ALINA

Ich bin mir nicht sicher, ob sie uns gesehen haben oder nicht. Aber letztlich ist es eine müßige Frage. Wir ziehen weiter. Was sollen wir auch sonst tun? Die umliegenden Gebäude explodieren reihenweise, Betonbrocken regnen auf uns herab. Würden wir hierbleiben, wären wir in null Komma nichts erschlagen.

Ein Stück weiter geradeaus sehen wir den Eingang einer U-Bahn-Station. Er wirkt wie das gähnende Maul eines hungrigen Tieres und war offenbar mal mit dünnem Drahtgeflecht abgesperrt – dieses ist jedoch längst eingerissen. Als wir uns nähern, bleibt Maude wie angewurzelt stehen, und selbst als ich weitergehe und ihr dabei die Atemmaske vom Gesicht reiße, rührt sie sich nicht vom Fleck. Der Panzer hinter uns ist immer noch am Schießen und noch immer fliegen Trümmer durch die Luft. Bea packt Maude am Arm, zieht sie zu mir, hebt die Atemmaske vom Boden auf und streift sie ihr wieder über.

Doch die alte Frau ist wie von Sinnen. »Nich da rein!«, brüllt sie im Lärm der Explosionen und zeigt mit einem knotigen Finger auf den Eingang der U-Bahn-Station. »Nich in den Untergrund.«

»Los, komm, Bea«, schreie ich.

»Nicht ohne sie«, ruft Bea zurück und versucht, Maude in den Eingang zu ziehen. Doch die Alte ist stark – das habe ich am eigenen Leib zu spüren bekommen. Also drehe ich mich um und helfe Bea, Maude hinter uns herzuzerren.

»Nein!«, kreischt Maude, als würden wir Anstalten machen, sie umzubringen.

»Wir müssen weiter rein, nach unten. Könnte sein, dass sie den Eingang bombardieren«, erkläre ich.

»Aber Quinn ist doch noch irgendwo da draußen!«, schreit Bea.

»Wenn sie aufhören zu schießen, suchen wir nach ihm. Im Augenblick können wir ihm nicht helfen. Wir müssen jetzt da rein.«

Bea zögert einen Moment, dann steigt sie die stillgelegte Rolltreppe hinunter. Maude steht wie festgefroren da und starrt in den Rolltreppenschacht.

»Ihr w…wisst ja nich, w…was da unten drin is«, stammelt sie.

»Na ja, Sonne gibt’s da jedenfalls nicht. Also wird’s auch keine Ausgestoßenen geben, so viel ist schon mal klar«, sage ich und folge Bea.

Am Fuß der Rolltreppe ist es nachtschwarz. Ich höre Bea in ihrem Gepäck herumwühlen, dann leuchtet sie plötzlich mit einer Taschenlampe in die Dunkelheit. Die Station ist der größten Zerstörung entgangen. Die Wände sind zwar dreckig, aber ansonsten völlig intakt, die Bodenfliesen weitgehend erhalten und eben. Bea befestigt die Taschenlampe an ihrem Rucksack.

»Wir warten eine Weile und dann steigen wir wieder rauf, okay?«, sage ich, denn ich weiß, dass sie sich Sorgen macht wegen Quinn. Ich selbst bin auch etwas beunruhigt. Und hab ein schlechtes Gewissen. Wir hätten ihn nicht so ärgern sollen. Wir haben ihn als absoluten Deppen dastehen lassen  – verständlich, dass er abgehauen ist, um erst mal eine Runde zu schmollen.

»Er ist halt etwas weltfremd«, erklärt Bea, als hätte ich das nicht längst selbst gemerkt.

»Stimmt.«

»Aber er ist ein guter Kerl«, fügt sie hinzu.

»Ich hab nie was anderes behauptet.«

»Nur weil er Premium-Bürger ist, muss er noch lange nicht so sein wie die. Er ist anders, wirklich. Er hat zum Beispiel nie so getan, als wäre er was Besseres als ich.«

»Ist er ja auch nicht«, stelle ich fest, woraufhin Bea schweigt.

Und mitten in unser Schweigen hören wir oben ein gewaltiges Donnern. Wahrscheinlich ahnen sie, dass Quinn nicht alleine unterwegs war. Ob er ihnen von uns erzählt hat? Von mir?

Bea hockt sich neben Maude auf den Boden, die jetzt weint und jault wie eine kaputte Alarmanlage.

