Wir sind die halbe Nacht durchmarschiert. Der Schneesturm wurde immer schlimmer, und je weiter wir ins Stadtzentrum vordrangen, desto langsamer kamen wir voran. Um nicht in Lethargie zu verfallen, haben wir uns immer wieder gebückt und Schnee gegessen und gefrorene Obststückchen gelutscht. Aus Angst, die Soldaten könnten unsere Spuren im Schnee entdecken, haben wir anfangs wertvolle Zeit damit verschwendet, sie zu verwischen. Aber dann wurde uns klar, dass bis zum Morgen sämtliche Fußstapfen zugeschneit sein würden. Und gleichzeitig begannen wir zu ahnen, dass das eigentliche Problem ein ganz anderes sein würde: unser Rückweg. Wie sollen wir bei diesem Wetter zurück zum Stadion finden?
»Versteck Nummer eins!«, ruft Maude endlich durch den tosenden Wind.
»Bist du sicher?«, brüllt Sila, drängt sich vorbei und stellt sich neben Maude. Wir schauen an der Fassade des riesigen Gebäudes empor, das nur aus zerborstenem Glas und verrostetem Stahl zu bestehen scheint.
»Wenn das Ding einstürzt, schlitzt es uns auf«, bemerkt Dorian.
»Bist du wirklich sicher?«, fragt Silas noch einmal.
»Verdammt noch mal, ich bin nich senil!« Maude ist bereits durch den Eingang gestiefelt und wir folgen ihr, erleichtert, dem schneidenden Wind für eine Weile zu entkommen.
»Bruce? Biste da, Bruce? Hier is die alte Maddie Blue. Bin auf ’n Schnack vorbeigekommen. Bruce?«, ruft Maude in die raffiniert konstruierte Glaskuppel des Gebäudes hoch. Doch außer Maudes Stimme und dem Quietschen unserer Stiefel auf den Bodenfliesen ist in der ehemaligen Eingangshalle nichts zu hören.
»Bruce?« Allmählich schwingt Ungeduld in Maudes Stimme mit.
»Ein Einkaufszentrum?«, flüstert Dorian und glotzt die Schaufenster der geplünderten Geschäfte an. »Sieht ja fast aus wie ’ne Kathedrale.« Er beugt sich vor und nimmt eine Uhr aus einer Auslage. »Ob das Diebstahl ist, wenn ich die behalte?« Ohne auf Antwort zu warten, stopft er die Uhr in seine Manteltasche.
Der Boden ist übersät mit kleinen glitzernden Gegenständen, und ich bin versucht, selbst etwas einzustecken. Aber als ich mich gerade bücke, um eine silberne Haarspange aufzuheben, ertönt aus der Etage über uns ein Geräusch, und wir rennen zur Treppe, um zu sehen, wer dieses Geräusch verursacht hat.
»Bruce! Wir woll’n nur mit dir reden, das is alles. Wir woll’n dir nix tun. Ich bin’s doch, deine alte Freundin Maddie. Na komm, lass dich blicken!«
»Noch einen Schritt und ich schieße!«, ruft eine Stimme.
Wie angewurzelt bleiben wir auf halber Treppe stehen und erblicken einen bärtigen Mann, der schräg über uns am Geländer der Galerie lehnt. Er ist in einen Wust verschiedenfarbiger Klamotten gehüllt und richtet ein Gewehr auf uns. Seine Haut ist dunkel und wirkt vor lauter Dreck richtig grobkörnig.
»Hast eh keine Kugeln in dem Ding«, gackert Maude und geht weiter.
»Keine Bewegung, Maude. Ich schwör, ich drück ab.«
»Verarsch mich nich, Bruce. Selbst wenn da Kugeln drin sind, haste deine Brille nich auf. Bist doch blind wie’n Maulwurf.«
»Das ist meine letzte Warnung!«, bellt er.
»Maude, bleib lieber stehen.« Ich will sie am Arm festhalten, aber sie ist schon weitergegangen.
»Na, wenn du so toll sehn kannst, dann sag mir doch mal, wie viel Leute ich dabeihab«, ruft sie provozierend.
»Okay, das war’s«, brüllt der Typ, linst durchs Zielfernrohr und richtet den Gewehrlauf auf uns. Aber dann plötzlich – sein Finger liegt schon am Abzug – springt er vom Geländer weg und verschwindet in der Dunkelheit. Maude heult laut auf vor Lachen.
»Der is weg, der muss sich wieder anstöpseln!«
Sie hat recht: Der Typ trug keine Atemmaske, also muss er den Atem angehalten haben, es sei denn, er hat einen Weg gefunden, ohne Sauerstoff auszukommen.
