ALINA

Als Petra uns in den Versammlungsraum führt, fällt mein Blick sofort auf Quinn, der am anderen Ende des runden Tisches sitzt, ganz dicht neben Bea. Er sieht absolut nicht mehr aus wie einer, über den ich mich lustig machen würde. Ja, er wirkt so verändert, dass ich mich kurz frage, ob es tatsächlich Quinn ist.

»Setzt euch!«, befiehlt Petra.

Silas und ich nehmen gegenüber von Quinn und Bea Platz. Jazz setzt sich zusammen mit Petra in die Mitte und Roxanne und Levi platzieren sich ihnen gegenüber. Quinn nickt mir schüchtern zu, bevor er sich wieder Bea zuwendet. Obwohl Bea zwölf Stunden lang in einer stockdunklen Zelle gehockt hat, sieht sie strahlender und lebendiger aus, als ich sie je gesehen habe.

»Also, was ist der Stand der Dinge?«, fragt Petra Roxanne und Levi, die den ganzen Morgen die Umgebung ausgespäht haben.

Roxanne räuspert sich und reibt sich mit dem Daumen über ihr gesundes Auge, bis es ganz rot und feucht ist. Dann räuspert sie sich noch einmal.

»Wir vermuten, dass sie sehr bald mit voller Wucht angreifen werden. Nur drei Meilen entfernt, also in unmittelbarer Nähe des Stadtzentrums, hört man Schüsse und vereinzelte Explosionen. Sie zerstören alles, was noch aufrecht steht.«

»Hab ich’s nicht gesagt?«, lässt sich Silas vernehmen.

Petra wendet sich an Levi. »Und was meinst du?«

»Sie sind uns auf der Spur.« Levi verschränkt die Arme über seiner breiten, nackten, tätowierten Brust und wirft Quinn einen hasserfüllten Blick zu.

Petra wedelt mit der Hand in Quinns Richtung. »Silas glaubt, dass dieser Premium-Schmarotzer mit einem ranghohen Offizier verwandt ist. Hast du darüber irgendetwas herausgefunden?«

»General Jude Caffrey ist Oberbefehlshaber der Armee.«

Bea atmet tief ein, während Quinn auf seinem Stuhl herumrutscht. Einen Moment später legt Bea ihren Arm um ihn.

»Ihr versteht mein Dilemma, oder? Wir können ihn nicht einfach gehen lassen.«

Jetzt schaut Petra Silas und mich an, doch wir sagen kein Wort. Wir wissen, was jetzt kommt. Im Grunde ist die ganze Unterhaltung eine einzige Show, denn der Plan steht längst. Uns ist völlig klar, was passieren muss, damit Bea und Quinn den Rebellenhain verlassen dürfen.

»Also, der Deal ist folgender: Der Premium und seine Freundin dürfen unter einer Bedingung gehen.« Bei dem Wort ›Freundin‹ errötet Bea. »Ihr lasst euch von der Armee aufgreifen und erzählt dem werten Herrn Papa, dass ihr uns mit knapper Not entkommen seid. Dann führt ihr die Soldaten, die ganz scharf darauf sind, unser Versteck zu finden, weit weg von uns, damit wir Zeit gewinnen, um uns zu rüsten. Und wenn ich weit weg sage, dann meine ich weit weg. Die Details besprechen wir noch. Sobald Roxanne und Levi sehen, dass die Armee in die Irre läuft, steht es Silas und Alina, den zwei Idioten, die uns das ganze Chaos eingebrockt haben, frei, zu gehen oder zu bleiben. Das Gleiche gilt für die Hexe unten in der Zelle.«

»Maude Blue?«, fragt Quinn und schaut Bea fragend an.

»Ich werde euch zwei, sobald ihr wieder in der Kuppel seid, wissen lassen, ob ich mit euch zufrieden war oder nicht: Wenn ich zufrieden war, werde ich die Alte unten im Bunker freilassen, dann könnt ihr euer ahnungsloses Leben weiterleben. Wenn ich nicht zufrieden war, werde ich sie töten – und euch vielleicht auch. Die Entscheidung, ob ihr uns verratet oder nicht, liegt also ganz bei euch. Ich gehe aber davon aus, dass ihr es tun werdet. Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm«, schnaubt Petra.

Ganz offensichtlich unterschätzt sie Bea. Und vielleicht sogar auch Quinn. Wenn die beiden die Chance bekämen mitzumachen, wären sie ausgezeichnete Rebellen, da bin ich mir sicher.

»Und Sie versprechen, dass Sie Maude in der Zwischenzeit nicht verhungern und verdursten lassen?«, fragt Bea.

»Das versprechen wir«, meldet sich Jazz zu Wort.

Bea lächelt. Das Wort dieses Dreikäsehochs scheint ihr vollkommen zu genügen. »Okay, wir machen’s«, stimmt sie schließlich zu.

Was Bea nicht weiß, ist, dass es in Bezug auf Maude überhaupt keine Rolle spielt, ob Quinn und sie die Armee auf die falsche Fährte lenken oder nicht. Petra wird Maude in jedem Fall am Leben lassen, zumindest so lange, bis sie uns geholfen hat, den zweiten Teil des Plans umzusetzen.

Plötzlich steht Jazz auf und läuft um den Tisch auf Bea und Quinn zu, lächelnd, die Hand nach Beas Gesicht ausgestreckt. Wahrscheinlich, um ihr zum Abschied übers Gesicht zu streicheln, denke ich. Doch stattdessen gräbt sie ihre Fingernägel tief in Beas Wangen und hinterlässt vier blutige Kratzspuren. Zwar ist Quinn sofort auf den Beinen, um Bea zu verteidigen, aber mit seinen gefesselten Händen ist er machtlos. Und da wendet sich Jazz auch schon ihm zu und schlägt ihm eiskalt auf den Mund. Krachend fällt Quinn zurück auf seinen Stuhl. Jetzt springe ich auf.