»Herrje, die soll endlich aufstehen!«, blaffe ich, extrabarsch, weil ich mir nicht anmerken lassen will, dass ich langsam Mitleid bekomme mit dieser alten, kranken, verzweifelten Frau.

»Komm schon, Maude«, versucht Bea sie zu beruhigen, zieht sie hoch und setzt sie auf die unterste Rolltreppenstufe. Dann stellt sie sich neben mich, löst – ohne mich zu fragen  – Maudes Sauerstoffflasche von meinem Handgelenk und reicht sie der alten Frau. Ich überlege kurz, ob ich sie ihr wieder wegnehmen und Bea daran erinnern soll, dass wir einen Deal haben: Wir lassen Maude am Leben, sorgen aber dafür, dass sie nicht weglaufen oder uns noch mal angreifen kann. Aber dann wird mir klar, dass Maude gar nicht abhauen kann. Wohin denn?

»Wenn sie die Sauerstoffflasche wiederkriegt, musst du ihr zumindest die Hände zusammenbinden. Sonst kann sie sich jederzeit auf uns stürzen.«

»Das wird sie nicht«, entgegnet Bea.

»Woher willst du das wissen? Los, binde ihr die Hände zusammen.«

Bea geht zu ihrem Rucksack, zieht ein Seil daraus hervor und wickelt es um Maudes Handgelenke. Maude stöhnt nur und deutet zum Bahnsteig.

»Nein, dazu könnt ihr mich nich zwingen«, keucht sie. Ich stehe auf und gehe auf den Bahnsteig. »Nein, nicht!«, brüllt sie.

»Was ist denn in dich gefahren? Es gehen doch ständig Leute durch den Tunnel.« Die U-Bahn-Tunnel waren schon immer unsere sichersten Wege in die Stadt hinein und aus der Stadt heraus. Vor allem, weil sich dort keine Ausgestoßenen rumtreiben.

»Und was is mit den ganzen Körpern?«, fragt Maude.

»Die sind doch längst verwest«, erkläre ich und gehe dabei geflissentlich über den Gestank hinweg, der noch immer in den Tunnels hängt. Den riecht sie wahrscheinlich selbst.

»Das is ’ne Todesstation«, flüstert sie.

Bea springt auf und lässt das Licht der Taschenlampe schweifen, so als erwarte sie, jeden Moment überfallen zu werden. Da dröhnt plötzlich der ganze U-Bahn-Schacht, als hätte es oben einen weiteren Einschlag gegeben.

»Es wird schlimmer«, sagt Bea. Ich nicke. Sie denkt an Quinn. Das tue ich auch.

»Ich war mal Krankenschwester«, erzählt uns Maude. »’ne junge Krankenschwester. Also, besser gesagt ’ne Lernschwester. Ich war noch nich mit allen Prüfungen fertig, als die Schwesternschule dichtmachte. Aber die Leute brauchten Krankenschwestern und es gab nun mal nich genug, und deshalb mussten sogar die Lernschwestern ran. Die Leute brauchten uns doch. Wir wurden richtig gebraucht. Und wir ham unser Bestes gegeben.«

»Aber was konntet ihr denn tun? Ihr konntet ja bestimmt nicht alle retten«, sagt Bea.

»Nee, eben. Und deshalb ham wir das Gegenteil gemacht. Hier unten. Genau hier.«

»Wie meinst du das?«, flüstert Bea.

»Na, die Leute kamen und ham auf ’n Bahnsteigen gewartet und die Ärzte und Schwestern sind durch die Tunnel gelaufen, von Station zu Station, und ham getan, was sie konnten.«

Bea steht ganz angespannt da, mit gerunzelter Stirn und zusammengekniffenen Augen, so angestrengt versucht sie zu begreifen, was Maude da erzählt.

»Ihr habt die Leute umgebracht«, sage ich.

Maude umklammert ihre Knie mit den Armen.

»Nee, wir ham sie von ihrem Elend erlöst. Hätt doch sonst keiner gemacht. War ja illegal.«

»Todesstationen«, murmelt Bea.

»Am Ende war’s die einzige Lösung. Und außerdem kamen sie ja zu uns. Waren alle möglichen Leute. Obwohl, meistens waren’s Arme. Solche, die wussten, dass sie keine Chance hatten, sich’n Platz inner Kuppel zu kaufen.«

»Todesstationen«, wiederholt Bea und zuckt zusammen, als eine weitere Explosion den Rolltreppenschacht erschüttert.

