Als würde ein Riese mit seinen Fingern auf die Kuppel trommeln – so klingen der Hagelsturm und der Regen. Nach der Schule hocke ich auf einer schmalen Bank an der Straßenbahnhaltestelle und warte auf Quinn. Ich wäre jetzt gerne auf der Aussichtsplattform, wie gestern, um mir anzusehen, was das Wetter mit der Welt macht: wie der Regen in den Senken Pfützen bildet und in Sturzbächen von den Hügeln fließt. Was auch immer für ein Wetter draußen herrscht, die Kuppel schirmt uns davon ab: kein Regen, kein Schnee, keine Hitze oder Schwüle. Die Temperatur ist immer ideal, die Luft immer klar, die Kuppel schützt uns vor den tosenden Elementen und bewahrt uns vorm Erstickungstod.
Quinn kommt etwas zu spät. Ich sehe ihn, wie er sich durch die Menschenmenge auf dem Straßenbahnsteig drängt, bevor er mich bemerkt. Als er es endlich bis zu mir geschafft hat, lässt er seine Tasche fallen und quetscht sich neben mich auf die Bank. Und noch bevor ich ihn fragen kann, was für eine Laus ihm über die Leber gelaufen ist, legt er auch schon los.
»Kannst du mir sagen, warum ich mich gegen Grüne Grippe impfen lassen soll, wenn kein Schwein Grüne Grippe hat? Ich jedenfalls kenne niemanden. Du?«
»Hast du die Mitteilung nicht gelesen?«, frage ich.
Er krempelt seine Ärmel hoch und verschränkt die Arme. »Du bist jetzt schon die Zweite, die mir das heute unter die Nase reibt. Nein. Und selbst wenn, darin erklären sie einem doch auch nicht, warum wir gegen Krankheiten geimpft werden, die keiner hat.«
Das stimmt. Die Impfungen sind Pflicht, aber auch ich kenne niemanden, der irgendeine der Grippen hatte, vor denen wir andauernd geschützt werden. Trotzdem finde ich nicht, dass man das Risiko eingehen und auf den Impfschutz verzichten sollte.
»Jedenfalls kannst du an der Grünen Grippe sterben und sie wird über die Luft übertragen. Solange du also nicht draußen leben willst«, ich zeige zum Glashimmel, »wirst du dich wohl impfen lassen müssen.«
Die Straßenbahn kommt und wir ergattern die hinteren Plätze, von denen aus man einen besonders guten Blick auf die Bildschirme ein paar Reihen weiter vorn hat. Eine Frau zwängt sich gerade noch hinein, bevor sich die Türen schließen.
»Uhrzeigerrichtung?«, fragt sie.
»Nein, entgegengesetzt«, antwortet jemand.
»Mist.« Seufzend lehnt sie sich gegen das Gepäcknetz.
»Wo warst du den ganzen Tag? Ich hab dir ’ne Million Nachrichten geschickt«, sagt Quinn.
»Hab nicht auf mein Pad geguckt. Stimmt was nicht? Hast du schon was von Felling gehört?« Ich kenne Quinn zu gut, ich weiß, dass unmöglich nur die Impfungen ihm die Laune verhagelt haben können. Da muss noch was anderes dahinterstecken. Vielleicht ist er durchgefallen? Als er nicht antwortet, sondern einfach nur auf die schmuddeligen Mietskasernen starrt, stupse ich ihn mit dem Ellbogen an. »Quinn?«
»Nee, hab noch nichts gehört. Du?« Er schaut mich an und seine Wut scheint für den Moment verraucht.
»Ich bin durchgefallen. Also …« Ich muss ihm nicht erklären, was das für mich und meine Familie bedeutet.
»Was?! Das kann doch nicht sein! Oh Gott, Bea – das tut mir so leid!« Er legt seine Hand auf mein Knie. Mein Magen verkrampft sich, während ich darauf warte, dass mehr passiert. Aber es passiert nichts. Quinn sitzt ruhig da, die Hand auf meinem Knie, und schaut mich an. Mehr wird auch nicht passieren, heute nicht und überhaupt nie. »Das muss ein Verwaltungsfehler sein! Los, komm, wir gehen zum Institut und bitten um einen Termin. Am besten jetzt sofort. Oder ich spreche mit meinem Vater. Mach dir keine Sorgen, das kriegen wir hin.«
»Es ist kein Verwaltungsfehler, Quinn.«
»Natürlich, muss es sein. Du hast absolut perfekt argumentiert.«
»Tja, wohl nicht perfekt genug. Sieht so aus, als ob wir beide einen schlechten Tag hatten.«
Er verschränkt die Arme. »Sag mir, was genau in dem Schreiben steht.«
»Keine Lust. Ich will mich nicht noch mehr aufregen. Nutzt eh nichts. Verstehst du das?«
»Klar, verstehe ich.« Er nickt. Und zögert. »Schätze, das bedeutet, dass ich auch nicht bestanden hab.« Dann zuckt er die Achseln, als ob ihm das ziemlich egal wäre. Doch ich weiß, dass er unbedingt bestehen wollte. Schon allein, um seinem Vater zu zeigen, dass er aus eigener Kraft weiterkommen kann.
