QUINN

Da ich nur einen Premium-Pass habe und es Tage dauern würde, einen zweiten zu beantragen, stellt Bea sich letztlich doch bei den Seconds an. Alina bleibt bei mir.

»Wir sollten wie ein Paar aussehen«, flüstert sie und nimmt meine Hand. Na, dagegen hab ich natürlich nichts einzuwenden.

Ich weiß, ich sollte mir Sorgen um Alina machen und natürlich auch um mich selbst. Aber egal, wie gefährlich das hier auch sein mag, es ist mit Abstand das Spannendste, was mir seit Jahren passiert ist. Schließlich kommt es nicht alle Tage vor, dass dich die Frau deiner Träume bittet, sie zu retten.

Alina sieht wie eine stinknormale Touristin aus. Sie lächelt sogar ein bisschen. Vermutlich wirke ich nervöser als sie. Als wir an die Spitze der Warteschlange vorrücken, straffe ich meine Schultern und richte mich auf.

Der Grenzbeamte am ersten großen Metalltor schaut mit einem Nicken auf mein Ohr und dann auf den Pass, den ich ihm gebe. Dann mustert er Alina und winkt uns schließlich zögernd durch das Tor zur Scan-Station.

Ich hole mein Pad hervor und halte es vor den Scanner, als Alina mich plötzlich am Handgelenk packt.

»Oh Gott, ich hab mein Pad vergessen«, sagt sie.

Natürlich! Daran hab ich gar nicht gedacht. Sie ist ja auf der Flucht, da kann sie schlecht ihr Pad scannen lassen. Man würde sie sofort aus dem Verkehr ziehen und sonst was mit ihr anstellen.

»Im Ernst?«, rufe ich laut und ziehe damit die Aufmerksamkeit der umstehenden Grenzer auf uns. »Na super, aber umkehren tun wir deswegen nicht, das sag ich dir gleich!« Wahrscheinlich übertreibe ich heillos mit meiner Empörung, aber ich weiß nicht, wie ich das sonst spielen soll. Ich versuche mich einfach in einer Art Ferris-Imitation.

Ein Grenzsoldat kommt angelaufen und postiert sich vor uns, die Hand am Gummiknüppel. »Gibt’s hier ein Problem?«

»Allerdings! Meine Freundin war so oberschlau, ihr Pad zu Hause liegen zu lassen!« Ich werfe einen kurzen Seitenblick auf Alina und hoffe, dass ich die richtige Schiene fahre. Alina wischt sich mit dem Handrücken über die Augen und schnieft.

»Ich glaub’s einfach nicht! Schauen Sie sich ihren Rucksack an und dann schauen Sie sich meinen an. Ich schleppe alles, sie fast nichts. Das Einzige, woran sie denken musste, war ihr Pad. Aber nein! Das lässt sie seelenruhig liegen. Typisch.« Entnervt hebe ich die Arme und der Grenzsoldat grinst. In dem Moment fällt mein Blick auf den Ehering an seinem Finger.

»Wir wollten uns eigentlich draußen verloben. Alles ist seit Ewigkeiten geplant. Und nun … tja, meine Liebe, das kannst du dir jetzt wohl abschminken.«

Der Grenzer hört auf zu lächeln und fasst mich am Arm.

»Na, na, so weit würde ich jetzt doch nicht gehen, mein Herr«, versucht er, mich zu beruhigen.

»Nein, wirklich nicht«, murmelt eine Frau hinter uns.

»Also lassen Sie uns raus?«

»Tut mir leid, aber ohne Pad muss Ihre Freundin erst mal mitkommen. Sie darf erst dann über die Grenze, wenn wir sie identifiziert haben.«

»Wissen Sie eigentlich, wer mein Vater ist?«, platze ich da heraus. Ich habe diesen Satz schon öfters gehört, aber aus meinem Mund klingt er total unecht. »Wenn wir nicht in fünf Minuten durch dieses Tor gehen, rufe ich meinen Vater und den Präsidenten an. Dann können Sie den beiden höchstpersönlich darlegen, warum Sie uns hier festhalten.«

»Den Präsidenten?« Unwillkürlich tritt der Grenzer einen Schritt zurück.

»Cain Knavery, ganz genau! Bin gespannt, wie Sie ihm erklären wollen, warum Sie seinem Schützling ohne guten Grund die Ausreise verwehren!« Inzwischen schreie ich regelrecht und prompt eilen sechs oder sieben Soldaten herbei. Einer zieht seinen Knüppel und deutet auf uns. Alina sieht mich mit einem Blick an, der sagt: Ich hoffe, du weißt, was du tust. Weiß ich natürlich nicht.