In der oberen Etage führt Maude uns direkt zu einem Geschäft mit unzähligen Holzkästchen und silbernen Röhrchen in den Regalen. In einem schmuddeligen Veloursessel, an dessen Seiten bereits das Füllmaterial herausquillt, hockt Bruce. Das Gewehr liegt auf seinem Schoß, der Lauf zeigt in unsere Richtung. Seine Atemluft kommt aus einem Solar-Atemgerät, ähnlich dem, mit dem sich Maude durchgeschlagen hatte. Doch kaum hat er die Maske auf sein Gesicht gepresst und einen tiefen Atemzug genommen, reißt er sie schon wieder ab und klemmt sich mit der anderen Hand ein längliches braunes Ding zwischen die Lippen. Er inhaliert tief, hält dann die Maske vor das qualmende Teil – Zigarre nannte man so was früher, glaube ich – und umgibt es mit Sauerstoff, damit es nicht ausgeht. Die Spitze glüht auf und dann kringelt Rauch aus Bruce’ Mund und Nase. Es sieht aus, als würde es in ihm schwelen.
»Hängste immer noch an den Dingern?«, fragt Maude. »Der eine Lungenflügel atmet Sauerstoff, der andere blauen Dunst, was? Die bringn dich noch um, die Stengel, du Schwachkopf. Was für’ne beschissene Kombination! Und was für’ne verdammte Sauerstoffverschwendung!«
Bruce nimmt einen weiteren röchelnden Atemzug Luft, gefolgt von einem Zigarrenzug. »Wenn ich sterb, dann sterb ich wenigstens rauchend«, verkündet er. »In der Atmosphäre ist kein Sauerstoff. Aber in dem Ding hier, da ist reichlich drin.« Er tritt mit dem Fuß gegen das Solar-Atemgerät. »Bin ja nicht vollkommen bescheuert. Hab meine Mittel und Wege.«
Wir wissen nicht viel über Bruce. Nur, dass er ein Ausgestoßener ist und seit seinem Rauswurf aus der Kuppel einen Riesenhass aufs Ministerium hat. Er lebt aus dem gleichen Grund allein wie alle Ausgestoßenen: Er glaubt, allein sicherer zu sein, weil es das Risiko verringert, bei einer Razzia des Ministeriums entdeckt und getötet zu werden.
Jetzt hustet er wie wild, woraufhin Maude – wie ein grausames Echo – ebenfalls zu husten anfängt.
»Donnerwetter, Maddie Blue, wer hätte das gedacht? Siehst ja richtig gut aus.« Er klopft sich auf die Oberschenkel und winkt sie heran. »Hier, mach’s dir bequem.«
»Das hättste wohl gern.«
»Oh, bist dir wohl zu fein für mich, jetzt, wo du wieder mit BREATHE rumklüngelst, stimmt’s, Blue?«, fragt er.
»Oh Mann, halt die Klappe, Bruce. Die Kids hier, die sind bei den Rebellen.«
»Rebellen? Paar Blümchen pflanzen und den Rest des Tages Liedchen singen? Dass ich nicht lache.«
In diesem Moment tritt Silas vor und schüttelt Bruce die Hand. »So ist es nicht mehr. Die Leute von BREATHE haben uns im Visier und wir bauen selbst eine Armee auf. Wir brauchen Menschen, die an unserer Seite kämpfen, Männer, Frauen, so viele wie möglich. Und dich hätten wir gern als Allerersten. Wir wollen, dass du mitkommst und uns beim Rekrutieren hilfst.«
Ich muss sagen, ich hätte Silas ein bisschen mehr taktisches Geschick zugetraut. Warum, bitte schön, sollte Bruce sich uns anschließen, wenn nichts für ihn dabei rausspringt?
»Wieso? Ihr Rebellen habt uns doch immer für den letzten Abschaum gehalten!« Bruce wechselt immer noch eifrig zwischen Atemmaske und Zigarre.
»Wir haben genug Gründe, euch zu hassen, das stimmt. Aber wir brauchen euch. So einfach ist das«, sagt Silas.
Bruce lächelt und vergräbt sich noch ein bisschen tiefer in seinen Sessel. »Na, ihr scheint ja ziemlich verzweifelt zu sein, wenn ihr bei diesem Sauwetter extra vorbeikommt.«
»Verzweifelt nicht – wild entschlossen«, präzisiert Dorian. Er stellt den Rucksack mit den Atemgeräten ab, den er getragen hat. »Wir wissen, dass du kämpfen kannst. Und du weißt, wie sie kämpfen.«
»Und was kommt für mich dabei rum?« Bruce wirft einen vielsagenden Blick auf Maude, hebt fragend die Augenbrauen und spitzt anzüglich die Lippen. Der Gedanke ist einfach unerträglich.
Doch Silas geht über die Bemerkung hinweg. »Dorian, zeig’s ihm.«
Dorian nimmt seine Sauerstoffflasche und die Atemmaske ab und stellt den ganzen Apparat auf den Boden. Dann steht er einfach nur da, frei atmend, und schaut Bruce an. Nur wegen des strapaziösen Marsches hat er überhaupt ein Atemgerät getragen, und trotzdem war sein Sauerstoffverbrauch extrem gering.
»Pah, kann ich auch. Habt ihr ja gesehen. Kein großes Ding«, sagt Bruce.
