ALINA

Silas ist schon zu Hause. Ich schaue ihm durch die Balkontür zu, wie er auf dem Boden hockt und ein Lavendelpflänzchen begutachtet. Er drückt die Erde um die Pflanze fest, steht auf, legt seinen Kopf zufrieden auf die Seite und geht zur nächsten Pflanze. Sechs große Kisten mit unterschiedlichen Setzlingen stehen aufgereiht auf dem Balkon. Silas ist so konzentriert, dass er das Piepsen gar nicht hört, mit dem sich erst die Innen- und dann die Außentür öffnet, als ich heraustrete.

Er schreckt hoch, als ich ihn an der Schulter berühre. »Verdammt, Alina, was schleichst du dich denn hier heran?«

»Ich schleiche nicht.«

Reflexartig schaut Silas nach links und rechts und oben und unten zu den leeren Balkons, die unseren umgeben, und bedeutet mir dann, ihm nach drinnen zu folgen.

»Setz dich lieber«, sagt er.

Da ich diese Formulierung nur aus Filmen kenne, weiß ich nicht recht, was ich tun soll. Silas schaltet den Fernseher ein und wechselt zu einem Musiksender. Dort läuft Musik zum Abtanzen, was Silas hasst. Trotzdem dreht er die Lautstärke auf und lässt sich aufs Sofa fallen. Ich setze mich neben ihn.

»Abel ist verschwunden«, flüstert er.

»Was?«, frage ich, obwohl ich ihn sehr wohl verstanden habe.

»Abel. Ist verschwunden«, zischt er. »Er war mehrere Tage nicht in der Schule. Ich dachte, er sei krank oder so. Hab mir zunächst keine Sorgen gemacht. Bis ich heute bei ihm vorbeigefahren bin, um zu sehen, was los ist. Aber da war keiner. Und dann hat mir eine Nachbarin erzählt, dass sie ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen hat. Wusstest du, dass er alleine lebt?«

»Nein.«

»Wie auch immer, die Nachbarin wollte eine Vermisstenanzeige aufgeben. Vielleicht hilft’s.«

»Ich hab ihn am Tag nach unserer Ulmen-Mission gesehen und wir hatten uns eigentlich für heute zum Mittagessen verabredet.« Ich erwähne nicht, wie sauer und gekränkt ich war, dass er mich versetzt hat. Ebenso wenig erwähne ich, dass ich die Schule geschwänzt habe, weil ich es nicht ertragen konnte, in diesem Zustand Mr Banbury über Algorithmen labern zu hören. »Vielleicht hat er die Kuppel verlassen?«

»Das hatte ich auch gehofft. Also bin ich zum Grenzposten und hab die Ausreiseliste eingesehen. Fehlanzeige. Ich sag’s dir, Alina, er ist verschwunden. Weg. Und nicht nur das: Sie hatten seinen Namen nicht mal im System. Offiziell existiert er gar nicht.«

»Was ist mit dem Schülerverzeichnis?«

»Hab ich auch versucht. Unter seinem Namen ist niemand zu irgendwelchen Kursen angemeldet.«

Ich starre die halb nackten Tänzer auf dem Bildschirm an. Die Musik ist nervtötend laut. Ich kann nicht denken. Am liebsten würde ich den Ton abdrehen und in absoluter Stille dasitzen. Aber dann würden wir Gefahr laufen, dass uns irgendjemand hört. Verdammt, ich weiß, was es bedeutet, wenn Menschen in der Kuppel vermisst werden. Vermisst heißt: für immer. Vermisst heißt: tot.

Wir sitzen lange einfach nur schweigend da. Hin und wieder schaut Silas zu mir, aber ich starre auf den Bildschirm und sage nichts. Ich konzentriere mich. Ich konzentriere mich darauf, nicht an meine Eltern zu denken, an das, was vor zwei Jahren mit ihnen passiert ist, als sie von einem Tag auf den anderen verschwanden und wir nie wieder etwas von ihnen gehört haben. Natürlich haben wir keine Sekunde an das Märchen geglaubt, das das Ministerium der Presse aufgetischt hat: dass sie nämlich die Grenzsoldaten überlistet hätten und weggelaufen seien. Trotzdem mussten wir diese offizielle Verlautbarung jedem, der sich nach Mom und Dad erkundigte, auf die Nase binden, wenn wir nicht ebenfalls von der Erdoberfläche verschwinden wollten.