Während die Soldaten ihre Köpfe zusammenstecken und die Angelegenheit besprechen, vibriert mein Pad. Nachricht von Bea. Wahrscheinlich sind wir bis zur Second-Schlange zu hören – kein Wunder bei all dem Aufruhr, den ich hier veranstalte. Ist sie das wirklich wert?, schreibt Bea. Alina steht am Scanner, die Arme um den Oberkörper geschlungen. Ihre Haare fallen ihr strähnig in die Augen. Ich muss an unsere erste Begegnung in der Impfwarteschlange denken, als sie so wütend und energisch war. Da wollte ich nur eines: sie küssen. Und nun sehe ich sie, mit roten Flecken im Gesicht und rot geränderten Augen, und will ihr einfach nur helfen. Sie kämpft für etwas, das merkt man ihr an. Für etwas, an das sie offenbar fest glaubt, denn sonst würde sie all das hier nicht in Kauf nehmen. Sonst würde sie sich nicht mit mir abgeben. Ich schaue wieder auf Beas Nachricht und denke: Ja, dieses Mädchen ist es wert, absolut!

Jetzt löst sich ein Soldat aus der Gruppe. Er hat einen buschigen Schnauzbart, der die Oberlippe verdeckt, zusammengewachsene Augenbrauen, und überhaupt sieht sein Gesicht aus wie ein ungemachtes Bett.

»Geben Sie mir Ihr Pad«, sagt er.

Hastig schalte ich auf das Ausweisdisplay um. Der Grenzer schaut auf das Pad, dann auf mich, noch einmal aufs Pad, dann wieder auf mich. Dann scannt er den Ausweis. Eine digitale Stimme schnarrt: »Quinn Bartleby Caffrey – autorisiert.«

»Ihr Vater ist ein hoher Funktionär bei BREATHE?«, fragt er.

»Können Sie nicht lesen?« Ich klinge arrogant und ungeduldig, genau wie mein Vater.

»Das sagt allerdings noch nichts aus über Ihre Beziehung zum Präsidenten. Wie, sagten Sie, stehen Sie zu ihm?«

Ich rolle genervt mit den Augen, als würde mir jetzt wirklich der Geduldsfaden reißen, und nehme ihm mein Pad aus der Hand.

»So, jetzt reicht’s. Ich rufe Cain an«, schnaube ich und fuhrwerke auf der Tastatur herum. Schon nach wenigen Sekunden tippt mir der Grenzer mit seinem Gummiknüppel auf die Hand.

»Das ist nicht nötig, denke ich. Wir machen Ihnen einen Vorschlag: Wir lassen Sie und Ihre Freundin durch und Sie tun dafür etwas für uns.« Alles, würde ich am liebsten rufen, was immer Sie wollen. Ich mache alles für Sie.

»Sie sind wohl verrückt, was?«, schnauze ich stattdessen. »Wollen den Sohn eines Premiums bestechen. Einen persönlichen Freund des Präsidenten …«

»Sauerstoff«, unterbricht mich der Grenzer. Er hält seine Hände verschränkt, als würde er beten, und sieht in keiner Weise mehr bedrohlich aus, sondern nur noch traurig und verzweifelt. »Können Sie uns Sauerstoffflaschen beschaffen?« Er flüstert, damit die Touristen in den anderen Warteschlangen ihn nicht hören. »Nicht als Bestechung. Als Geschenk.«

Die anderen Wachposten lauschen aufmerksam. Sie wirken auf einmal gar nicht mehr verbissen und feindselig – nur noch erwartungsvoll.

»Meine Frau und ich haben seit Jahren nicht mehr miteinander getanzt … seit Jahren«, sagt der mit dem seltsamen Gesicht.

Wir starren uns eine ganze Weile an. Durchaus möglich, dass er weiß, dass ich lüge.

»Fünf Flaschen könnte ich Ihnen besorgen«, willige ich schließlich ein und blicke die Soldaten der Reihe nach an.

»Zehn. Und sie müssen binnen zweiundsiebzig Stunden hierher geliefert werden.«

»Acht. Und Sie kriegen sie innerhalb einer Woche.« Ich lass mich doch nicht über den Tisch ziehen.

»Öffnet das Tor!«, ruft der Grenzer.

Und das war’s.

Alina und ich passieren das zweite Stahltor und treten in einen Glastunnel, durch den auch alle anderen Touristen zockeln. Wir lehnen uns an die gewölbte Glasscheibe und warten auf Bea.

»Hast du Luft?«, frage ich Alina.

Noch immer leicht zitternd zieht sie eine Sauerstoffflasche aus ihrem Rucksack und befestigt sie an ihrem Gürtel. Dann streift sie die durchsichtige Silikonmaske über Mund und Nase und zieht den Gummiriemen am Hinterkopf fest, damit die Maske luftdicht abschließt. Ich krame meine Ausrüstung ebenfalls hervor und schnalle sie um.

Als Bea durch das Tor tritt und uns sieht, rennt sie auf uns zu, was natürlich nicht schlau ist. Aber bevor ich etwas sagen kann, fällt sie mir schon um den Hals und drückt sich an mich, dass es wehtut.

»Hey, brich mir nicht die Rippen!« Ich weiß, dass sie sich Sorgen gemacht hat, aber ich will jetzt nicht weiter darüber nachgrübeln. »Komm, ich helfe dir mit deiner Maske«, biete ich an. »Und dann sollten wir endlich aufbrechen.«

Wir gehen bis zum Ende des Glastunnels, in den jetzt das erste Tageslicht fällt, und als wir an der Drehtür ankommen, die nach draußen führt, betreten wir – Bea, Alina und ich  – mit einem gemeinsamen Schritt die sauerstofflose Welt.