»Einmal, da hab ich geholfen, hier unten ’n Kind zu entbinden«, fährt Maude fort. »Und was warn die ersten Worte der Mutter, als ich ihr sagte, dass sie ’n Jungen hat? ›Tu es‹. Ich wusst natürlich gleich, was sie meinte. Wir alle wussten’s. Aber wie konnt ich das tun?« Maude spricht inzwischen doppelt so schnell und mehr zu sich selbst als zu uns.

Bea starrt sie an, wie hypnotisiert. »Was ist mit dem Baby passiert?« In ihren Augen stehen Tränen.

»Hab die Mutter befreit. Befreien  – so haben wir’s genannt. Befreien – die Freiheit zurückgeben. Dann hab ich das Baby genommen und es auf die Treppe vorm größten Haus gelegt, das ich finden konnte.«

»Und nachdem du mit deinem barmherzigen Treiben hier fertig warst, bist du in die Kuppel gegangen und hast einen Job bei BREATHE angenommen?« Sorry, aber ich kaufe Maude ihre Reuetour nicht ab.

»Nee, sie ham uns rekrutiert. Sie ham uns ’nen Platz in der Kuppel versprochen. Sie ham rausgefunden, was wir hier gemacht ham, und deshalb ham sie uns ausgewählt. Die dachten, wir wärn gnadenlos. Na ja, warn wir ja vielleicht auch. Egal, die letzten Bäume auszurotten war jedenfalls besser, als Leute umzubringen.«

»Du kotzt mich an«, sage ich, und ich meine es genau so, wie ich es sage. Ich hätte niemals auf Beas weiches Herz hören sollen. Ich hätte die Alte in ihrer Bruchbude verrotten lassen sollen.

Maude murmelt etwas, das ich nicht hören kann.

»Was hast du gesagt?« In den hallenden Gängen kommen meine Worte als Echo zurück. Sie klingen bitter und hohl.

»Ich sagte, ich kotz mich selbst an.«

Was kann man da noch erwidern? Nichts. Also halte ich meine Klappe. Bea nickt und rückt dichter an Maude heran. Sie umarmt sie nicht gerade, vielleicht weil sie so dreckig und runtergekommen ist, aber sie tätschelt ihr die Hand. Ganz sanft. Keine Ahnung, wo sie all ihr Mitgefühl hernimmt.

Plötzlich beginnt die Erde zu beben, und ein Getöse, als würde eine ganze Steinlawine in den U-Bahn-Schacht donnern, holt uns zurück in die Gegenwart.

Schreckensstarr stehen wir da, doch so plötzlich, wie er begonnen hat, verklingt der Krach, und wir meinen, den Panzer wegfahren zu hören. Wenn sie Quinn nicht gefasst haben, dann haben ihn vermutlich irgendwelche herumfliegenden Trümmer erwischt.

»Lass sie hier und schnapp dir die Taschenlampe«, weise ich Bea an.

»Nee, lasst mich nich allein in dieser verdammten Finsternis«, wimmert Maude, während ich schon die Rolltreppe hochrenne.

»Wir sind gleich wieder da«, ruft Bea über die Schulter zurück und folgt mir.

Komischerweise wird es nicht heller, und ich kann nur deshalb etwas sehen, weil Bea mit ihrer Taschenlampe direkt hinter mir läuft. Oben angekommen, blicke ich mich um.

»Sind wir vorhin zwei Etagen runtergestiegen?«, frage ich, als Bea auf meiner Höhe ist.

»Nein, der Ausgang müsste direkt dort drüben sein.« Sie richtet den Lichtkegel auf einen Haufen Ziegelsteine – und schaut mich entsetzt an.

»Quinn ist da draußen! Wir müssen ihm helfen!«, schreit sie.

Sie läuft in Richtung Ausgang und beginnt, wie eine Wahnsinnige Steine in alle Richtungen zu werfen. Aber es ist absolut hoffnungslos. Das gesamte Dach ist eingestürzt. Selbst wenn wir zu zwanzigst wären, würden wir Tage brauchen, um uns durch den Schutt nach draußen zu graben. Ich lasse Bea eine Weile mit den Steinen herumwüten. Dann gehe ich zu ihr.