Daraufhin holt Dorian ein Apfelstück aus seiner Tasche und bietet es Bruce an. Der alte Mann grapscht mit seiner dreckigen Hand danach, bestaunt es eine Weile, bevor er seine verglimmende Zigarre ausdrückt und es sich in den Mund stopft.
»Obst. Nicht schlecht. Habt’s offenbar geschafft, was anzubauen. Schön. Aber was hab ich davon?«
Dorian schaut Bruce einfach nur an, einige Minuten lang. Er wirkt noch genauso munter und wach wie direkt nach dem Absetzen der Maske. Niemand sagt ein Wort.
»Jetzt setz doch das Ding mal wieder auf, Kleiner. Ist nicht gut fürs Hirn«, meint Bruce nach einer Weile und dreht sich zu Silas um. »Hält der die Luft an?«
»Nein, ich atme. Und wenn ich das kann, kannst du das auch. Wir alle können das. Komm und schließ dich uns an, dann üben wir es mit dir.« Dorian bückt sich und holt eine kleine Sauerstoffflasche aus seinem Rucksack. »Am Anfang wirst du die allerdings noch brauchen.«
Bruce schaut zu Maude. »Nicht mal ’n Kuss?«, fragt er, woraufhin Maude auf ihn zutritt und ihm einen Kuss auf die Wange gibt.
»Jetzt zufrieden?«, fragt sie lächelnd.
»Bin überzeugt! Was die Liebe doch alles bewirken kann!«, grinst Bruce und kneift Maude beim Aufstehen in den Hintern.
Der Sturm wütet, als Maude und Bruce uns zu einer ehemaligen Schule führen, in der eine ganze Familie von Ausgestoßenen haust: Mutter, Vater, Sohn und Tochter. Und obwohl Bruce und Maude, als wir das Gebäude betreten, zur Vorwarnung rufen, bohrt sich direkt hinter mir ein Pfeil in die Wand, nachdem er nur knapp meinen Kopf verfehlt hat. Die Eltern sind alt und der Weg mit ihnen wird lang und beschwerlich werden, das ist abzusehen. Nur die Tatsache, dass wir im Rebellenhain einen Arzt haben, überzeugt die Kinder, ihre Eltern von den Solar-Atemgeräten loszuschnallen und uns gemeinsam zu begleiten.
Als Nächstes steuern wir eine Kirche an. Die Ausgestoßene, die darin lebt, hören wir, bevor wir sie sehen: Mit hoher Sopranstimme singt sie Arien – vor Dutzenden leerer Stuhlreihen. Sie ist auffallend groß und hat ganz glatte lange Haare. Sie bemerkt uns nicht, als wir eintreten, und weil wir es unhöflich fänden, sie mitten in ihrer Aufführung zu unterbrechen, schleichen wir uns zu den hinteren Bänken. Als sie fertig ist, klatschen wir begeistert. Der Schock, auf einmal ein stehendes, applaudierendes Publikum vor sich zu haben, wirft die Frau fast um – buchstäblich: Sie kommt ins Straucheln und hätte sich um ein Haar den Kopf am Marmoraltar aufgeschlagen.
Die ganze Nacht laufen wir herum und suchen Verstärkung für unsere neue Armee. Die Verstecke der Ausgestoßenen sind alle unterschiedlich und jede neue Begegnung birgt eine potenzielle Gefahr. Meist haben die Ausgestoßenen nur überlebt, indem sie ahnungslose Touristen hinterrücks überfallen oder sich zumindest rigoros gegen sie verteidigt haben. Sie sind so misstrauisch, dass es nicht leicht ist, sie zu überzeugen. Immer wieder muss Dorian seine Atemkünste vorführen, und wenn das nicht hilft, gehen Maude und Bruce auch schon mal zu offenen Drohungen über. Und dennoch weigern sich einige mitzukommen – entweder weil sie Angst vor uns haben oder weil das Unwetter sie abschreckt. Ein paar von ihnen wollen sich auch nicht von ihrem Solar-Atemgerät trennen, und wieder andere, die ganz Elenden, warten nur noch auf den Tod und haben nicht das geringste Interesse an einer neuen Chance.
Und trotzdem: Als es zu dämmern beginnt, machen wir kehrt und ziehen mit einer beachtlichen Schar kampfeswilliger Ausgestoßener in Richtung Rebellenhain. Ungefähr zwanzig haben wir zusammentrommeln können, und von mehr als fünfzig haben wir die Zusage bekommen, dass sie und weitere Freunde sich uns anschließen werden, sobald wir mit Atemgeräten zurückkommen und sie abholen. Roxanne und Levi werden entsprechende Teams zusammenstellen, die die verbleibenden Ausgestoßenen an den Stellen einsammeln, die wir auf einer Karte verzeichnet haben. Und dann müssen wir sie im Atmen trainieren und auf die Schlacht vorbereiten.
»Meinst du, die reichen uns?«, frage ich Silas, während wir die vereisten Straßen entlangtrotten.
»Ich hoffe es. Denn sie sind alles, was wir kriegen können.«