ALINA

Eigentlich hatte ich vor, die alten Asphaltstraßen zu meiden, um nicht schon von Weitem für jedermann sichtbar zu sein. Eigentlich wollte ich mir meinen eigenen Weg ins Stadtzentrum suchen. Aber das ist nahezu unmöglich, wenn ich nicht alle naselang über bröselige Mauern und Zäune klettern will. Außerdem fängt es an zu regnen. Kein sintflutartiger Regen, aber stark genug, um die Felder in eine Sumpflandschaft zu verwandeln. Ich ziehe mir Beas Schal über den Kopf und knote ihn fest. Und entscheide mich dann doch für die aufgesprungene, von Schlaglöchern übersäte Straße – gegen die sicherere, aber unwegsamere Querfeldein-Variante.

In der Kuppel verdrängt man leicht, wie es im Ödland wirklich aussieht. Und wenn man als Tourist draußen ist, kann man auch erst mal meilenweit durch die Gegend wandern, ohne an das Blutbad erinnert zu werden, das hier mal stattfand. Doch je weiter man sich von der Kuppel entfernt, desto deutlicher sticht die Verwüstung ins Auge. Überall Trümmer und Müll, stille Zeugen des Chaos, das am Ende herrschte: Hunderte verrosteter Autos, Busse, Lieferwagen, Einkaufswagen, ausgebleichte Baumstümpfe, umgestürzte Telegrafenmasten. Hier und da entdecke ich kleine Gebrauchsgegenstände. Eine Zahnbürste zum Beispiel. Was wohl aus dem Eigentümer geworden ist? Die alten Reklametafeln hängen teilweise noch an den Hauswänden, aber ihre Botschaften sind längst verblichen. Es herrscht eine gespenstische Stille, meine Schritte sind das einzige Geräusch. Selbst das penetrante Sirren der Luftrecycler ist hier nicht mehr zu hören. Es gibt keine Straßenbahngeräusche und kein Stimmengewirr. Keine Menschenseele, die all die herumliegenden Löffel, Sonnenbrillen, Schubkarren, Tabletts, Flugdrachen oder Schüsseln wieder aufsammeln und nutzen könnte.

Dabei gab es hier mal massenhaft Menschen. Etliche Millionen allein in diesem Land. Vor vielen, vielen Jahren. Bis die Bevölkerung durch den Switch um 99,5 Prozent dezimiert wurde. Nicht nur hier, sondern überall auf dem Planeten. Die meisten Menschen starben innerhalb weniger Jahre. Wenn ich nur an die Leichen denke, an diese Riesenzahl von Toten, die in den Hinterhöfen ringsum verscharrt wurden, wird mir schlecht. Denn das mussten die Überlebenden tun, nachdem die Friedhöfe überquollen. Nicht einmal Massengräber konnten die große Anzahl an Leichen mehr aufnehmen, also wurden sie verbrannt. Und als die Überlebenden ihrerseits immer schwächer wurden, haben sie die Toten einfach liegen und verwesen lassen.

Ich erinnere mich an Videofilme aus dem Geschichtsunterricht: Leichen in Betten und Badezimmern. Leichen auf den Straßen, neben oder in verlassenen Fahrzeugen. Kleine Leichen und große, Erwachsene und Kinder, einige mit verwesendem Fleisch, andere schon zu Knochenhaufen zerfallen. Die Tiere waren zu dem Zeitpunkt längst verschwunden: Sie waren millionenfach geschlachtet worden, nachdem die Menschen kapiert hatten, was los war. Sie dienten als Nahrung, nachdem die Bauern nichts mehr anbauen konnten. Selbst Haustiere wurden aufgegessen. Der Gedanke, dass Tiere das gleiche Recht auf Luft und Leben haben könnten wie Menschen, war mit einem Schlag aus den Köpfen verschwunden. Aber Bäume und Pflanzen waren zu dem Zeitpunkt ja auch schon nicht mehr wertgeschätzt worden.

In der Ferne rumpelt Donner. Ich schaue hoch und stelle mir vor, dass der krumme Telegrafenmast vor mir in Wahrheit ein zweig- und blattloser Baum ist. Die Vorstellung macht mich wütend. Ich weiß, warum die Bäume gefällt wurden. Ich kenne das Problem: Die Weltbevölkerung hatte sich rasant vermehrt, ihr Nahrungsbedarf war extrem gestiegen. Also rodete man kurzerhand die verbleibenden Wälder, um die frei werdenden Flächen für die Landwirtschaft zu nutzen. Aber wie konnte man so blöd sein zu glauben, dass die Ozeane den Sauerstoffbedarf des gesamten Planeten decken könnten? Und wie konnte man sich so wenig darum scheren, mit welchen Methoden die Nahrung produziert wurde? Nichts wurde geschont, weder die Bäume noch die Erde. Und niemand hat den Schaden vorhergesehen, den Milliarden Tonnen Dünger und Pestizide anrichten würden, die von den Äckern in die Flüsse und Meere sickerten. Niemand konnte sich vorstellen, dass die Ozeane sterben könnten. Und obendrein so schnell. Aber so ist es immer. Wir denken immer, wir hätten Zeit. Haben wir aber nicht. Hatten wir auch damals nicht. Innerhalb weniger Jahre fiel der Sauerstoffgehalt der Atmosphäre auf ungefähr vier Prozent.