Will Silas mir gerade weismachen, dass Abel tot ist? »Glaubst du, sie haben ihn aus dem System gelöscht?«, frage ich.

Silas seufzt und kratzt sich am Hinterkopf. »Das macht keinen Sinn. Abel weiß ja nichts. Er hat sich uns doch gerade erst angeschlossen.«

Er lässt seinen Blick über den Balkon schweifen. Garantiert überlegt er, ob er die Pflanzen jetzt vernichten soll oder nicht. Schließlich haben wir keine Genehmigung dafür. Und nicht nur das: Sie würden wissen wollen, woher wir sie haben, und auf diese Frage gibt es keine gute Antwort. Silas ist mein Cousin – er ist achtzehn, zwei Jahre älter als ich, und praktisch erwachsen. Wenn er die Pflanzen vernichten muss, dann wird er es tun. Aber zuerst wird er nach einer Alternative suchen. Er hat viel zu viel darin investiert, um diese Pflanzen kampflos aufzugeben.

»Was werden sie mit ihm tun?«, frage ich. Ich sehe Abel vor mir, an einen Stuhl gefesselt, wie sie ihn blutig schlagen. Wie sie ihn an den Füßen aufhängen. Ihm Stecknadeln unter die Fingernägel rammen. Und natürlich stelle ich mir das Naheliegende vor: Abel aus der Kuppel gestoßen, ohne Sauerstoff, nach Luft ringend.

Ich drehe mich zu Silas um. Ich muss wie versteinert aussehen, denn er klopft mir auf die Schulter und lächelt. »Wir müssen einfach nur vorsichtiger sein«, sagt er. »Wir haben zu oft in der Schule gefehlt. Wir dürfen keinen Verdacht mehr erregen. Meditieren können wir weiterhin, aber kein nächtliches Training mehr, das ist zu gefährlich.«

»Aber wir müssen Abel helfen! Mein Gott, es ist alles meine Schuld. Wir hätten die Aktion abbrechen sollen, als der erste Stein danebenging.«

»Welcher erste Stein?«

»Die Beschaffung der Stecklinge … verlief nicht ganz nach Plan«, gebe ich stockend zu.

»Und wieso sagst du mir das erst jetzt?« Silas rückt näher zu mir.

»Wir dachten, wir wären noch mal davongekommen.«

»Verdammt, Alina! Entweder machen wir’s strikt nach Plan oder wir brechen ab, das weißt du doch!«, schnauzt er mich auch so an. Was gar nicht nötig wäre, denn ich fühle mich auch so schon schlecht genug. »Okay, lass uns nachdenken.«

»Wir müssen zu Petra«, sage ich.

»Geht nicht. Wenn wir die Kuppel so kurz nach unserem letzten Ausflug schon wieder verlassen, werden sie aufmerksam.«

»Aber wir kriegen das alleine nicht hin. Das Risiko ist einfach zu groß. Wir brauchen Hilfe, Silas.«

»Komm, entspann dich. Abel geht’s sicher gut. Lass uns ein paar Tage in Deckung gehen und sehen, wie sich die Lage entwickelt. Okay?«

»Silas …«, beginne ich.

»Okay?«, wiederholt er, etwas eindringlicher diesmal.

»Okay«, sage ich, bin aber nicht wirklich überzeugt. Wir schützen uns, na gut, aber was ist mit Abel? Der Widerstand ist eine Familie, und wenn es ein Mitglied erwischt, trifft uns das alle. Aber selbst wenn Silas falschliegt und es Abel nicht gut geht, was könnte ich für ihn tun? Ich weiß ja nicht mal, wo er ist.

Silas nickt in Richtung Balkon und wir gehen wieder raus. Ich starre auf die Glaswand der Kuppel. Silas bückt sich, reibt an einem Lavendelblatt und riecht an seinen Fingern. »Wahnsinn! Riech mal, wie intensiv.« Er hält mir seine Hand unter die Nase und ich atme tief ein, schon um auf andere Gedanken zu kommen, um die Bilder von Abel aus meinem Kopf zu kriegen.

»Was, wenn die Nachbarn die Pflanzkisten sehen?«, frage ich.

