Ich vermute, dass es Morgen ist, obwohl ich keinen konkreten Anhaltspunkt dafür habe. Alles, was ich weiß, ist, dass wir schon seit Stunden ohne Wasser, Licht, Essen und ausreichend Sauerstoff hier drinnen hocken.
Auch Maude hat das Obst nicht im Magen behalten. Die ganze Zelle stinkt. Maudes Bewegungen werden langsamer. Sie sitzt nicht einmal mehr, sondern liegt nur noch dösend auf dem Boden, schreckt stündlich hoch von irgendeinem neuen Albtraum. Ich habe ebenfalls versucht zu schlafen, an die Wand gelehnt und mit Maudes Kopf auf dem Schoß. Jetzt streichle ich ihr über das stumpfe Haar und lausche ihrem Atem.
Ich habe keinen blassen Schimmer mehr, auf welcher Seite ich stehe. Mir ist klar, dass das Ministerium uns unterdrückt, dass es meine Eltern ausbeutet und uns abhängig macht: Die hohen Sauerstoffdosen, die es in uns reinpumpt, verhindern ein Überleben außerhalb der Kuppel. Mir ist auch klar, dass ich in der Kuppel niemals eine Position erlangen kann, die es mir ermöglichen würde, meinen Eltern zu helfen – außer, ich heirate einen Premium. Auf der anderen Seite gab es in der Kuppel wenigstens die Illusion von Freiheit. Die Rebellen hingegen geben vor, für Freiheit und Gerechtigkeit zu stehen, verhalten sich uns gegenüber jedoch gnadenlos und unbarmherzig. Und frei bin ich hier auch nicht, ganz sicher nicht. Mir geben sie zwar zu essen, aber um Maude kümmern sie sich einen Dreck.
Alina würde mich jetzt an Maudes dunkle Vergangenheit erinnern, an ihre aktive Rolle beim Ausrotten der Bäume. Aber was spielt das noch für eine Rolle? Maude stellt nicht mehr die geringste Gefahr dar, für niemanden. Und sowieso kriege ich in meinem Kopf die zwei Bilder von Maude nicht so recht zusammen: die Mörderin und das zusammengeschrumpfte Persönchen auf meinem Schoß.
Ich versuche, ihr kleine Liedchen vorzusingen – Lieder, die meine Mutter mir als Kind vorgesungen hat –, denn irgendwie scheint Maude weniger aufgewühlt, wenn ich singe.
Weißt du, wie viel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?
Weißt du, wie viel Wolken gehen
weithin über alle Welt?
In diesem Moment wird die Zellentür aufgerissen, zwei Typen poltern herein, packen Maude an den Armen und schleifen sie aus dem Raum. Ihr Kopf rollte dabei hin und her und knallt auf den Boden wie ein alter Fußball. Ohne nachzudenken, stürze ich mich auf die beiden Kerle.
»Lasst sie los! Sie ist krank!«
Zu meiner Überraschung hören sie auf mich und treten ein paar Schritte zurück. Da kommt Petra mit verschränkten Armen herein.
»Ich würde ihr Blut nur allzu gerne als Kriegsbemalung verwenden. Aber du hängst offensichtlich an ihr. Und er wiederum hängt an dir. Deshalb werden wir euch ein wenig länger am Leben lassen.«
Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht, und bin viel zu aufgebracht wegen Maude, um irgendwelche blöden Rätsel zu knacken.
»Lasst die alte Hexe hier und nehmt das Mädchen«, weist Petra die zwei Typen an. »Ich hole den Jungen. Wir treffen uns im Versammlungsraum.«
Jetzt bin ich es, die an den Armen gepackt und aus dem Raum gezerrt wird. Maude ist inzwischen wach. Sie blinzelt mir verängstigt zu und streckt die Arme nach mir aus – ein verzweifelter Appell, sie nicht alleine zu lassen.
»Bitte gebt ihr Wasser. Sie verdurstet sonst. Lasst sie nicht auf diese Weise umkommen«, flehe ich, während sie mir eine Atemmaske überstreifen.
»Wir werden ihr zu trinken geben«, sagt Petra. »Und sie waschen. Sie stinkt entsetzlich.«
Minuten später sitze ich alleine in einem mit Sauerstoff vollgepumpten Besprechungszimmer. Das Atemgerät haben sie mir abgenommen, damit ich den Raum nicht verlassen kann. Man hat mich mit dem Rücken zur Tür an einen alten runden Holztisch gesetzt. Ich versuche mich zu erinnern, was Petra gesagt hat, als sie in unsere Zelle kam. Irgendetwas von wegen, dass ich an Maude hänge und dass das wichtig sei. Aber warum sollte ich auch nicht an ihr hängen? Haben die immer noch nicht mitgekriegt, dass wir keine herzlosen Monster sind?