Das ist übrigens nicht die offizielle Version aus dem Geschichtsunterricht. Dort hat man uns erzählt, dass China an allem schuld war: all die Fabriken. Und Indien: all die Babys. Und Amerika: all die Konsumsüchtigen.

Der Regen ist jetzt stärker geworden. Ich öffne meinen Mund gen Himmel.

Eigentlich sollte ich mich glücklich schätzen  – als Abkömmling von Menschen, die es geschafft haben zu überleben. Aber wie hat die Menschheit überhaupt überlebt? Tja, da müssen wir uns wohl bei BREATHE bedanken. Ich blicke zurück, aber die Kuppel ist nicht mehr zu sehen. BREATHE-Ingenieure haben in ihren Labors, in denen sie wochenlang mit umgeschnallten Taucherflaschen hockten, eine Lösung ausgetüftelt. Die Taucherflaschen wurden übrigens zunächst nur an die wichtigen Mitglieder der Gesellschaft ausgegeben: an Ärzte, Richter, Politiker. An Künstler zum Beispiel nicht, denn welchen Nutzen konnten die schon haben? Oder die Obdachlosen? Die Kranken? Die waren die Ersten, die draufgingen.

Irgendwann rief die Regierung dann eine Lotterie ins Leben: Die Hälfte der Sauerstoffflaschen und Berechtigungsscheine für die Kuppel wurde an zufällig ausgeloste Bürger unter dreißig Jahren ausgegeben. Und so haben meine Großeltern, damals noch jung und fit, einen Platz gewonnen und wurden mit Sauerstoff versorgt, während die Kuppel gebaut wurde.

Allerdings kannten sich mein Großvater und meine Großmutter zu der Zeit noch gar nicht. Erst in der Kuppel haben sie sich kennengelernt, als Arbeiter in einer der Recyclingstationen. Sie sind gestorben, als ich noch klein war, und haben beide bis zuletzt nicht glauben wollen, dass sie den Großteil ihres Lebens unter einem Glasdach verbringen würden. Denn ursprünglich sollte die Kuppel eine Übergangslösung sein für die Zeit, bis sich Bäume und Plankton regeneriert hätten. Doch der Planet braucht Zeit, um zu genesen. Deutlich mehr Zeit, als man sich damals vorstellte. Auch jetzt, so viele Jahre nach dem Switch, ist der Sauerstoffgehalt erst auf sechs Prozent angestiegen.

Inzwischen setzt das Ministerium alles daran, um jede Hoffnung auf ein Leben außerhalb der Kuppel im Keim zu ersticken. Aber vielleicht ist die Vorstellung, dauerhaft unter Glas zu leben, für die Menschen von heute gar nicht mehr so schlimm, wie sie es damals für meine Großeltern war. Denn die kannten das andere Leben noch. Sie wussten, was sie vermissten. Sie haben den Switch miterlebt. Und sind nie darüber hinweggekommen.

Die Namen meiner vier Großeltern sind allesamt auf dem Gedenkstein des Ehrenmals eingraviert, aber es hätte keinen Sinn gemacht, anzuhalten und nachzusehen. Schon gar nicht mit Bea und Quinn im Schlepptau. Totenlisten interessieren mich nicht.

Ich komme an diversen Ruinen vorbei, zerbröckelten, moosbewachsenen Steinhaufen, die wohl mal alte Wohnhäuser waren. Die Stille ist schön.

Plötzlich sehe ich eine Ansammlung von Knochen auf dem Bürgersteig. Es ist ein ganzes Skelett, komplett gebleicht, weiß und ausgetrocknet. Die Knochen sind zu einem Haufen geschichtet, obenauf thront der Schädel. Wer hat das getan? Und wann? Könnten das Abels Knochen sein? Quatsch, was für eine alberne Vorstellung! Wie sollte er denn bis hierher gekommen sein? Außerdem ist er erst seit ein paar Tagen tot. Von ihm ist garantiert noch mehr übrig als ein Skelett. Oder nicht? In welchem Stadium der Verwesung befindet er sich? Nässend und aufgedunsen? Heimgesucht von Würmern?

Ich versuche, mir Abel so vorzustellen, wie ich ihn zuletzt gesehen habe: wie er mir am Eingang meines Hauses zum Abschied zugewunken und mir übertrieben zugezwinkert hat, während ich den Rucksack mit den Baumablegern festzurrte. Er hatte keinen Schimmer, dass er so gut wie tot war.