»Sie werden denken, es sind künstliche, genau wie ihre eigenen.«

Wahrscheinlich hat er recht: Viele unserer Nachbarn haben Plastikpflanzen auf ihren Balkons. Wieso sollten sie annehmen, dass es bei uns anders ist?

»Lass nur niemanden sehen, wie du sie gießt«, mahne ich.

»Wieso? Der alte Watson wässert seine Pflanzen doch auch. Als ich ihn fragte, warum, meinte er, es erinnert ihn an früher – daran, wie die Dinge mal waren. Armer Kerl. Er konnte vor lauter Rührung kaum sprechen.«

Silas steht auf und klopft sich ein paar Krümel Erde von der Hose, als plötzlich der Blitz einer Geschwindigkeitskamera die Straße ausleuchtet. Irgendjemand muss erwischt worden sein.

Ich schaue runter. Eine Straßenbahn rumpelt die Schienen entlang und Fußgänger schlurfen über den Bürgersteig. In der Kuppel ist es verboten, ohne Sauerstofftank zu laufen. Es ist verboten, schneller als drei Stundenmeilen zu gehen. Die Geschwindigkeitskameras messen das Tempo der Fußgänger, genau wie die Aufseher. Deshalb trainieren Silas und ich auch nachts, unter Brücken und in engen Gassen, wo uns niemand sehen und den zusätzlichen, nicht genehmigten Sauerstoffverbrauch melden kann. Nicht, dass es uns um den heimlichen Extrakonsum ginge. Im Gegenteil: Wir wollen ja gerade, dass die Sauerstoffeinspeisung gedrosselt wird.

Ein paarmal wurde es trotzdem eng. Da hat uns ein Aufseher erwischt, und wir mussten wirklich rennen, mit Sturmmützen überm Gesicht, um auf den Radarbildern der Kameras nicht erkennbar zu sein.

Als wir den Balkon gerade verlassen wollen, geht in der Wohnung das Licht an. Onkel Gideon und Tante Harriet sind zurück und ziehen sich im Flur die Schuhe aus. Sie umarmen uns und lassen sich aufs Sofa fallen, erschöpft von einem zwölfstündigen Arbeitstag in der Landwirtschaftseinheit der Biosphäre. Ein guter Job, verglichen mit vielen anderen: Sie atmen richtige Luft und schaffen es gelegentlich, Früchte oder Gemüse rauszuschmuggeln, sodass wir echtes, im Boden gewachsenes Essen probieren können. Das können sich sonst nur Premiums leisten; wir Seconds müssen uns von synthetischem, mit Vitaminen angereichertem Brot und Joghurt aus künstlichen Früchten ernähren.

Harriets und Gideons Arbeitsanzüge haben heute eindeutige rote Flecken.

»Beerenernte?«, frage ich.

»Unser Nachtisch.« Vorsichtig zieht Gideon ein behelfsmäßiges Papiertütchen mit reifen Himbeeren aus seiner Hosentasche.

Silas verzieht genervt das Gesicht und wippt ungeduldig mit den Füßen.

»Und das hier ist für dich.« Meine Tante nestelt ein Himbeerpflänzchen mit drei Beeren aus ihrer Tasche. »Sind das genug Samen, kannst du damit etwas anfangen?«

»Super, perfekt!«, strahlt Silas.

»Was, um Himmels willen, hört ihr da eigentlich?«, fragt Harriet und reibt sich die Schläfen.

Gideon schnappt sich die Fernbedienung und schaltet ab. »Puh, ich brauch ’nen kühlen Drink und was zu essen«, sagt er und schaut Silas an, der sich sofort in die Küche trollt. Ich folge ihm und hole einen Kuchen aus dem Gefrierfach. In der Wohnung ist es jetzt ganz ruhig. Gideon und Harriet dösen auf dem Sofa.

»Warum hast du es ihnen nicht erzählt?«, flüstere ich.

»Sie haben schon genug Sorgen. Wenn wir merken, dass uns das Ministerium tatsächlich im Visier hat, sagen wir’s ihnen. Bis dahin …« Er bewegt seine Finger vor dem Mund, als zöge er einen Reißverschluss zu.

Ich nicke und wickele den Kuchen aus dem Wachspapier. Solange wir nichts Gegenteiliges hören, wird es Abel gut gehen und wir müssen uns keine Sorgen machen. So in etwa lautet die Überlegung, mit der ich mir selbst in die Tasche lüge.