Seit Stunden haben wir kein Wort miteinander gewechselt. Nichts scheint so wichtig, als dass es ausgesprochen werden müsste. Als Silas mich schließlich eine Treppe hinaufführt und so lange an eine Tür klopft, bis uns jemand öffnet, ist es bereits dunkel. Ich stolpere ihm einfach nur hinterher, den Blick wie benommen zu Boden gerichtet. Ich habe aufgehört, die Dinge um mich herum wahrzunehmen.
Wir haben den Rebellenhain erreicht. Eigentlich dürfte ich vor Staunen den Mund nicht mehr zubekommen: Der Hain ist ein altes Fußballstadion. Aber wie könnte mich der Gedanke an Fußball noch begeistern? Mein Vater. Meiner. Ich krieg sein Gesicht einfach nicht aus dem Kopf. In meinem Kopf verwandelt sich mein Vater langsam in einen Teufel. Mit Hörnern, einem Schwanz und einem qualmenden Dreizack. Und trotzdem wird er immer der Vater bleiben, der mich als kleines Kind zum Spielen mit in den Park nahm. Der Vater, der abends, wenn die Zwillinge eigentlich längst schlafen sollten, ihre Füße kitzelte. Der Mann, der den schwangeren Bauch meiner Mutter küsst, bevor er zur Arbeit geht. Ja, auch das ist mein Vater.
Silas flüstert mit jemandem und ein paar Minuten später schreitet eine dunkelhäutige Frau in einem langen Mantel auf uns zu. Sie hat eine Peitsche in der Hand und wird von einem kleinen Mädchen begleitet.
»Ist das eine Familientradition? Was soll das bedeuten?«, fragt sie.
»Ich hatte keine andere Wahl.«
»Halte dich an die Regeln!«, schnauzt sie. »Du hast bereits eigenmächtig Mitglieder rekrutiert. Man kann nur von Glück sagen, dass das Ministerium diesen Abel-Typen, wer immer das war, getötet hat.«
»Was? Nein, ich habe die Autorisierung für Abel nicht erteilt. Er hat mir gesagt, dass Alina …«
Doch weiter kommt er nicht, denn die Frau schlägt ihm mit dem Peitschenstiel direkt ins Gesicht. Sie ist fast zwei Köpfe kleiner als Silas und ihre Fäuste sind wahrscheinlich nicht mal halb so groß wie seine, aber er schlägt nicht zurück. Er steht einfach nur da und sieht klein und wütend aus.
»Ich habe dir nie widersprochen«, sagt er dann. »Aber die Dinge da draußen haben sich geändert. Sie sind nicht mehr sowie früher. Wir brauchen neue Regeln. Wir brauchen einen Plan. Unsere Gegner sind weitaus zahlreicher als zuvor. Sie haben Truppen zusammengezogen. Während wir hier reden, marschiert eine komplette Armee durch die Stadt. Wir haben höchstens noch ein paar Tage, um uns bereit zu machen. Sie werden uns auslöschen, wenn sie uns hier finden. Auslöschen!«
»Das sind alles keine Neuigkeiten. Roxanne und Levi waren heute draußen. Levi hat sie gesehen. Wir haben einen Planungsstab eingerichtet, der das Problem angeht.«
»Keinen Planungsstab, Petra. Dafür ist es zu spät. Wir sollten fliehen. Sollten nach Norden flüchten, zur Sektion ›Redwood‹ oder zu den Poplars. Oder westwärts nach Sequoia«, drängt Silas.
Das also ist Petra. Alina hat von ihr gesprochen wie von einer Halbgöttin. Dabei ist sie einfach nur eine Frau.
»Maße dir nicht an, mir zu erzählen, was wir zu tun haben.« Wieder erhebt Petra die Hand, doch diesmal schlägt sie Silas nicht, denn das Mädchen an ihrer Seite greift nach der Peitsche. Petra blickt Silas finster an, schließt kurz die Augen und wendet sich dann mir zu.
»Du bist also der Premium.« Sie zieht mich an meinem tätowierten Ohrläppchen zu sich heran und kneift hinein. Ich schreie auf. »Und du bist nicht ansatzweise so tot, wie Alina mir weismachen wollte«, stellt sie fest und lässt mich los.
»Wie? Was meinst du damit? Du weißt von ihm? Alina ist hier?«, fragt Silas.
Petra verschränkt die Arme, redet aber nicht weiter.
»Ja, Alina ist hier, Silas«, sagt das Kind, woraufhin Silas einen tiefen Seufzer der Erleichterung ausstößt. »Sie ist am Schießstand. Ich kann dich hinbringen.«
Silas streichelt der Kleinen über den roten Lockenkopf und sie lächelt ihn an.
»Was ist mit den anderen?«, frage ich. »Sind die auch hier? Und wenn ja, wo? Kannst du mich zu ihnen bringen?«
»Wir wissen nicht, von wem du redest, nicht wahr, Jazz?«, lässt sich Petra vernehmen, woraufhin das Mädchen langsam den Kopf schüttelt.
»Quinn wird uns nützlich sein«, beteuert Silas und stellt sich vor mich, wofür ich ihm wirklich dankbar bin, denn Petra schwingt schon wieder ihre Peitsche. »Sehr nützlich sogar. Er hat nämlich Beziehungen.«
»Nützlich? Ja, könnte sein, dass wir einen menschlichen Schutzschild brauchen, wenn die Schlacht losbricht«, bemerkt Petra. »Ich hoffe, er ist schussfest. Oder wenigstens schaumresistent.«
»Im Ernst, ich glaube wirklich, dass ich helfen kann«, murmele ich.
»Du hast doch nicht mal die leiseste Ahnung, was wir hier überhaupt tun. Und jetzt Schluss mit diesem Bullshit!« Petra schnipst mit den Fingern. »Levi, bring den Premium irgendwohin, wo er keine Scherereien machen kann.«
Kurz darauf erscheint ein Typ und nimmt mich in den Polizeigriff.
»Silas!«, rufe ich. »Frag Alina nach Bea! Ich muss wissen, wo Bea ist!«
Aber Silas starrt mir nur mit leerem Blick hinterher, ohne mir das kleinste Signal zu geben, dass er mich verstanden hat. Er weiß ja nicht mal, wer Bea ist. Also ist es ihm wahrscheinlich auch egal, was mit ihr geschieht.
Aber mir ist es nicht egal.
Mir ist es absolut nicht egal.