Und ich könnte ebenfalls tot sein, wenn ich in der Kuppel geblieben oder an der Grenze aufgehalten worden wäre. Oder wenn Quinn und Bea mich nicht rausgeschleust hätten. Quinn sah so gekränkt aus, als ich ihn und Bea vorhin einfach hab stehen lassen. Wahrscheinlich ist er bereits auf dem Rückweg, um seinem Vater alles brühwarm zu berichten. Ich bin sicher, dass er ein guter Kerl sein will, aber er ist und bleibt nun mal ein Premium, und Premiums kann man nicht trauen. Premiums haben zu viel zu verlieren. Und Bea hätte ich erst recht nicht mitnehmen können: Verliebte sind die Gefährlichsten von allen, Verliebte neigen zu völlig schwachsinnigen Aktionen. Ich selbst bin ja der beste Beweis dafür. Ich wollte unbedingt mit Abel zusammen sein. Und jetzt, wo er tot ist, hab ich fast das Gefühl, dass wir zusammen waren, obwohl gar nichts zwischen uns lief. Schon verdammt merkwürdig, dass die Zuneigung zu jemandem nach dessen Tod noch wachsen kann.

Mist, schon wieder derselbe Fehler: Anstatt wachsam zu sein und auf den Weg zu achten, grübele ich über Abel nach. Dabei könnte ich jederzeit aus dem Hinterhalt überfallen werden. Um mich herum sieht’s zwar total verlassen aus, aber das muss nichts heißen. Überall könnten sich Ausgestoßene verstecken. Oder BREATHE-Späher.

Plötzlich rumpelt es, als würde ein altes Rad auf mich zurollen. Reflexhaft schnelle ich herum und werfe mich zu Boden. Nichts Verdächtiges in Sicht. Zumindest nicht auf der Straße. Da rumpelt es wieder, und diesmal sehe ich, was es ist: eine Straßenlaterne, die offenbar schon vor Ewigkeiten gegen ein Gebäude gekracht ist und nun, von Windböen gerüttelt, an einem Fenstersims hin- und herrollt.

Fast immer, wenn ich außerhalb der Kuppel war, hat Silas mich begleitet. Er hatte einen Revolver dabei und ich ein Messer. Und nie ist uns etwas passiert. Nicht einen einzigen Ausgestoßenen haben wir gesehen. Wieso, verdammt noch mal, habe ich diesmal keine Waffe eingesteckt? Irgendwas muss ich mir einfallen lassen, um mich zu schützen. Ich lasse meinen Blick über das Gelände schweifen, aber außer kaputten Ziegelsteinen ist da nichts. Und die werden mir nichts nützen, wenn mir einer zu nahe kommt. Ich brauche etwas, womit ich weit ausholen und zur Not zuschlagen kann.

Die meisten Häuser entlang der Straße sind nur noch Steinhaufen, aber einige stehen noch, moosbedeckt. Und mit etwas Glück existieren in diesen Häusern noch Küchen. Und mit noch mehr Glück gibt es in den Küchen Schubladen voller Messer und Bratspieße. Außerdem ist mir kalt, trotz Quinns Pullover und des grünen Handschuhs. Mittlerweile schüttet es, der Schal um meinen Kopf ist völlig durchnässt. Und ich habe kein Stück wasserdichte Kleidung bei mir.

Die Türen der umliegenden Häuser sind eingetreten und die Fenster eingeschlagen. Vermutlich alles längst geplündert. Ich komme an einer Tankstelle mit verrosteten Autos vorbei. Bei einem steckt der Zapfschlauch noch in der Tanköffnung. Auf der anderen Straßenseite befindet sich eine kleine Krankenstation. Vielleicht sollte ich dort mal nachsehen. Aber ich hab Angst. Auf was für Knochenmengen werde ich da wohl stoßen? Auf wie viele Betten voller Leichen? Ein Stück weiter stehen noch deutlich mehr Häuser, relativ stattliche, mit wuchtigen Holztüren. Und nicht alle sehen geplündert aus. Wären sie nicht so bemoost, könnten sie glatt bewohnt sein. Aber Quatsch, das ist unmöglich. Ich schiebe den Gedanken beiseite, weil er beängstigender ist, als sich das Haus leer vorzustellen.

Mittlerweile klappern meine Zähne vor Kälte. Okay, ich werde also in einem dieser größeren Häuser Zuflucht suchen.

Ich klettere über eine niedrige Steinmauer und tappe durch den Vorgarten, wobei ich höllisch aufpassen muss, auf den bemoosten Wegplatten nicht auszurutschen.

Hätte ich mich doch bloß nicht von Quinn und Bea getrennt! Zu mehreren wäre es gleich viel erträglicher hier. Wobei ich momentan jeden als Begleitung nehmen würde – solange er nur lebendig ist. Eigentlich hab ich ja keine Angst vor Geistern. Ich glaube schlicht nicht an sie. Aber hier im Ödland scheint mir ihre Existenz auf einmal sehr glaubhaft.

Ich stemme mich gegen die schwere Tür, von der die Farbe fast komplett abgeblättert ist. Knarzend öffnet sie sich.