»Keine Nachricht heißt: Die Chancen stehen gut, dass du bestanden hast.« Ich sage nicht, was ich denke: dass nämlich sein Vater seinen Einfluss hat spielen lassen. Dass die Chancen für ihn vermutlich von vorneherein besser standen als für mich.
»Spielt keine Rolle. Ich will nicht von der Schule und allein aufs Institut gehen. Dann würde ich dich ja nie sehen. Unser Plan war doch, dass wir beide in das Programm aufgenommen werden.«
»Komm, lass uns das Thema wechseln. Was ist sonst noch passiert heute?«
»Nichts. Aber diese Impfungen … wie ich die hasse!«
Ich schlucke und spreche meine Vermutung aus. »Da steckt doch irgendein Mädchen dahinter, oder?«
Er seufzt und lacht. »Keine Ahnung, was da passiert, aber jedes Mal, wenn ich jemanden Tolles treffe, mutiere ich zu ’ner Art Comicfigur.«
Ich lächle gezwungen. Plötzlich würde ich tausendmal lieber über das Institut und das Führungskräfteprogramm sprechen. Über alles außer über Quinns Liebesleben.
»Du kannst dir nicht vorstellen, wie umwerfend sie ist!«
»Hm, das hast du von Tilly auch behauptet, und dann stellte sich heraus, dass sie die Maße eines Kobolds hat.«
»Stimmt«, lacht er, »Tilly war etwas kurz geraten.«
»Gib zu, sie war ein Kobold.«
»Aber die Neue, du weißt schon … die hat Augen …!« Er schüttelt den Kopf, als könne er es selbst nicht glauben.
»Sie hat Augen? Wow!«
»Nein, im Ernst. Sie hat total intensive grüne Augen. Hast du schon mal jemanden mit grünen Augen gesehen?«
Ich fasse es nicht! Er schaut mich an. Er schaut mir direkt in die Augen und bemerkt ihre Farbe nicht!
»Na ja, was soll’s. Alina hält mich sowieso für einen Idioten.«
Alina. Klingt irgendwie vertraut, der Name. Ich versuche, mich zu erinnern, aber ich kann mir kein Bild dazu ins Gedächtnis rufen. Unsere Schule hat mehrere Tausend Schüler.
»Na ja, manchmal bist du ja auch ’n Idiot.« Ich versuche, ihn zu necken, oder vielleicht auch zu flirten, keine Ahnung, aber er ist so niedergeschlagen, dass er nur zustimmend nickt.
»Eigentlich haben’s Ferris und Riley vermasselt. Echt, wenn du sie mal brauchst, sind sie nicht da, nie, aber wenn du sie absolut nicht gebrauchen kannst, dann kleben sie dir an den Fersen. Mann, bin ich froh, dass ich die nicht mit zum Campen eingeladen hab.«
»Wie bitte? Du hast überlegt, sie mitzunehmen?«
»Na ja, Ferris redet doch andauernd von dir. Warum gibst du ihm eigentlich keine Chance?«
Nun ist er es, der mich aufzieht. Letzte Woche wollte Ferris seine Hand unter meinen Rock schieben, und ich konnte Quinn gerade noch davon abhalten, ihm den Arm auszukugeln.
»Eine Chance wofür? Dafür, mich permanent runterzuputzen und lächerlich zu machen?«
»Armer Ferris«, lacht Quinn. »Er ist halt ein …«
»… perverser Spinner und Hohlkopf«, unterbreche ich ihn.
»Na, das ist jetzt aber ’n bisschen hart«, kichert er, dabei findet er Ferris genauso ätzend wie ich.
»Letztes Mal wollte er mich befummeln. Und wie war das noch mal, als er mit diesem Mädel bei dir ankam – bei dir, damit seine Familie keinen Sauerstoff nachzahlen muss? Brrr, ich will gar nicht dran denken, was er da alles mit ihr getrieben hat«, sage ich, obwohl ich schon viel zu viel daran gedacht habe.
