe ich butterweiche Knie und ein wahnsinniges Kribbeln im Bauch.
»Vertraust du mir eigentlich?«, fragt er, während seine Finger meinen Hals kitzeln.
»Lass den Quatsch, Abel! Wir kämpfen für die gleiche Sache, wir sind Weggefährten, kein Liebespaar«, stelle ich hastig klar und hoffe, dass er heftig widerspricht und erklärt, er könne ohne mich nicht leben. Aber das tut er nicht. Er lacht nur. Und ich, ich schüttele seinen Arm nicht ab.
Aber lachen tue ich nicht.