»Hey, das haben wir so nicht besprochen! Das war nicht Teil der Abmachung!«, schreie ich.

Petra blinzelt und presst die Lippen aufeinander, während mich Silas am Ellbogen packt und zurück auf meinen Stuhl zieht. »Das verdient Bea nicht«, zische ich, sodass nur er mich hören kann.

»Das Ministerium soll nicht denken, sie seien uns kampflos entwischt«, erklärt Petra.

Jazz nickt beipflichtend, wirft Bea und Quinn einen bedauernden Blick zu und setzt sich wieder neben Petra.

»Hättet ihr sie nicht wenigstens vorwarnen können?«, fragt Silas in seiner ruhigen, gelassenen Art.

»Quinns Gesicht sah eh schon total lädiert aus«, füge ich hinzu.

»Authentizität!«, verkündet Petra. »Wir wollen doch nicht, dass das Ganze inszeniert wirkt, oder? Und sowieso können sich die beiden glücklich schätzen: Levi wollte ihnen eigentlich die Arme brechen.«

»Die Beine«, korrigiert Levi, woraufhin Roxanne anfängt zu kichern. Keine Ahnung, was daran so witzig ist.

»Dagegen sind ein Faustschlag und ein paar Kratzer von einer Neunjährigen doch das reinste Zuckerschlecken, stimmt’s?«, meint Petra.

»Hey, nur weil ich noch ein Kind bin, heißt das nicht …«, beginnt Jazz zu lamentieren, doch ich höre nicht weiter zu, denn Bea wirft mir einen Blick zu, der beunruhigt und desillusioniert zugleich ist. Sie muss all das, was ich ihr über die Widerstandsbewegung erzählt habe, für eine einzige große Lüge halten.

»Macht sie bereit«, weist Petra Roxanne und Levi an, die sofort aufstehen und sich anschicken, Bea und Quinn aus dem Raum zu führen.

Erst da wird mir klar, dass ich die beiden vielleicht gerade zum letzten Mal sehe. Ich springe auf und versperre ihnen den Weg nach draußen. Ich hab so viel auf dem Herzen, möchte ihnen so viel sagen. Aber vor allem will ich ihnen danken  – dafür, dass sie mir das Leben gerettet haben. Und mich bei ihnen entschuldigen – dafür, dass ich sie aus ihrem ruhigen, sicheren Leben herausgerissen und ihnen alles kaputt gemacht habe.

»Los, Platz da!«, fährt mich Roxanne an.

»Alina, du gehst mir wirklich auf den Zeiger«, grunzt Levi.

»Ich wollte noch sagen …« Händeringend suche ich nach den richtigen Worten.

»Danke«, kommt mir Bea zuvor. Sie lächelt, beugt sich vor und küsst mich auf die Wange. Ich habe nicht die geringste Ahnung, warum sie so nett zu mir ist. Sie hätte allen Grund, mit beiden Fäusten auf mich loszugehen. Mich für immer zu hassen.

»Ja, danke«, sagt auch Quinn. Er lächelt ebenfalls und nickt. Und sieht auf einmal gar nicht mehr so aus, als wäre er scharf auf einen Kuss von mir.

Levi schubst mich beiseite, während Roxanne Bea und Quinn aus dem Raum stößt. Und dann sind sie auf einmal weg.

»Alina, wir sind noch nicht fertig!«, ruft Petra vom Tisch aus.

Ich schleiche mich wieder rein und schlüpfe auf den Platz neben Silas.

»Wir sollten Maude Blue hinzurufen«, schlage ich vor. Wir brauchen sie, um einen sicheren Weg durch die Stadt zu finden, wenn wir neue Mitstreiter rekrutieren. Sie kennt die Verstecke der Ausgestoßenen. Außerdem wirkte sie krank, als ich sie das letzte Mal sah. Und ich bin es Bea schuldig, mich um Maudes Wohl zu kümmern.

»Oh, du meinst also, wir sollten sie aus der Zelle holen? Bist du denn sicher, dass du dich ohne deine zwei kleinen Helfer gegen sie zur Wehr setzen kannst?« Petra grinst und Jazz unterdrückt ein Lachen. Und als ich Silas anschaue, sehe ich, dass selbst er sich das Schmunzeln verkneifen muss.

Ich koche vor Wut. Ja, es stimmt, Bea und Quinn haben mich vor einer gebrechlichen alten Frau gerettet. Sie haben mich beschützt, als ich ganz auf mich alleine gestellt war. Aber sie haben noch viel mehr für mich getan: Sie haben mir gezeigt, wie kalt und hart ich geworden bin und dass ich auf dem besten Weg war, mich selbst zu verlieren. Und ohne nach mir gesucht zu haben, haben sie mich gefunden. Das ist es vor allem anderen, was ich ihnen verdanke. Meinen Freunden.

»Amüsiert euch nur. Ist mir egal«, knurre ich.

»Oh, glaub nur nicht, dass ich das komisch finde«, schießt Petra zurück. »Im Gegenteil: Ich finde es jämmerlich. Erbärmlich. Dabei bist du doch eigentlich gar nicht so.«

»Wie?«

»Ängstlich.«

»Ich bin auch nicht ängstlich«, sage ich, woraufhin Petra augenrollend Silas anschaut.

»In Anbetracht dessen, was wir vorhaben und wo wir uns hinbegeben werden, solltest du das aber sein«, sagt Silas.