»Nur keine Eifersucht. Du kannst dir mein Zimmer auch gerne ausleihen. Wann immer du willst.« Er zwinkert mir zu und prompt werde ich rot. Ich bin nicht sicher, wie er das meint.
»Quinn!« Ich knuffe ihn, und er hält sich stöhnend den Magen, mimt den Schwerverletzten. Wir prusten beide los und hören erst auf zu kichern, als die Frau vor uns sich umdreht.
»Ich versuche, die Nachrichten zu verstehen«, beschwert sie sich und deutet auf den Bildschirm. Wir schauen hoch. Wieder ein Bericht über die Terroristen. Jemand wurde gefasst, der das Luftrecyclingsystem sabotieren wollte. Das Schlimmste, was man sich vorstellen kann. Die Kuppel ohne Sauerstoff. Wir wären darin gefangen und würden elendig ersticken. Gänsehaut überläuft mich.
»Der mutmaßliche Terrorist Abel Boone«, sagt der Nachrichtensprecher, »ein Mitglied der Terrorzelle ›Rebellenarmee‹, wurde heute tot aufgefunden. Boone ist vermutlich bei dem Versuch erstickt, eine Verbindungsröhre zwischen der Luftrecyclinganlage Ost und der Kuppel zu beschädigen. In den nächsten Tagen ist mit Festnahmen weiterer Mitglieder der Zelle zu rechnen. Der Präsident ruft die Bevölkerung auf, Ruhe zu bewahren.«
Jetzt wird der Präsident eingeblendet, mit einer Journalistin an seiner Seite: »Glücklicherweise konnten wir eine Tragödie verhindern. Wir danken den Aufsehern für ihre Wachsamkeit und Entschlossenheit. Wir arbeiten rund um die Uhr daran, die Sicherheit in der Kuppel auch weiterhin zu gewährleisten. Wir werden nicht zulassen, dass blindwütige Akte des Terrorismus gegen Zehntausende unschuldiger Menschen unbestraft bleiben. Ich fordere alle Mitbürger auf, wachsam zu bleiben.«
»Und Ihre Botschaft an die Terroristen, Herr Präsident?«
»Den Terroristen sage ich: Lauft. Lauft, so schnell ihr könnt.« Er blickt in die Kamera und grinst über seinen Witz, weil ein laufender Bürger ein verhafteter Bürger ist, wenn es sich nicht gerade um einen joggenden Premium mit Sauerstoffflasche handelt. Auch die Journalistin lacht und die Frau vor uns ebenfalls. Aber ich lache nicht. Ich finde den Witz blöd.
Bevor der unvermeidliche Werbeblock beginnt, wird der Bildschirm dunkel.
Als wir unsere Haltestelle erreichen, bleibt Quinn auf seinem Sitz hocken. »Bist du sicher, dass wir nicht lieber zum Institut fahren und mit Professor Felling reden sollen?«, fragt er.
»Ja, bin ich.« Absolut sinnlos, mit irgendjemandem zu sprechen: Wenn solche Entscheidungen einmal getroffen sind, werden sie nicht mehr umgestoßen. Also steigen wir aus und gehen zum Campingladen, wo wir ein hellblaues Zelt und zwei extrawarme Schlafsäcke für unsere Tour kaufen. Außerdem besteht Quinn noch darauf, dass ich mir in der Premium-Damen-Abteilung Stiefel, einen Mantel, Mütze, Schal und Handschuhe aussuche. Als er schließlich bezahlt und die einfältig lächelnde Verkäuferin die Kreditkarte seines Vaters durchzieht, muss ich meinen Blick abwenden.
»Beim Gedanken, die Kuppel zu verlassen, wird mir ganz anders. Hätte ich nicht gedacht«, sage ich etwas kleinlaut auf dem Rückweg zur Haltestelle. »Keine Luft? Puh, was für ’ne merkwürdige Vorstellung.«
»Ach, mach dir keinen Kopf. Und überhaupt: Jetzt, mit all diesen Terrorakten, sind wir vielleicht draußen besser aufgehoben als drinnen. Und wenn wir schon ersticken müssen, ist es zusammen doch lustiger, oder?« Er zwickt mich leicht, versucht, meine Angst wegzuwitzeln. Er weiß eben nicht, dass ich am Ende wirklich mit ihm zusammen sein möchte. Ich meine, ganz am Ende. Dass ich lieber mit ihm zusammen draußen sterben würde als mit irgendjemand anderem in der Kuppel.