QUINN

Ich will ja nicht paranoid erscheinen oder so, aber Inger und Silas sind seit mindestens einer Meile total vertieft in ein Gespräch. Es geht um irgendwas Ernstes, das spüre ich. Kann es sein, dass sie planen, mich umzubringen? Auch wenn sie mir gestern noch das Leben gerettet haben?

»Wir haben nicht wirklich ’ne Alternative«, sagt Inger gerade und nickt in meine Richtung. Dann bleibt er stehen und holt einen zerknitterten Faltplan hervor, der mit kleinen grünen Kreuzen übersät ist. »Hier«, sagt er und deutet auf eines von ihnen.

Silas bleibt jetzt auch stehen. »Wo hast du die denn her?«

Er nimmt Inger die Karte ab und betrachtet sie. Ich linse über Silas’ Schulter, um zu sehen, wo wir uns gerade befinden, kann aber nichts darauf erkennen.

»Hab sie selbst gezeichnet. Petras Befehl. Ist fast fertig.«

»Du hast sie selbst gezeichnet? Und die Kreuze sind alles Solar-Atemgeräte?«, fragt Silas.

»Ja.« Inger schaut mich kurz an und wendet dann rasch den Blick ab.

»Aber was ist mit den …?«, beginnt Silas.

»Die meisten von ihnen waren bereits tot«, sagt Inger.

»Und die, die es nicht waren?«, fragt Silas. »Du hast sie doch wohl nicht …?« Jäh weicht er ein paar Schritte zurück.

»Natürlich nicht! Das ist einfach nur ’ne Übersichtskarte. Petra wollte sie für Notfälle. Wenn ich auf welche gestoßen bin, die noch lebten, hab ich natürlich kein Kreuz gemacht. Schließlich kann man ja nicht wissen, ob sie mit dem Gerät nicht noch umherziehen.« Dann macht Inger eine Kopfbewegung in meine Richtung. »Seine Flasche ist gleich leer. Schraub das Ventil weiter zu.«

Silas kommt zu mir und dreht am Ventil meiner Flasche. Für ein paar Sekunden glaube ich, dass er es um volle dreihundertsechzig Grad dreht. Dass er es einfach dicht macht und mich röchelnd in der Gegend stehen lässt. Aber das tut er nicht.

»Kein Stress, ich reduziere nur den Sauerstoffgehalt. Atme normal weiter«, sagt er.

Ich spüre, wie die Luft dünner wird, und versuche, seinem Rat zu folgen, doch der Sauerstoffmangel macht mich total panisch. Ich beginne zu hyperventilieren.

»Hey, jetzt entspann dich.«

Silas schüttelt mich, was mich nur noch schwindeliger macht. Ich schwanke auf ihn zu, und er muss mich auffangen, damit ich nicht umkippe. Also dreht er das Ventil wieder auf, und als ich einigermaßen normal atmen kann, nicke ich.

Silas und Inger werfen sich einen Blick zu, dann gibt Inger einen grunzenden Laut von sich. »Wir haben keine andere Wahl«, wiederholt er. »Lass uns gehen.«

»Ist irgendwas los?«, frage ich in möglichst beiläufigem Ton. »Wie weit ist es noch?«

Silas und Inger flüstern sich etwas zu, dann ändern sie plötzlich die Richtung.

»Jungs?« Mittlerweile ist meine Stimme nur noch ein Krächzen.

Unvermittelt bleibt Silas stehen, blickt an der Fassade eines großen, rot geziegelten Hauses hoch und reibt sich nachdenklich die Stirn.

»Wir haben schon jahrelang keine Zips mehr zu Gesicht bekommen. Dass jetzt welche hier rumfliegen, kann nur eines bedeuten: Es gibt Probleme. Die sind auf der Jagd. Petra wird unsere Hilfe brauchen«, erklärt Inger. »Wenn wir jedoch unsere Luft mit dir teilen, werden wir langsamer und erreichen den Rebellenhain womöglich nicht rechtzeitig, um sie zu warnen. Falls wir überhaupt genug Sauerstoff haben, um es zu dritt bis dorthin zu schaffen – egal, in welchem Tempo wir laufen. Schließlich verbrauchst du deutlich mehr als wir. Teilen kommt also nicht infrage.« Inger hat auf einmal etwas fast Militärisches an sich. Er hat sogar ’ne richtig stramme Haltung angenommen.

»Wenn du weiter hinter uns herläufst, dann geht dir irgendwann die Luft aus, und dann finito«, fasst Silas zusammen.

»Mit anderen Worten: Wir stecken in einer ausweglosen Situation.« Inger klingt jetzt fast feierlich. Wahrscheinlich, weil er soeben beschlossen hat, meinem Elend ein Ende zu bereiten. Und vielleicht wäre es ja tatsächlich das Beste: Ich hab mal irgendwo gehört, dass Tod durch Ersticken die schlimmste Art zu sterben sein soll. Ich straffe meine Schultern. Silas betrachtet wieder das rot geziegelte Haus.