»Hier kommen wir nicht raus. Wir müssen durch den Tunnel«, sage ich.

Aber sie beachtet mich gar nicht. »Ich glaube, ich kann ihn hören. Was, wenn er unter diesem Haufen begraben ist? Hilf mir bitte, ja? Hilf mir!«

Ich lege ihr eine Hand auf die Schulter, während sie sich abmüht, eine Eisenstange aus dem Geröllhaufen zu ziehen. »Bea«, sage ich sanft.

»Vielleicht ist Quinn tot«, sagt sie. »Quinn«, wiederholt sie leise.

Sie liebt ihn, das steht fest. Aber er ist so blind und selbstvergessen, dass er es überhaupt nicht bemerkt hat. Und jetzt erfährt er’s vielleicht auch nicht mehr. Ob Bea selbst sich überhaupt im Klaren ist über ihre Gefühle?

»Kann ja auch sein, dass sie ihn mit zurück in die Kuppel genommen haben«, sage ich, obwohl ich das bezweifle. Sie hätten wohl kaum so in der Gegend rumgeballert, wenn sie Quinn einfach nur eine freundliche Mitfahrgelegenheit hätten anbieten wollen. »Und vergiss nicht: Er ist ein Premium. Premiums geschieht nichts. Obendrein arbeitet sein Vater bei BREATHE. Einem wie Quinn etwas anzutun, ist einfach zu riskant.«

»Aber er ist gerannt. Das haben wir doch selbst gesehen. Und dann haben sie das Feuer eröffnet. Warum lügst du mich an?«

»Ach was, Quinn ist schnell. Er hat wahrscheinlich schon den halben Weg zum Rebellenhain hinter sich gebracht.«

»Aber er kennt den Weg doch gar nicht. Wie sollte er denn dorthin finden?«

»Er wird schon hinfinden. Er macht sich bestimmt wahnsinnige Sorgen um dich und wird deshalb alles dransetzen, um dorthin zu gelangen.«

»Nein. Wird er nicht. Und außerdem will er etwas von dir, nicht von mir. Er wird sich Sorgen um dich machen. Er ist doch völlig verrückt nach dir. Aber das hast du sicher selbst schon gemerkt, oder?« Bea blickt mich prüfend an, und ich sehe, wie sehr sie sich wünscht, dass ich ihr widerspreche. Dass ich sage: Nein, Quatsch, ich habe überhaupt nichts gemerkt. Und wieso sollte er in mich vernarrt sein, so ein Blödsinn.

»Er kennt mich doch überhaupt nicht, Bea«, sage ich stattdessen. Was ja auch stimmt. Ein Bild von Abel schießt mir durch den Kopf: seine breiten Schultern, seine zu einem Lächeln gekräuselten Lippen, wenn er mich geneckt hat. Wenn Quinn noch lebt, werde ich ihm sagen, dass er sofort aufhören soll, mich anzuglotzen. Ich will nicht, dass mich ein Typ je wieder so anschaut.

»Hier werden wir jedenfalls nicht durchkommen«, wiederhole ich und deute auf den Trümmerhaufen.

Wenn Quinn vom Pinkeln zurückgekommen wäre, hätte ich so getan, als würde ich ebenfalls kurz verschwinden – nur dass ich nicht pinkeln, sondern mich endgültig aus dem Staub machen wollte. Und selbst als der Panzer uns unter Beschuss nahm, habe ich noch überlegt, in die entgegengesetzte Richtung abzuhauen als Bea und Maude. Das wäre mir lieber gewesen, als Petra zu erklären, warum ich völlig unangekündigt Fremde mit anschleppe. Aber es hat nicht geklappt, weil Maude bei mir im Schlepptau hing. Und jetzt sieht es so aus, als hätte ich sie alle beide dauerhaft am Hals.

»Es ist zwecklos, hierzubleiben«, wiederhole ich.

Da hebt Bea einen losen Stein vom Boden auf und wirft ihn von einer Hand in die andere, immer hin und her. Und dann plötzlich knallt sie ihn mit voller Wucht gegen einen alten Fahrkartenautomaten.

»Wenn Quinn es nicht überlebt, dann bist du Schuld«, sagt sie.

Und ob es mir gefällt oder nicht, ich muss es akzeptieren: Jetzt habe ich auch noch Quinn Caffreys Blut an meinen Händen.