An der Tür poltert es, aber ich drehe mich nicht um. Ich habe beschlossen, mich ab jetzt in Gleichgültigkeit zu üben. Denn es ist doch offensichtlich, dass mein größter Feind mein blödes Mitgefühl ist – Mitgefühl für jeden, der mir über den Weg läuft. Genau das muss jetzt ein Ende haben. Ich muss Petra weismachen, dass andere Menschen mir völlig egal sind. Ja, am besten sogar, dass ich mir selbst egal bin.
»Ich hab’s nicht so mit rührseligen Wiedersehenstreffen. Ich warte vor der Tür.«
Die Stimme gehört Petra. Ich höre Schritte und dann das Schließen der Tür. Im Raum liegt jetzt ein bleiernes Schweigen, das immer schwerer wird, je länger es andauert. Aber ich drehe mich immer noch nicht um, denn das Ganze fühlt sich nach einem Trick an. Stattdessen starre ich auf die kaputte Uhr an der Wand. Ich habe keine Ahnung, wie viele Minuten verstreichen, ohne dass ich mich auch nur einen Zentimeter bewege oder das kleinste Geräusch von mir gebe. Und ich hätte sicher noch ewig weiter wie leblos dagesessen, wenn sich mein Magen nicht selbstständig gemacht hätte: Er knurrt. Und zwar laut. Da erklingt die Stimme.
»Hallo?«, sagt sie, und ich weiß noch in derselben Sekunde, ohne mich umzudrehen oder auch nur eine weitere Silbe zu hören, dass er es ist.
Ich springe auf und werfe meinen Stuhl dabei um. Quinn steht neben der Tür. Seine Augen sind verbunden, seine Hände gefesselt. Er sieht erschöpft aus – aber er lebt.
»Quinn!«, keuche ich und stürze auf ihn zu.
Immer und immer wieder, wohl an die hundertmal, habe ich diese Szene im Geiste durchgespielt. Und in meinem inneren Film war völlig klar, wie ich reagieren würde: Ich würde in seine Arme fliegen. Aber jetzt bleibe ich wenige Zentimeter vor ihm stehen und löse einfach nur vorsichtig seine Augenbinde. Als er wieder sehen kann, schüttelt er fassungslos den Kopf und presst die Lippen aufeinander.
»Bea«, flüstert er und tritt ein Stück näher.
Ich spüre seinen Atem und lehne mich ein Stück zurück. Er hat überall blaue Flecke und Prellungen im Gesicht. Ich strecke meine Hand aus, und als ich den Schorf auf seinem Kinn berühre, zuckt er zurück und schließt die Augen.
»Du hast es wirklich geschafft«, wispere ich.
Und dann sagt erst mal keiner von uns was. Wir schauen uns einfach nur an. Zum ersten Mal richtig.
»Alinas Cousin hat mich gefunden«, erklärt er schließlich. Sein Mund macht Bewegungen, als wolle er noch mehr sagen, aber das tut er nicht. Dann schüttelt er den Kopf und nimmt einen neuen Anlauf. »Ich muss … ich muss dir so viel sagen. Ich bin beim Führungskräftetraining angenommen worden … aber das war eine abgekartete Sache. Und das ist noch nicht mal das Schlimmste. Wenn ich dir erzähle, wer ich wirklich bin, zu was für einer Familie ich gehöre, dann würd’s mich nicht wundern, wenn … wenn du mich nie wiedersehen willst.«
»Du lebst!«
Ich verlagere mein Gewicht von den Fersen auf die Zehen, sodass sich plötzlich unsere Nasenspitzen berühren. Und da passiert es: Er küsst mich! Ich rechne damit, dass er sich zurückzieht, dass der Kuss wie üblich rein freundschaftlich bleibt, aber er zieht sich nicht zurück! Seine Lippen bleiben auf meine gepresst, und dann öffnen sie sich leicht und ich spüre Quinns Atem in meinem Mund. Unwillkürlich schlinge ich meine Arme um seinen Hals und drücke mich an ihn. Und dann tritt er plötzlich doch einen Schritt zurück und schaut mich an.
»Du hast ja grüne Augen«, sagt er.
»Ja. Übrigens schon seit Jahren.«
Und daraufhin setzt er den Kuss fort.