»Na ja, ausweglose Situation ist vielleicht etwas übertrieben«, rudert Inger zurück und führt mich nach einem kurzen Blick zum Himmel in das Gebäude, das Silas die ganze Zeit angafft.

Nach wenigen Schritten stehen wir in einem Treppenhaus mit extrem steilen Treppen.

»Los, kletter auf meinen Rücken«, befiehlt Silas. »Sonst schaffst du’s nicht bis aufs Dach.«

Ich schlucke mein letztes bisschen Stolz herunter und tue, was er sagt. Und dann trägt mich Silas huckepack die Treppen rauf, insgesamt zwölf Stockwerke hoch, das kann ich an den Türen ablesen, auf denen die Etagenzahlen markiert sind. Als uns nur noch eine Treppe von der Tür mit der Aufschrift ›Dach‹ trennt, schüttelt Silas, inzwischen selbst keuchend, mich ab. Inger drückt die schwere Feuertür auf und wir stehen plötzlich im Sonnenlicht, auf einem Dach, von dem aus man endlose Reihen verfallener Wohnblöcke und halb verschütteter Straßen sieht.

Am Horizont zeichnen sich die Umrisse riesiger Gebäude mit Kuppeln und Türmchen ab. Ich habe sie mal auf Fotos gesehen, kann mich aber nicht an ihre Namen erinnern. Wenn ich doch nur Bea oder Alina entdecken könnte, oder zur Not auch Maude! Aber in dem Labyrinth der schneebedeckten Ruinen ist keine Menschenseele zu erblicken.

Inger führt uns zur gegenüberliegenden Ecke des Daches, wo unter einer dicken, schweren, durchsichtigen Plastikplane ein Solar-Atemgerät steht. Mit einem Ruck zieht er die Plane herunter, dreht an einem Knopf des Respirators und schüttelt ihn, bis er brummend anspringt. Dann nimmt er seine Atemmaske ab und presst sich die dreckige Maske aufs Gesicht, die an dem Respirator hängt. Ein paar Sekunden atmet er tief ein und aus, dann reicht er mir die Maske.

»Hier, deine Rettungsleine.«

Ich setze meine Maske ab und ziehe die über, die Inger mir hinhält. Die Luft, die aus dem Respirator kommt, ist feucht und riecht schlicht zum Kotzen.

»Das Ding ist noch für drei Monate geladen«, erklärt mir Inger. »Aber leider ist es nicht tragbar. Ist noch eins von den alten Modellen.«

»Und wie komme ich dann zurück?«, frage ich entgeistert.

Silas scheint erleichtert, dass ich inzwischen wenigstens kapiert habe, was hier abläuft.

»Ich werde versuchen, dich zu holen. Oder ich schicke jemanden vorbei«, verspricht er.

»Wann?«

»Solange wir nicht wissen, was im Rebellenhain los ist, kann ich das nicht genau sagen.«

»Aber dann werde ich ja verhungern.«

»Ach was, wenn man Wasser hat, kann man wochenlang überleben«, beruhigt mich Inger.

»Aber ich habe kein Wasser.« Ich weiß selbst, wie verängstigt ich klinge, und gebe mir inzwischen auch keine Mühe mehr, meine Angst zu kaschieren.

»Es wird in den nächsten Tagen immer wieder schneien. Und hier oben findest du genügend Behältnisse.« Silas deutet auf ein paar Schüsseln und Eimer, die auf dem Dach verstreut herumliegen. »Die füllst du dir einfach mit Schnee.«

»Und wenn ein Fahrzeug des Ministeriums vorbeikommt, dann wirf etwas runter und ziehe deren Aufmerksamkeit auf dich. Oder winke den Zips zu. Du bist ’n Premium. Dir werden sie nichts tun. Erzähl ihnen, wir hätten dich gekidnappt oder so«, rät Inger.

Ich würde ihnen gerne hoch und heilig versprechen, dass ich die Rebellen niemals verraten werde, aber das kann ich nicht. Ich würde gerne schwören, dass ich bereit wäre, für ihre Sache zu sterben  – aber wer weiß, wozu ich fähig bin, wenn ich fast verhungere und Todesangst habe?

»Ich hoffe, ihr findet sie«, sage ich deshalb nur. »Und wenn ihr sie findet, dann sagt Bea …« Ich halte inne.

»Wir kommen und holen dich«, verspricht Inger.

»Wenn das alles stimmt, was du uns erzählt hast, dass du Alina gerettet hast und so … dann, na ja, danke«, fügt Silas mit überraschend weicher Stimme hinzu.

Bevor ich auch nur überlegen kann, wie ich mich von ihnen verabschieden soll, haben sie sich bereits abgewandt und sind durch die Tür ins Treppenhaus verschwunden. Ich bin allein.